Zwischen Einwanderungsdruck und Zuwanderungsbedarf. Zusammenleben in der multikulturellen Gesellschaft

Ein Gespenst geht um in Europa und verwirrt seine zumeist kühl kalkulierenden Einwohner: Es heißt Furcht vor Masseneinwanderung. Die Europäer – zerrieben zwischen Volksgruppenkonflikten und sozialen Gegensätzen? Xenophobie und Fremdenhaß nehmen zu und lassen Wahlerfolge von rechtsextremen Parteien wie europäische Normalitäten erscheinen.

Wohlstand und Stabilität in Europa ziehen immer mehr Menschen an. Die unkontrollierte Zuwanderung wird in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft zu einem kaum beherrschbaren Problem. Obwohl sich kein Staat der EG als Einwanderungsland versteht, ist die Zahl der Einwanderungsversuche im vergangenen Jahr auf über eine Million angestiegen. Europa steht vor einer Wanderungsbewegung, die vermutlich die bekannten Ausmaße bei weitem übertreffen wird. 20 Millionen Menschen wollen einer Umfrage zufolge »sicherlich« oder »wahrscheinlich« nach Westeuropa auswandern. Und in den Maghreb-Staaten tickt eine gefährliche Zeitbombe aus Arbeitslosigkeit und Bevölkerungswachstum.

Gleichzeitig verblassen andere Tatsachen, beispielsweise daß Europa längst zum multikulturellen Kontinent geworden ist und daß sich daran auch nichts ändern wird. Verlagert auf die rationale Ebene, gibt es zum Zusammenleben von In- und Ausländern überhaupt keine Alternative. Denn in fast allen westlichen Industrieländern sinken die Geburtenraten. In der Bundesrepublik liegt sie derzeit bei 1,4. Bleibt es bei diesem Geburtenrückgang, dann wird dieser Schrumpfungs- und Alterungsprozeß zu einer wesentlichen Abnahme des Potentials an Erwerbspersonen führen. In der Europäischen Gemeinschaft wird die Bevölkerung bis zum Jahr 2040 um 40 Millionen auf 304 Millionen Menschen zurückgehen, die Zahl der Erwerbstätigen wird von jetzt 155 Millionen auf 118 Millionen abnehmen.[1. Vgl. hier und im folgenden Josef Schmid, Zuwanderung aus Eigennutz?. In: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Das europäische Einwanderungskonzept. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 1993.] Allein in Deutschland werden 19 Millionen Menschen fehlen. Künftig wird nur noch die Zahl der Rentner ansteigen. Ohne eine gezielte Zuwanderung lassen sich diese Lücken, die sich drastisch auf die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit auswirken, nicht schließen. Die Zuwanderer, zu räumlicher und beruflicher Mobilität meist eher bereit als Einheimische, leisten bereits jetzt in den Zielländern einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Ausgleich von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt. Bestes Beispiel ist Deutschland: In der Bundesrepublik erwirtschaften die dort registrierten 6 Millionen Ausländer einen Wertschöpfungsbeitrag von rund 200 Milliarden DM jährlich. Sie bezahlen mindestens 11 Milliarden DM Lohnsteuer, 12 Milliarden für die Krankenversicherung, 14 Milliarden Rentenbeiträge und 5 Milliarden Arbeitslosenversicherung. Insgesamt summieren sich die Abgaben auf rund 50 Milliarden DM. Dieser Summe, die Ausländer dem deutschen Sozialwesen beisteuern, stehen lediglich 16 Milliarden DM an Kosten, davon 6 bis 7 Milliarden für die Unterbringung der Asylbewerber gegenüber.[2. Vgl. Norbert Sturms Artikel Falsche Rechnung mit richtigen Zahlen. Ausländer als Wohlstandsträger in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. Juni 1993.] Die häufig verbreitete Meinung, Ausländer lägen dem Staat auf der Tasche, ist in der Summe ein widerlegbares Vorurteil.

Solche nüchternen wirtschaftlichen Berechnungen allein können die um sich greifende Ausländerfeindlichkeit in Europa nicht reduzieren. Sie legen aber eine Kombination von bedrohlichen Informations-, Mentalitäts- und politischen Gestaltungsdefiziten offen, die zu einem guten Teil auf einen Mangel an Durchschaubarkeit zurückzuführen sind. In den Mittelpunkt sind daher zwei Fragen zu rücken: Wie wollen die Menschen in Europa künftig ihr Zusammenleben friedlich organisieren? Und wie kann es ihnen gelingen, zwischen Einwanderungsdruck und Zuwanderungbedarf eine vernünftige Beziehung herzustellen?

Zusammenleben in der multikultureller werdenden Gesellschaft

Der Zugang zum Thema der Integration in der multikulturellen Gesellschaft wird zunächst verstellt durch seine Mythen: So als gäbe es im neuzeitlichen Staat überhaupt die Alternative zur multikulturellen Gesellschaft. Denn objektiv haben spätestens die Bedingungen der Moderne die multikulturelle Option gewissermaßen zur Regel werden lassen: durch Binnen-Pluralismus wie durch Internationalisierung. Nur noch das Wie, nicht mehr das Ob der multikulturellen Gesellschaft steht zur Entscheidung an. Keine Gesellschaft war internationaler und multikultureller als die heutige. Erst recht gilt das unter dem Vorzeichen einer dramatischen Migration, die in den letzten Jahrzehnten zur größten Wanderungsbewegung in der Geschichte geführt hat. Am heutigen Tag befinden sich weltweit 20 Millionen Menschen auf der Flucht, leben weltweit 500 Millionen Menschen als Fremde in einem fremden Land.

Ein zweiter Mythos, oftmals die emotionale Begleitmusik zur Philosophie des Multikulturellen, verfehlt ebenfalls den Kern des Problems: nämlich die Annahme, daß die multikulturelle Gesellschaft von einer imaginären Balance der Kulturen geprägt sei. Statt dessen geht es immer um Mehrheit und Minderheit, um Phänomene der Dominanz und um humane Zumutbarkeit. Auch die Annahme, die Modernisierung der Gesellschaft werde gleichsam naturwüchsig die Lösung der multikulturellen Schwierigkeiten und Krisen bringen, hat bisher keine Entsprechung in der Wirklichkeit gefunden. Die Landkarte der Moderne ist übersät mit den Zeichen militanter Auseinandersetzungen zwischen diversen ethnischen Selbstverständnissen. Die Internationalisierung der Moderne dramatisiert das Spezifische, das Eigene, das Selbstbezogene – und damit die Abgrenzung, die Ausgrenzung.

Die Frage nach dem Zusammenleben in der multikulturellen Gesellschaft ist alles andere als eines der weichen Zusatzthemen unserer Zeit; nicht ein schmückendes Ornament, dem man sich zuwendet, wenn die harten Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Sozial- und Sicherheitspolitik gelöst sind; nein – es ist die Schlüsselfrage nach dem Gelingen menschlichen Zusammenlebens in der modernen Gesellschaft. Ihre vernünftige Beantwortung muß in das Zentrum gesellschaftlicher Wahrnehmung rücken. An dramatischen Bildern besteht weltweit kein Mangel: Da stürmen Extremisten in haßerfülltem Aktivismus die Ausländerheime und wecken Erinnerungen an düstere Zeiten. Da machen kriminelle Banden Jagd auf Asylsuchende, und man applaudiert ihnen. Hoyerswerda, Rostock, Mölln oder Solingen – die Liste fremdenfeindlicher Exzesse ist in den letzten Monaten weit über diese wenigen Symbole der Schande hinausgewachsen. Die Reihe der Beispiele läßt sich fortsetzen: Da gehen in Amerika ganze Stadtteile der großen Metropolen in Flammen auf – ein Aufstand der Schwarzen, der Drop-outs, wie der knappe Begriff lautet für alle, die keinen Platz mehr in der Gesellschaft finden. Hinter diesem Wort steht das Abgedrängtsein in Analphabetismus, Drogenkonsum, Kriminalität, und das in der letzten Weltmacht, die man gerne mit dem Siegel der gelungenen multikulturellen Integration versah. Vom Traum zum Alptraum ist es nur ein kleiner Schritt, auch in Europa: die Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, die Opfer der Bürgerkriege, eine endlose Liste der Tragödien unserer Tage.

Ausländer, Flüchtlinge, Asylsuchende, Migranten – hinter ihrem Schicksal verbirgt sich die Schlüsselfrage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt: Wie ist aus der Vielheit der einzelnen Personen, Gruppen und Mentalitäten, ohne einen ein für allemal vorgegebenen Konsens, eine handlungsfähige und zumutbare Einheit zu formen? Wie kann diese Einheit aus dem freien Willen der Beteiligten entspringen, ohne daß diese ihre Eigenständigkeit verlieren? Damit ist also nicht das Almosen für die Minderheit, die herablassende Milde angesprochen, sondern der Ernstfall der modernen Gesellschaft: Recht und Würde, Freiheit und Frieden, die Unverfügbarkeit der Personen und humane Substanz der politischen Ordnung. Soll das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft gelingen, so wird es sich an vier Kriterien messen lassen müssen.

Integration         Der Mensch braucht die Gemeinschaft seiner Mitmenschen, um materiell existieren und um sich als Person entfalten zu können. Daseinsvorsorge, Konfliktregelung, Arbeitsteilung – ohne elementare Formen der Integration ist dies unmöglich. Einheimische wie Fremde, Ortsansässige wie Zuwanderer müssen den gemeinsamen Lebenshorizont auch wirklich unter dem Zeichen der Gemeinschaft begreifen und begreifen wollen, soll ihr Zusammenleben gelingen. Die Ausgrenzung der Ausländer einerseits, die Integrationsverweigerung seitens der Zuwanderer andererseits, dies sind Garantien für ein Scheitern. Integration wird damit zum Schlüsselwort, das sich vielfach deklinieren läßt: schrittweise rechtliche und politische Gleichstellung zwischen Einheimischen und Zuwanderern; Chancengleichheit und Partizipation, die auch dort, wo sie rechtlich garantiert werden, oftmals scheitern, an mangelnden Sprachkenntnissen, an fehlender beruflicher Qualifikation und vielfältigen Ungewißheiten; kulturelle Förderung des wechselseitigen Verstehens, um die Welt auch aus den Augen des anderen sehen zu lernen.

Integration setzt voraus, daß politische, rechtliche und soziale Unsicherheiten, die mit dem Status des Zuwanderers verbunden sind, überwunden werden. Bleiberecht, Aufenthaltserlaubnis, Staatsbürgerschaft – zu den elementaren Entscheidungen, die eine Gesellschaft bietet, gehört die über ihre Mitgliedschaft: Wer soll aufgenommen werden und wer nicht? Integration setzt die klare und befriedigende Beantwortung dieser Frage voraus. Dabei wird in keiner Gesellschaft die abstrakte Formel aus dem sozialtheoretischen Labor bestehen können. Die subjektive Annahme durch die Gesellschaft bildet die eigentliche Meßlatte. Jedes Konzept, das über die Köpfe der Menschen hinweggeht, wird mißlingen. Niemand darf überfordert werden, weder die Einheimischen noch die Ausländer. Überforderung, das ist die gefährlichste Klippe für ein vernünftiges Konzept der multikulturellen Gesellschaft. Ein besonderes Spürgefühl für die Zumutbarkeitsgrenzen einer Gesellschaft ist unverzichtbar. Im Grunde sind Integration und Akzeptanz zwei Seiten einer Medaille.

Transparenz der Regeln        Der gesamte westliche und nördliche Teil des europäischen Kontinents ist zum Zielpunkt großer Wanderungsbewegungen geworden. Wer die Antwort der westeuropäischen Staaten auf diese Herausforderung prüft, der wird kaum fündig auf der Suche nach weitsichtigen Strategien: praktisch keine Konzepte zu Einwanderung und Integration, statt dessen eine extreme Unübersichtlichkeit von unzähligen, unabgestimmten Einzelregelungen, von Rechtsvorschriften zur Aufenthaltsgenehmigung, zur Regelung der Arbeitserlaubnis, des Familiennachzugs, der Asylgewährung. In wohl keinem anderen Bereich gesellschaftlichen Lebens ist das Defizit an Transparenz so drastisch spürbar wie hier. Und in keinem anderen Bereich hat die daraus folgende Unkalkulierbarkeit der Lage im Einzelfall so inhumane Folgen. Die Staaten befinden sich in einer eher hilflosen Defensive. Kommt noch hinzu, daß mit Vollendung des Binnenmarktes die europäische Dimension in den Vordergrund rückt. Die europäische Integration lockt zwei große Wanderungsbewegungen an: die ost-westliche und die vom Süden zum Norden. Westeuropa säße unausweichlich in seiner Erfolgsfalle – keine allzu komfortable Vorstellung. Klarheit der gesetzlichen Einwanderungsregeln, Steuerung der Migration durch Einwanderungsquoten, Sicherung des Aufenthaltsstatus für die Zugewanderten – dies sind die konkreten Übersetzungsformen des Transparenzprinzips.

Kommunikation und Konflikt        Der demokratische Verfassungsstaat bildet als weltanschaulich neutraler Staat programmatisch eine vorzügliche Grundlage für den Rahmen einer multikulturellen Gesellschaft. Konfliktregelung ohne Diskriminierung ist – zumindest konzeptionell – die Norm. Mit Leben erfüllt wird sie durch Kommunikation – ganz im Sinne der Erkenntnis Martin Bubers: »Alles wirkliche Leben ist Begegnung« und ganz im Sinne der Einsicht Immanuel Kants von der ungeselligen Geselligkeit der menschlichen Natur: Mit der Vereinzelung korrespondiert die Notwendigkeit gesellschaftlicher Zuwendung. Der aktive interreligiöse und interkulturelle Dialog wird damit zum Medium des kulturellen Fortschritts. Dieser Dialog geschieht wohl in den seltensten Fällen aus sich selbst heraus. Er bedarf der organisatorischen Hilfe und Begleitung. Ausländerbeauftragte, -vereine, -beiräte, die verschiedenen Institutionen der Städte und Gemeinden, die sozialen Dienste für Ausländer bei den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Gewerkschaften und die vielen Initiativgruppen haben hier ihre spezifische Aufgabe.

Kultur der Toleranz        Zentrale Güter menschlichen Lebens sind nicht zentralisierbar: Kultur, Religion, Ethik, die kleine Welt der direkten sozialen Ordnung, kurzum: vieles von dem, was Farbe und Wärme, was die seelische Temperatur einer Gesellschaft ausmacht. Jede Gesellschaft braucht daher neben der Betonung der Gleichheit die Bejahung des Besonderen, das Interesse am Spezifischen, das Akzeptieren der vielen Verschiedenheiten. Die Kultur der Toleranz begründet den Reichtum der Gesellschaft – materiell und immateriell. Im Wörterbuch der Zivilisation nimmt daher mit Recht der Begriff der Toleranz einen herausragenden Platz ein. Toleranz – so zerbrechlich, angefeindet, angezweifelt sie auch sein mag – ist der eigentliche Kitt pluraler Gesellschaften. Ohne kulturellen Frieden wird es auch keinen politischen Frieden geben.

Das Europa von morgen

Die nationalstaatlichen Grenzen verlieren in Europa an Bedeutung. In Westeuropa ist der gemeinsame Binnenmarkt ohne Schranken und Barrieren nahezu vollendet. Er umfaßt neben den zwölf Staaten der Europäischen Gemeinschaft auch die meisten EFTA-Staaten: rund 380 Millionen Menschen können in diesem großen Europäischen Wirtschaftsraum entsprechend den gemeinsamen Regeln freien Handel treiben, Dienstleistungen anbieten, ihren Ausbildungs- oder Arbeitsplatz wählen.

Die osteuropäischen Länder sind ihrerseits über Assoziierungs- und Kooperationsverträge eng an den Westen angebunden. Mit dem Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft läuft auch hier ein intensiver ökonomischer wie auch gesellschaftlicher Austausch an. Mit dieser Europäisierung der Märkte, der Kommunikations- und Transporttechnologien wachsen die Gesellschaften in Europa zusammen. Die Grenzen zwischen den europäischen Kulturen werden fließend.

Aber auch aus anderen Erdteilen gelangen immer mehr Menschen nach Europa – zum einen aufgrund der Internationalisierung der Arbeitswelt, zum anderen, weil sie vor politischer, ökonomischer und ökologischer Bedrohung, vor Krisen und Kriegen fliehen. Auch aus dieser Perspektive wird es für Europa in Zukunft keine Alternative zur Einwanderung geben.

Zwischen den Wellen der Einwanderung und den Wellen des Wirtschaftswachstums in der Bundesrepublik gibt es eine deutlich positive Korrelation – gleiches gilt für Frankreich, die USA und Kanada. Auch in Zukunft wird etwa die Bundesrepublik auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sein, um den sich abzeichnenden Nachwuchsmangel in Handwerk und Industrie auszugleichen. Für die weithin gehegte Befürchtung, daß die Zuwanderer heimische Arbeitskräfte verdrängen, gibt es keine schlüssigen Belege.

Die Gesellschaft in Europa wird also zwangsläufig europäischer, internationaler, multikultureller. Die kulturellen Grenzen stimmen schon lange nicht mehr mit den staatlichen Grenzen überein. Die Nationalstaaten sind aber nach wie vor die zentralen politischen Akteure. Ihre Aufgaben und Funktionen jedoch verändern sich. Eine rationale und menschengerechte staatliche Politik setzt voraus, daß die Realität der multikulturellen Gesellschaft berücksichtigt wird.

Läßt man die vergangenen Jahre oder Jahrzehnte Revue passieren, zeigt sich, daß es bislang in den europäischen Ländern keine kohärente Migrations- und Integrationspolitik gibt. Die Schere zwischen Aufgabendichte und tatsächlich politisch gestaltender Initiative hat sich immer weiter geöffnet. Die Möglichkeit einer dauerhaften legalen Einwanderung wurde aus wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gründen in allen europäischen Ländern grundsätzlich eingeschränkt. Obwohl sich kein westeuropäischer Staat als Einwanderungsland versteht und daher in kaum einem westeuropäischen Land eine offizielle Einwanderungspolitik entwickelt wurde, fand und findet Migration nach Westeuropa statt: wegen des Arbeitskräftebedarfs in Europa, aufgrund der Familienzusammenführung, auf der Basis des Asylrechts oder aus anderen humanitären Gründen.

Anstatt sich dieser Migrationsrealität zu stellen und eine schlüssige Gesamtplanung für Einwanderung und Integration zu entwerfen, haben die westeuropäischen Staaten den Weg der sanktionierenden Rechtsvorschriften gewählt, um dem Strom der Zuwanderer Einhalt zu gebieten. Derart zum randständigen Verwaltungsphänomen gemacht, blieben Eingliederungsversuche vielfach zu einem Schattendasein verurteilt. Die politischen Bemühungen hinken den tatsächlichen Gegebenheiten immer weiter hinterher. Die Weigerung, geregelte Einwanderungsmöglichkeiten festzulegen, hat außerdem zur extensiven, zum Teil mißbräuchlichen Nutzung des Asylrechts und auch zur Zunahme der illegalen Einwanderung geführt.

Im Dickicht der nationalen Regelungen und in der Furcht vor adäquaten Maßnahmen verliert Europa seine Handlungsfähigkeit. Die Kommission der EG hat am 23. Oktober 1991 zum Thema Einwanderung festgestellt: »Die herkömmliche Politik in den einzelnen Mitgliedstaaten, die in der Regel einer Begleitung und Verwaltung der Zuwanderungsbewegung diente, scheint heute nicht mehr in der Lage zu sein, eine befriedigende Antwort auf die Probleme geben zu können, die heute in fast jedem Mitgliedstaat bestehen und gänzlich anders geartet sind«. Die europäischen Staaten müssen daher die De-facto-Einwanderung anerkennen und ihre Konzepte für Politik und Gesellschaft entsprechend überprüfen. Die Zugehörigkeit der Einwanderer zur Gesellschaft kann nicht mehr geleugnet werden. Damit hat die Frage nach den Spielregeln für die multikulturelle Gesellschaft ihre unübersehbare europäische Dimension erhalten. Die von der EG angestrebte Europäische Union ist kaum denkbar ohne einen gemeinsamen Rahmen für die Migrations-, die Integrations- und die Minderheitenpolitik.

Zum einen wirken sich aufgrund der immer engeren Verflechtung der EG-Staaten die Regelungen und Maßnahmen einzelner Länder jeweils auf die Partner aus. Zum anderen ist die Freizügigkeit – eine der vier Hauptfreiheiten im gemeinsamen europäischen Binnenmarkt – nicht mit einer einzelstaatlichen Kontrolle der Immigranten an den Binnengrenzen vereinbar. Die EG-Staaten müssen daher einen gemeinsamen Rahmen für die Migration setzen, einen gemeinsamen Sockel von Grundprinzipien. Diese gemeinsame Migrations- und Integrationspolitik muß so flexibel sein, daß eine Anpassung an neue Gegebenheiten innerhalb wie außerhalb der Gemeinschaft auch kurzfristig möglich ist.

Prinzipiell sind sich die EG-Mitgliedstaaten darüber einig, daß im Rahmen des Binnenmarkts ein Harmonisierungsbedarf im Bereich der Asyl-, Ausländer- und Einwanderungspolitik besteht. Aber nationale Vorbehalte blockieren bisher adäquate gemeinsame Initiativen. Trotz massiver Abschottungsversuche und einer restriktiven Ausländer- und Flüchtlingspolitik ist die Zahl der Zuwanderer in den letzten Jahren immer weiter angestiegen. Unter der Last des Dissenses bewegt sich die Gemeinschaft nur zögernd. Die seit 1986 bestehende »Ad-hoc-Gruppe Einwanderung« beschäftigt sich gegenwärtig mit Fragen aus den Bereichen Asyl und Einwanderung – beauftragt vom Europäischen Rat in Maastricht. Durch den Vertrag über die Europäische Union wurde der Einstieg in eine gemeinsame Innen- und Justizpolitik der EG-Staaten geschaffen. Die Bereiche Asyl- und Einwanderungspolitik bleiben jedoch nach wie vor Themen der intergouvernementalen Zusammenarbeit. Der notwendige qualitative Schritt scheint noch weit entfernt.

Die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten wissen auf die dringende Frage der Einwanderung und die damit zusammenhängenden Folgefragen bislang keine Antwort. Sowohl die Komplexität der Aufgabenstellung als auch erhebliche Interessen- und Wahrnehmungsunterschiede sowie die Angst vor Eingriffen in diesen sensiblen Kernbestand nationaler Souveränität erschweren die Suche nach adäquaten Strategien. Wie paralysiert verharren die Westeuropäer, allenfalls fähig zu zaghaften Trippelschritten oder Verfahrensverbesserungen. Je größer die Spannungen werden, desto deutlicher entpuppt sich die Unzulänglichkeit der bisherigen Ansätze. Erforderlich ist eine umfassende Antwort, die ihren Ausgangspunkt in der Anerkennung der Realitäten besitzen muß:

Europa ist bereits vom Auswanderungs- zum Einwanderungsgebiet geworden. Gleichzeitig weisen die demographischen Trends auf einen mittelfristig auftretenden Einwanderungsbedarf hin. Die Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft sind nicht lückenlos abzudichten. Solange ein Wohlstandsgefälle existiert, wird auch der Immigrationsdruck weiter bestehen und sich seinen Weg bahnen. Europa muß mit Flüchtlingen und Einwanderern leben. Wenn aber mehr Menschen kommen, als Wohnungen und Arbeitsplätze vorhanden sind, dann muß versucht werden, die Zuwanderung zu steuern und zu kontrollieren. Die massenhafte Zuwanderung von Menschen birgt ein nicht zu unterschätzendes gesellschaftliches Konfliktpotential. Damit wird die Frage der Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft zum zentralen Zukunftsparameter. Nur europäische Antworten greifen. Der Rekurs auf nationale Kompetenzen erschwert ein produktives Weiterdenken. Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, daß die Europäer die Europäische Union etablieren und gleichzeitig durch die Betonung ihrer Souveränität ein besseres Management des Einwanderungsproblems torpedieren.

Zu einem Zeitpunkt, an dem in Europa die Grenzen fallen und der Nationalismus besiegt zu sein scheint, wäre es wohl nicht nur fast unmöglich, sich gegen Zuwanderung abzuschotten, sondern auch mit der kulturellen Identität Westeuropas unvereinbar. Aber auch das andere Extrem führt in die Absurdität: Würden alle Menschen, die nach Europa wollen, Aufnahme finden, dann wäre der Punkt der Überforderung der Gesellschaften schnell erreicht. Die Verwirklichung der ureigenen Vertragsziele der EG-Staaten wäre nicht mehr möglich. Unkontrollierte Einwanderung geriete zu einem Sprengsatz mit kurzer Zündschnur.

Da sich um Europa keine Mauer bauen läßt, muß im Sinne eines effizienten Problemmanagements ein Weg gefunden werden, um die Migrationsströme sozial verträglich zu lenken. Als pragmatische Antwort zwischen Aufnahmestopp und Grenzöffnung bleibt die Möglichkeit einer begrenzten EG-weiten Einwanderung. Dadurch könnten die ökonomischen und beschäftigungspolitischen Belastungen in Grenzen gehalten und zeitliche Schwankungen der Zuwanderung mit dem Bedarf an Arbeitskräften in Einklang gebracht werden.

Das europäische Einwanderungsgesetz

Die Ausarbeitung eines EG-Einwanderungsgesetzes wäre einerseits die logische Konsequenz, andererseits die Voraussetzung für die Umsetzung eines einwanderungspolitischen Gesamtkonzepts. Eine solche EG-Einwanderungspolitik muß sensibel in die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen der Gemeinschaft eingebettet werden und mehreren Zielen gleichzeitig dienen. Diese bilden den Maßstab, mit dem jede Initiative zu messen ist.

Erstens sind die berechtigten Belange der Einwanderer zu berücksichtigen. Dabei ist zwischen Asylsuchenden, Flüchtlingen und anderen Gruppen zu unterscheiden. Jede Einwanderungsregelung würde dort an ihre juristischen Grenzen stoßen, wo der Bestand an humanitären Mindestanforderungen berührt wäre. Zweitens ist der Bedarf der EG-Staaten an Zuwanderern einzubeziehen. Drittens darf die Fähigkeit der EG-Staaten zur Integration von Zuwanderung nicht überfordert werden. Dabei sind die Akzeptanz der Bevölkerung, die Möglichkeiten des Wohnungsmarktes, die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme und die Wirtschaftskraft der Aufnahmeländer zu berücksichtigen. Bestandteil einer wirksamen Einwanderungspolitik muß auch jede Maßnahme sein, die ergriffen wird, um die Aufnahme und Eingliederung von Einwanderern in die Gesellschaft zu erleichtern.

Die Konkretisierung dieser Ziele kann nicht durch Abwägung am grünen Tisch erfolgen. Um eine europäische Lösung überhaupt vorstellbar zu machen, muß ihre politische Gestaltung ausreichend flexibel sein und den verschiedenen politischen Bedürfnissen in den EG-Mitgliedstaaten gerecht werden. Die Aufgabe des europäischen Einwanderungsgesetzes liegt in der Vermittlung zwischen Zuwanderungswünschen und vorhandener Aufnahmekapazität. [3. Zu den Einzelheiten eines europäischen Einwanderungsgesetzes vgl. den Entwurf von Christoph Gusy und Michael Wollenschläger in Das europäische Einwanderungskonzept.] Eines ist dabei hervorzuheben: Die Zulassung kontrollierter Einwanderung bedeutet gleichzeitig ihre Begrenzung, bedeutet auch Auswahl nach Kriterien, die die Aufnahmeländer festlegen können. Dadurch kann die Integration der Zuwanderer erleichtert und die Aufnahmebereitschaft bei den Einheimischen erhalten bleiben. Innerhalb einer einzurichtenden europäischen Einwanderungsbehörde, die sich aus EG-Vertretern und denen der Mitgliedstaaten zusammensetzt, sollte jährlich – unter Einberechnung der über das Asyl- und Flüchtlingsrecht aufzunehmenden Menschen – ein Gesamtkontingent der zur Verfügung stehenden Einwanderungsplätze festgelegt werden. Im Rahmen einer Quotierung können dann bestimmte Auswahlkriterien definiert werden, die eine bedürfnisorientierte Feinsteuerung der Einwanderung ermöglichen. Ohne eine solche Berücksichtigung der Interessen der Aufnahmestaaten wäre ein EG-Einwanderungsgesetz nicht konsensfähig.

Wichtige Vorteile des europäischen Einwanderungsgesetzes liegen in seiner klaren Durchschaubarkeit: Die Einwanderungskriterien werden EG-weit nachvollziehbar. Dadurch können etwa die Möglichkeiten zur Schwarzarbeit durch Kontrollen erschwert werden. Durch eine Trennung zwischen Asyl- und Einwanderungsrecht wird das zunehmend unter Druck geratene Asylrecht entlastet und auf seinen humanitären Kern zurückgeführt. Eine klar vereinbarte Lastenteilung, die die Interessen aller Mitgliedstaaten berücksichtigt, mindert deren interne Konflikte. Nach innen wird eine durchschaubare, an den Bedürfnissen der Aufnahmeländer orientierte und in sich stimmige Regelung der Einwanderung die sinkende Akzeptanz für Ausländer erhöhen. Denn die Aufnahmebereitschaft hängt eng zusammen mit der Nachvollziehbarkeit der Zielsetzungen. Nach außen wird ein eindeutiges politisches Signal gegeben, daß die EG in begrenztem Umfang Einwanderer aufnimmt. Dabei müssen die mit einem legalen Aufenthaltsstatus verbundenen Vorteile so attraktiv sein, daß ein Immigrant sich lieber für einige Zeit auf die Warteliste setzen läßt, anstatt das Risiko einer illegalen Einreise zu wagen.

Gelingt die Kontrolle der Einwanderung, dann ermöglicht dies eine sinnvolle Planung in den Mitgliedstaaten und verbessert die Möglichkeiten einer reibungsarmen Integration der Zuwanderer. Denn eins ist klar: Dem politischen Konsens zwischen den Staaten muß ein gesellschaftlicher Konsens zwischen den Bürgern zur Seite stehen. Eine Reihe von flankierenden Maßnahmen muß daher die Annahme der Zugewanderten durch die Einheimischen unterstützen. Eine Fülle von Maßnahmen im Bereich der Gesetzgebung, der Integrationshilfen und der Aufklärung ist von den jeweiligen Aufnahmeländern zu erbringen.

Im Grunde genommen ist es ein einfacher Mechanismus: Es können dann mehr Menschen aufgenommen werden, wenn man alle Anstrengungen darauf konzentriert, Wohnungen, Arbeit und Akzeptanz zu schaffen. Eine »Infrastruktur der Integration« muß ihren Beitrag dazu leisten, daß die Anpassungslasten gerecht verteilt werden. Bei der Gestaltung der flankierenden Maßnahmen muß außerdem zweierlei beachtet werden: Einwanderungsdruck ist das Resultat der Perspektivlosigkeit in den Auswanderungsländern. Die einzige umfassende Lösung der Migrationsproblematik scheint durch das Anwachsen der globalen Probleme verstellt. Aber die Instrumente der Außenpolitik bieten immerhin Möglichkeiten, die Ursachen abzumildern und die Zahl der Migranten zu reduzieren. Die Europäische Gemeinschaft täte gut daran, in diesem Bereich eine internationale Führungsrolle zu übernehmen. Lackmustest für die Funktionsfähigkeit einer europäischen Einwanderungspolitik ist die weitestgehende Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Nur dadurch bleibt die Planbarkeit der Zuwanderung erhalten. In diesem Bereich muß die EG – in fairer Kooperation mit ihren Nachbarstaaten – ihr Instrumentarium verbessern. Eine durch internationale Zusammenarbeit effizienter werdende Bekämpfung der Schlepperbanden kann die illegale Einwanderung erheblich verringern.

Einwanderungspolitik und die Integration von Ausländern berührt die hochsensible Frage nach der Gestaltung der Gesellschaft. Notwendig ist eine erhebliche kulturelle Anstrengung, um auf die sich verändernden Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet zu sein. Eine erfolgreiche Politik muß daher frühzeitig mit der Gestaltung beginnen. Die EG ist jetzt – nicht erst, wenn der Problemdruck dies erzwingt – gefordert, den schrittweisen Einstieg in eine geregelte Einwanderungspolitik vorzubereiten: Die offenen Grenzen erfordern eine Harmonisierung des Asylrechts. Asylberechtigte müssen nach einem einheitlichen Verfahren und nach einheitlichen Kriterien in den Staaten der EG aufgenommen werden. Die Europäische Gemeinschaft hat bei der Vertragsreform in Maastricht noch keine weitergehenden Kompetenzen in der Einwanderungspolitik erhalten. Die dort vorgesehene Option einer Einwanderungspolitik würde den Handlungsspielraum am meisten erweitern. Darüber hinaus ist es auf mittlere Sicht nicht hinnehmbar, daß wichtige Zukunftsfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in intergouvernementalen Abkommen ohne ausreichende parlamentarische Kontrolle ausgehandelt werden. Es muß rasch ein Instrumentarium erarbeitet werden, das zur effizienten und transparenten Bewältigung der Einwanderungsbewegungen beitragen kann. Eine planbare und akzeptable Gestaltung eines Einwanderungsgesetzes erfordert frühzeitige Klarheit über die Prämissen und die zur Verfügung stehenden Optionen.

Bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen läßt sich auf die Erfahrungen anderer Staaten zurückgreifen. Schweden etwa besitzt eine ausformulierte, kohärente, integrierte und in sich stimmige Einwanderungs- und Ausländerpolitik. Dort wird deutlich, wie ein Einwanderungsgesetz sowohl für die eigene Bevölkerung wie für jeden Zuwanderungsbereiten Ausländer signalisiert, daß hier nichts außer politischer Kontrolle gerät und daß Transparenz und Berechenbarkeit gegeben sind. Und die Aufnahme qualifizierter Immigranten ist zugleich eine Bereicherung für Bevölkerung und Land: Gutes kann bei sachgerechter Politik mit Nützlichem verbunden werden.

Ein europäisches Einwanderungsgesetz ist der Kern einer neuen Politik, die in Westeuropa für die multikultureller werdende Gesellschaft in den kommenden Jahren ein Klima der Toleranz schaffen muß. Nur so kann es der Gemeinschaft gelingen, auf eine Verschärfung des Problemdrucks nicht mit solchen Maßnahmen reagieren zu müssen, die, so war zu hoffen, die Europäer hinter sich gelassen haben. Es ist einfach eine Frage unserer Vernunft, daß wir das Einwanderungsproblem als europäischen Ernstfall begreifen und lösen.