• Seibt zu Jauß

    Zu den neuen Debatten um Hans Robert Jauß (vgl. SZ, Welt) haben wir bis Ende Juni Gustav Seibts instruktiven Essay von März '98 freigeschaltet. Das wissenschaftliche Gutachten, das die Diskussionen ausgelöst hat, gibt es hier zum Download.
  • Satztupfer im Salon: Ein Jahr mit den Goncourts (IX)

    Seit zwei oder drei Tagen verfolgt mich die Versuchung, eine Reise nach Japan zu machen. Und dabei geht es nicht um Trödelkaufwut: in mir ist der Traum, ein Buch zu schreiben, das in Form eines Tagebuchs hieße: Ein Jahr in Japan —  und zwar ein Buch, das mehr empfunden als ausformuliert wäre… (Bd. VI, S. 317)

    Edmond de Goncourt sieht seinen Bruder und sich als Vorreiter einer ästhetischen Entdeckung Asiens in Frankreich. Ist es nur die Liebe zu erlesenen Drucken und feinem chinesischem Porzellan? Die Ausgefeiltheit, mit der er seine Zimmer oder das Gartenhaus, den Grenier, eingerichtet und immer wieder stolz beschrieben hat, führt ihn zu Überlegungen zu Stilistik und Poetik — ähnlich wie dies früher auch die Zeichnungen Gavarnis taten. Es ist mehr als bloßer Fetischismus des Sammlers.

    Ich spreche zum Beispiel vom Japonismus, und sie sehen in einer Vitrine nur irgendwelche lächerlichen Nippes, von denen man ihnen erzählt hat, sie seien der Gipfel des schlechten Geschmacks und des Mangels an Formvollendung. Die Unglücklichen! Sie haben nicht gemerkt, daß heutzutage der ganze Impressionismus — der Untergang des Erdpechs etc. — durch die Betrachtung und Nachahmung der hellen Impressionen Japans entstanden sind. Des weiteren ist ihnen entgangen, daß das Hirn eines westlichen Künstlers bei der Gestaltung eines Tellers oder was es auch immer sei lediglich ein in die Mitte des Gegenstands plaziertes Dekor erdenkt und erschafft, ein Einzeldekor oder eins, das aus zwei, drei, vier oder fünf dekorativen Details besteht, die stets in Entsprechung und Ausgewogenheit stehen, und daß die Nachahmung des seitlich über den Gegenstand geworfenen Dekors, des assymetrischen Dekors durch die heutige Keramik, den Glauben der griechischen Kunst aufgreift, zumindest beim Verzieren. (mehr …)

  • Männlicher und weiblicher Geist?

    Ein Kommentar zu Manfred Schneiders in der NZZ vom 21. April veröffentlichtem "Kommentar zur Gleichstellung". *** Manfred Schneider, selbst Literaturwissenschaftler, scheint sich Sorgen um die Geisteswissenschaften zu machen. Um die Wahl der Forschungsgebiete, die mehr und mehr von Drittmittelsuche als von Forschergeist oder Leidenschaft an den Inhalten des Faches getrieben werde. Um die Diskussionskultur, die sich in zunehmend seichtem Fahrwasser bewege. Um ein seltsames Anbiedern an die Neurowissenschaften, das philosophische Begriffe, Fragestellungen und Erörterungen auf farbenfrohe Neuro-Imaging-Daten zu reduzieren suche.  Was den Geisteswissenschaften mehr und mehr abhanden komme, sei "das Agonale",  will wohl meinen, die ebenso leidenschaftlich wie ernsthaft betriebene inhaltliche Auseinandersetzung, die auch den Konflikt und den Widerspruch nicht scheut. Dies alles sind ernstzunehmende und wichtige Bedenken, die diskutiert werden müssen – zusammen mit der zunehmend prekären Stellensituation im Wissenschaftsbereich, die sich sicherlich gerade bei Nachwuchsforscherinnen und Nachwuchsforschern ablenkend und hinderlich auf die leidenschaftlich agonale Positionierung und Gegenpositionierung auswirkt und das Schielen auf die nächste Drittmittelfinanzierung oder die Hoffnung auf eine Beteiligung an den "prallgefüllten Geldtöpfen der Hirnforscher" nötig macht. Dass diese Entwicklungen zu kritisieren sind, steht wohl außer Frage. Die Frage, die sich im Hinblick auf Schneiders Kommentar allerdings stellt, ist jedoch, was all diese beklagenswerten und zu diskutierenden Missstände mit dem Thema der Gleichstellung zu tun haben. Hier wird Schneiders Argumentation vage, ganz entgegen seiner Forderung nach Entzweiung, Dialektik, Widerstreit, nach "kultiviertem Zwist", was doch die Formulierung klar formulierter Thesen als Voraussetzung haben sollte. (mehr …)
  • Sehr geehrter Herr Marquard

    Als vorgestern die Nachricht vom Tod Odo Marquards kam, fragte ich mich, warum er - der dafür doch eigentlich prädestiniert gewesen wäre - nie im Merkur veröffentlicht hat. Im folgenden Auszüge aus dem Redaktionsbriefwechsel, die zeigen, dass man ihn durchaus als Autor zu gewinnen versuchte. Mit Dank an Kurt Scheel für die Genehmigung zur Veröffentlichung seiner Anfragen.

    16.7.1982

    Sehr geehrter Herr Marquard,

    Sie haben noch nie im MERKUR veröffentlicht - das finde ich bedauerlich. Ich möchte mit der Tür ins Haus fallen (die Endlichkeit des Lebens...) und Sie fragen, ob Sie Lust (und Zeit) haben, für uns die Bücher von Karl Heinz Bohrer (Plötzlichkeit) und Manfred Frank (Der kommende Gott. Vorlesungen zur Neuen Mythologie) zu rezensieren.

    ...

    Ich bin gespannt auf Ihre Antwort, mit freundlichen Grüßen, Redaktion MERKUR (Kurt Scheel)

    15.11.1982

    Sehr geehrter Herr Marquard,

    ich hoffe, Sie haben sich gut im Wissenschaftskolleg eingelebt und festgestellt, daß Sie gar nicht so viele Verpflichtungen vor sich haben, demzufolge für eine Rezension der avisierten Bohrer-Bücher (Plötzlichkeit, Moderne und Mythos) - und eventuell des Buches von Frank (Der kommende Gott) - Zeit und Lust hätten... (mehr …)

  • Zur Charlie-Hebdo-Debatte

    In Amerika wird gerade wieder heftig über Charlie Hebdo gestritten. Vergangenen Mittwoch wurde dem Magazin in New York der PEN Award für "Freedom of Expression Courage" verliehen, inzwischen haben aber über zweihundert PEN-Mitglieder, darunter Michael Ondaatje, Teju Cole und der n+1-Mitherausgeber Keith Gessen, einen offenen Protestbrief gegen die Preisvergabe gezeichnet, was ihnen wiederum heftige Kritik (u.a. von Salman Rushdie) eingebracht hat. Coles kurze Stellungnahme ist hier zu lesen (mit einem Briefwechsel zwischen Protestinitiatorin Deborah Eisenberg und PEN-Präsidentin Suzanne Nossel), Gessens ausführliche hier. "Pro-Charlie" und "Anti-Charlie"-Positionen erscheinen seit einer Woche in einer Frequenz, die dem Heißlaufen der Diskussion im Januar in nichts nachsteht. Was ich bisher gelesen habe, fügt den Argumenten, die schon vor vier Monaten ausgetauscht wurden, wenig Neues hinzu. Deshalb hier ein paar Punkte, die meiner Ansicht nach in der Debatte noch immer nicht richtig gesehen werden:

    1 Ästhetik/Humor vs. Politik

    Die meisten Beiträger arbeiten sich an der Frage ab, was oder wie Charlie Hebdo eigentlich ist – ist sein Humor lustig oder einfach nur deplatziert, ist das Magazin rassistisch oder anti-rassistisch, progressiv oder reaktionär, etc. (Ein ins Unfreiwillig-Komische kippendes Beispiel für diese Charaktercheck liefert Jeann-Marie Jackson ebenfalls bei n+1 – abgesehen davon erkennt sie die kritische Frage, ob man lokale Kommunikation nach ihrer globalen Wirkung beurteilen sollte, und beantwortet sie, wie ich finde falsch, mit nein.) Läuft dieser Charlie-Check nicht auf die simple moralisch-ästhetische Unterscheidung Charlie-gut/Charlie-böse, Charlie-lustig/Charlie-blöd hinaus? Als ob sich das so leicht sagen ließe! Und als ob das überhaupt die wichtige Frage wäre. (mehr …)