• Facelift für das System: Heinz Bude und Nicole Deitelhoff im Gespräch

    Beinahe wäre die Überraschung gelungen und dieser Abend hätte mit einem „Dann ist doch alles ganz gut“ geendet, ausgesprochen von Heinz Bude und als Resümee gemeint. Dann meldet sich doch noch eine weitere Hand im Publikum, Bude lässt nach der letzten nun noch die allerletzte Frage zu, Nicole Deitelhoff holt abermals zu einer Antwort aus und ohne dass noch viel Neues gesagt würde, übersteht das friedvolle Fazit den Schlusspunkt nicht ganz ohne Delle. (mehr …)
  • Les Goncourts antisémites: Ein Jahr mit den Goncourts (X)

    La France juive von Drumont wird, glaube ich, die Auswirkung haben, in ziemlich naher Zukunft das jüdische Geldkapital zum leicht verschwommenen und nicht näher bestimmten Gegenstand des Hasses zu machen. (Bd. VIII, S. 62)

    Die Französische Revolution eröffnete für die jüdische Bevölkerung Frankreichs eine konkrete, wenn auch steinige Hoffnung auf Emanzipation: Spätestens seit einer Erklärung der Französischen Nationalversammlung 1791 galten Juden als säkulare Staatsbürger in einem säkularen Staat. Doch das Toleranzprinzip der französischen Aufklärung, das diese Entwicklung ideologisch rahmte, war nicht frei von Widersprüchen: Enzyklopädisten wie Diderot und d’Holbach waren Antisemiten, Voltaires Invektiven gegen Juden prägten die antisemitischen Debatten des 19. Jahrhunderts. 1807 wurden vom französischen Gerichtshof die Menschenrechte zwar ausdrücklich auch für Juden erklärt, doch ein Jahr später nur schränkte Napoleon die Rechte für Juden auf Handel und Freizügigkeit wieder ein. Robert S. Wistrich, der den französischen mit dem deutschen Antisemitismus vergleicht, hebt den Symbolcharakter der jüdischen Emanzipation für die französische Revolution und den Grundsatz der égalité hervor — und damit für die französische Begriffe von citoyen und Nation, die sich — im Gegensatz zum deutschen Volksbegriff — eben nicht ethnisch, sondern streng politisch definieren sollten — bis heute. Im Zuge der Revolution wurde die religiöse, vor allem katholische, Ausprägung des Antisemitismus durch eine säkulare Variante verdrängt. Der Kampf um die gesellschaftliche Rolle der Juden in Frankreich führte aber eindrucksvoll vor, dass verfeindete politische Lager sich im Antisemitismus doch vereint fanden: der katholische Klerus und die Anhänger der Monarchie, das aufsteigende Bürgertum, die Republikaner, die Sozialisten. Das Wort Jude taugte als Container für — je nach Position — antibourgeoise, antikapitalistische, antiprotestantische, antideutsche und antibritische Ressentiments, wie Robert S. Wistrich zeigt: (mehr …)
  • Schleudersitz im Autor-Scooter

    Zur Erfrischung nach dem "Literarischen Quartett" erstmal "Autor-Scooter" mit Jörg Fauser geguckt. Zunächst die Stilkritik: Volker Weidermanns Anzug ging absolut gar nicht. Ansonsten konnte ich mich kaum auf das Gesagte konzentrieren, weil ich ewig brauchte, um die seltsame Dynamik zwischen den vier Diskussionsteilnehmern zu fassen zu bekommen. Maxim Billers Machogehabe ist eigentlich nicht zum Aushalten. Seine Aggressivität schüchtert die Anderen dermaßen ein. Noch im versuchten Widerspruch wirkte Weidermann komplett unterworfen. Das sind Konstellationen mikrologischer Angst, die mir zum letzten Mal bei den Bargesprächen in Ernst Jüngers Eumeswil begegnet sind. Zugleich ist Biller mit sich im Reinen, Enfant terrible im Vorruhestand, dieses Sosein stellt er aus und dadurch auch zur Disposition. Er hat eine Natürlichkeit, die dem Spiegel-Volker, Juli Zeh und Christine Westermann - die ja auch ganz anderes kann - völlig abgeht. Dass er am Ende als Sympath der Runde dasteht, ist pervers, aber eine Tatsache.

    Dann also nochmal bei YouTube vorbeischauen. Es ist 1984. Wie Moderator Jürgen Tomm Fauser ankündigt, ist einfach herrlich. Zum Betrieb fielen diesem Autor vor allem zwei Begriffe ein, "Kulturknackis" und "Medienwichser". Der perfekte Einstieg in eine Kultursendung. Und so geht es im Einspieler weiter: Fausers Texte, so heißt es da, führen den Leser durch die Welt der "Drücker und Gedrückten". (mehr …)

  • Jünger und Trümmer: 100 Jahre Gegenwart

    Im Haus der Kulturen der Welt wurde das nächste auf vier Jahre angelegte Forschungsprojekt vier Tage lang eröffnet. Nach einigen schwindelerregenden Vorträgen halluzinierte ich mir Ulrich herbei, den Mann ohne Eigenschaften, um nicht in der Technosphäre unterzugehen. "Sie sprachen von Möglichkeitsräumen?" "Ja, von Möglichkeitsräumen. Die Potentiale aufdecken, zurückverfolgen, und sehen, was daraus geworden ist, und was auch hätte daraus werden können." Eine Frage, eine Antwort, so kann es weiter gehen, aber es ist eben nicht immer Pressekonferenz, ab jetzt heißt es selbst Schlüsse ziehen. Gut, dass Ulrich da ist. Er wollte zunächst nicht kommen, konnte sich dann aber, wie er mir kurznachrichtlich mitteilte, doch nicht gegen das irgendwie gute Gefühl wehren, einem Auftaktereignis zu einer großangelegeten mehrjährigen Veranstaltung tatsächlich beiwohnen zu können. Diese Planung, schrieb er mir, sei ja schon beeindruckend, sie, in Kakanien, hätten das einfach nicht hinbekommen, obwohl auch sie tatkräftig vom Staat unterstützt worden seien, ja sogar beauftragt, und die finanziellen Mittel seien auch keineswegs beschränkt gewesen. Aber 15 Millionen für das HKW, das sei schon eine tolle Sache, da könne man einiges erreichen. (mehr …)
  • 20:30h bis 21h, 22:15 bis 23h: Signiermöglichkeit. Zu Karl Ove Knausgård in den Berliner Festspielen

    Karl Ove Knausgård ist momentan der bekannteste Autor Norwegens. Das gilt in mindestens Norwegen, den USA und in Deutschland. Das ist einer der Gründe dafür, dass am vergangenen Freitag ungefähr 800 Leute in das Haus der Berliner Festspiele gekommen sind, um einen "Tag mit…Karl Ove Knausgård" zu verbringen, der von 19.30 bis ca. 0.30h dauerte, was eine interessante Verkürzung ist, aber Knausgårds autobiographische Min Kamp-Romanreihe, die hier gefeiert wurde, schildert ja auch nur ca. die ersten 40 Jahre seines Lebens, die dafür in großer Ausführlichkeit. Aufgeteilt war der Abend in einen Prolog, ein Gespräch mit dem Autor und eine Late Night mit Musik, dazwischen Signierstunde, Rotwein, Toilette, Zigarette (je nach Bedarf). An diesem Abend zeigte sich unter anderem, dass man offenbar bei einem monumentalen Unternehmen dichterischer Selbstbespiegelung vor allem viel Zeit braucht um zu zeigen, was daran so toll ist; die schiere Menge an Text, die Knausgård produziert hat, dürfte es nicht sein, auch andere Autoren (weniger: Autorinnen) schreiben 1000-seitige Bücher. Ein besonderes poetisches Verfahren ist es auch nicht, denn Knausgård beschäftige sich vor allem mit dem Problem der literarischen Epigonalität, wie Ijoma Mangold (Die Zeit) sagte, der im ersten Teil des Abends mit dem Knausgård-Übersetzer Paul Berf und dem Moderator Thomas Böhm einen "Prolog" führte. (mehr …)
  • Merkur im Oktober

    So selten wie einst wird das Turiner Grabtuch, auf dessen Echtheit selbst die Katholische Kirche nicht schwört, inzwischen nicht mehr ausgestellt – aber die aktuelle Gelegenheit war Burkhard Müller doch eine Pilgerreise wert. Er berichtet in vierzehn Stationen. Eine einfache Frage stellt Marcus Twellmann: „Digital Humanities – seit wann gibt es die?“ Die Antwort kann so einfach nicht sein, vielmehr gibt der Autor sie in Form eines historischen Rückblicks auf die Auseinandersetzung zwischen „Buchstaben-„ und „Zahlenmännern“ in den entstehenden Ethnoswissenschaften des 19. Jahrhunderts. Einen etwas spöttischen Blick auf die Wissenschaft im größeren Ganzen wirft (frei lesbar) der Historiker Thomas Etzemüller: Dass sie nichts mit Selbstdarstellung der Wissenschaftler zu tun habe, glaubt sie ja – hoffentlich – selber nicht. Er erklärt dann, warum sie es in jedem Fall besser nicht täte. Wir ergänzen das mit drei Fotos Max Benses von Johnnie Döbele aus dem Jahr 1976, den einzigen, die Bense je bei einer Vorlesung von sich machen ließ. In seiner Filmkolumne widmet sich Simon Rothöhler (im zweiten freigeschalteten Text) mit liebevoller Bösartigkeit einem sehr speziellen Objekt: Tom „Terrific“ Cruise, an dem sich viel über star branding lernen lässt. Harald Bodenschatz macht in seiner Urbanismuskolumne klar, dass es das Bauhaus nicht gibt. Und Wolfgang Matz beobachtet das intellektuelle Dreieck Adorno-Benjamin-Scholem in seinen  Briefwechseln, von denen der zwischen Adorno und Scholem gerade erschienen ist. 25 Jahre Wiedervereinigung – ein Grund zum Feiern? Ja, schon, meint der Brite Hans Kundnani. Aber nach den Europa-Krisen der jüngsten Zeit kann der Blick so ganz ungetrübt auch nicht mehr sein. Thomas Mayer, der Ex-Chefvolkswirt der Deutschen Bank, erklärt, warum Deflation eine feine Sache sein könnte, wenn das Geldsystem ein anderes wäre. Wenig feierlich bzw. ganz und gar nicht state of the art findet Paul Kahl, wie im Weimarer Schillerhaus des Dichters gedacht wurde und wird. Susanne Röckel blickt auf einen Gibbon in einem Gemälde von Muqi aus dem 13. Jahrhundert – und der Gibbon blickt zurück, was die Autorin auf dem Wege des Essays bis zu Emmanuel Lévinas führt. Und zum drittletzten Mal führt Stephan Herczeg für uns sein Journal.
      Die Übersicht mit den Kaufmöglichkeiten für das Heft (in Print und Digitalformaten) sowie die einzelnen Artikel auf unserem Volltextportal. Burkhard Müller        Pilgerfahrt zum Grabtuch Marcus Twellmann                Zur Archäologie der Digital Humanities Thomas Etzemüller     Wissenschaft und Selbstdarstellung    GRATIS Simon Rothöhler          (lesen ...)