• Zur Charlie-Hebdo-Debatte

    In Amerika wird gerade wieder heftig über Charlie Hebdo gestritten. Vergangenen Mittwoch wurde dem Magazin in New York der PEN Award für "Freedom of Expression Courage" verliehen, inzwischen haben aber über zweihundert PEN-Mitglieder, darunter Michael Ondaatje, Teju Cole und der n+1-Mitherausgeber Keith Gessen, einen offenen Protestbrief gegen die Preisvergabe gezeichnet, was ihnen wiederum heftige Kritik (u.a. von Salman Rushdie) eingebracht hat. Coles kurze Stellungnahme ist hier zu lesen (mit einem Briefwechsel zwischen Protestinitiatorin Deborah Eisenberg und PEN-Präsidentin Suzanne Nossel), Gessens ausführliche hier. "Pro-Charlie" und "Anti-Charlie"-Positionen erscheinen seit einer Woche in einer Frequenz, die dem Heißlaufen der Diskussion im Januar in nichts nachsteht. Was ich bisher gelesen habe, fügt den Argumenten, die schon vor vier Monaten ausgetauscht wurden, wenig Neues hinzu. Deshalb hier ein paar Punkte, die meiner Ansicht nach in der Debatte noch immer nicht richtig gesehen werden:

    1 Ästhetik/Humor vs. Politik

    Die meisten Beiträger arbeiten sich an der Frage ab, was oder wie Charlie Hebdo eigentlich ist – ist sein Humor lustig oder einfach nur deplatziert, ist das Magazin rassistisch oder anti-rassistisch, progressiv oder reaktionär, etc. (Ein ins Unfreiwillig-Komische kippendes Beispiel für diese Charaktercheck liefert Jeann-Marie Jackson ebenfalls bei n+1 – abgesehen davon erkennt sie die kritische Frage, ob man lokale Kommunikation nach ihrer globalen Wirkung beurteilen sollte, und beantwortet sie, wie ich finde falsch, mit nein.) Läuft dieser Charlie-Check nicht auf die simple moralisch-ästhetische Unterscheidung Charlie-gut/Charlie-böse, Charlie-lustig/Charlie-blöd hinaus? Als ob sich das so leicht sagen ließe! Und als ob das überhaupt die wichtige Frage wäre. (mehr …)
  • Accelerationism vs. Academism (at Centre Pompidou)

    This is the English version of Tobias Haberkorn's text Akzelerationismus vs. Akademismus, which was originally published at Merkur-Blog last Tuesday. Last Monday at the Centre Pompidou, Alex Williams’ and Nick Srnicek’s Manifesto for an Accelerationist Politics was for the first time presented to a French audience. A year ago, Armen Avanessian had gathered more than five hundred people at an Alexanderplatz location for the book launch of the Manifesto’s German edition. Translations into eighteen different languages followed. Then Paris began to stir. Yves Citton, professor of literature in Geneva, has translated and published the text in Multitudes, a journal of such impeccable leftist pedigree that I hold it to be one of the best but have never gotten around to actually reading it. In Paris too, accelerationism draws crowds. Of the two hundred or so people that showed up, more than fifty were turned away at the door of a conference room that turned out to be far too small. (mehr …)
  • Akzelerationismus vs. Akademismus (im Centre Pompidou)

    Letzten Montag wurde im Centre Pompidou das »Manifesto for an Accelerationist Politics« von Alex Williams und Nick Srnicek vorgestellt. Vor genau einem Jahr hatte Armen Avanessian zur deutschen Buchpremiere des Manifests bei Merve über fünfhundert Leute am Alexanderplatz versammelt. Nachdem das Manifest inzwischen in knapp zwanzig Sprachen vorliegt, reagiert auch Paris. Übersetzt und rausgebracht hat den Text nun Yves Citton, Literaturprofessor aus Genf, in seiner Zeitschrift Multitudes. Die hat einen so lupenreinen linken Ruf, dass ich sie im Prinzip für eine der besten halte, tatsächlich aber noch nie gelesen habe. Auch in Paris zieht der Akzelerationismus. Von über zweihundert Interessenten müssen, weil der Saal zu klein ist, etwa fünfzig draußen bleiben. Wie nimmt das französische Establishment ein politisches Programm wahr, das von zwei Londoner Doktoranden in International Relations aufgesetzt wurde und seit einem guten Jahr die internationale Theoriebranche mit Schlagworten beliefert? Um das Ende vorweg zu nehmen: als Ärgernis, ja als Bedrohung. Ein paar anerkennende Worte gab es zwar, die wirkten aber wie minimale Höflichkeitsadressen in einer ansonsten allergischen Abwehrreaktion. Williams und Srnicek, die wegen eines Visumsproblems (Srnicek ist Australier) nicht hatten anreisen können, durften sich per Skype zwei Totalverrisse ihres Manifests anhören. (mehr …)