Holocaust-Gedenken in Kyiv: Im Fokus hybrider Kriegsstrategien? Topographie des komplexen Erinnerungsdiskurses um Babyn Jar

Dieser Text wurde kurz vor Beginn des brutalen Angriffskrieges Russlands in der Ukraine am 24. Februar verfasst. Am Dienstag, 1. März, wurde der Kyiver Fernsehturm, 1973 in unmittelbarer Nähe zur Gedenkstätte Babyn Jar errichtet, Ziel eines Raketenangriffs. Auch wenn der Erinnerungsort wohl nicht direkt getroffen wurde, wird diese Episode der ruchlosen Kriegsführung Russlands von Kommentatorinnen und Kommentatoren als symbolischer Gewaltakt scharf verurteilt. Putins sogenannte „Entnazifizierungs“-Maßnahmen zielen ausgerechnet auf ein im Zentrum des Erinnerungskrieges stehendes Mahnmal: das Holocaust-Symbol Babyn Jar. Der ukrainische Präsident Selenskyj fragte am Abend des Angriffs in einem Tweet: „Wofür ‚Nie wieder‘ 80 Jahre lang wiederholen, wenn die Welt, wenn eine Bombe auf Babyn Jar fällt, schweigt? 5 weitere Leben sind verloren. Die Geschichte wiederholt sich…” 

Gerade einmal zwei Stationen sind es vom Stadtzentrum aus mit der Metrolinie 3 bis zur Station Dorohoschytschi. Tritt man aus dieser besonders tief unter der Erde gelegenen Metrostation an die Luft, setzt man den Fuß – ob bewusst oder nicht – auf von NS-Verbrechen geschundenen, symbolisch gesättigten Boden: Die Schlucht Babyn Jar, in der die Nazis am 29. und 30. September 1941 33.771 jüdische Bürgerinnen und Bürger von Kyiv und in den folgenden Monaten zehntausende weitere Menschen erschossen, ist heute ein Park. Nordöstlich des Stadtzentrums gelegen, wird er für gewöhnlich von Anwohnern oder zufälligen Passantinnen frequentiert. Nur selten hält jemand vor einem der vielgestaltigen Erinnerungszeichen inne, die – als ob willkürlich – auf dem Gelände der historischen Schutzzone verteilt sind. Seitdem in der unabhängigen Ukraine ein differenziertes Gedenken an den Holocaust in der Öffentlichkeit möglich wurde, ist Babyn Jar zu einem Symbol für den Holocaust durch Kugeln geworden: So bezeichnete Patrick Desbois, französischer Pfarrer und Buchautor, die rassistisch motivierten Massenerschießungen in Osteuropa, die der systematischen Vernichtung von Jüdinnen und Juden durch den munitionssparenden Einsatz von Gaskammern vorausgegangen war.

80 Jahre nach Babyn Jar 

 

Weg-des-Todes-Denkmal (Foto: Elisabeth Bauer)

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Am Abend des 5. Oktobers 2021 scheint der gewöhnliche Parkbetrieb in Bewegung versetzt: Gäste einer der vielen feierlichen Veranstaltungen, der Premiere des Films Babi Yar. Context des in Deutschland lebenden ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa – im Rahmen des 80. Jahresgedenkens vom Babyn Yar Holocaust Memorial Centre (BYHMC), dem Nationalen Historischen Gedächtnisreservat Babyn Jar sowie Präsidialbüro und Ministerkabinett an verschiedenen Orten der ukrainischen Hauptstadt ausgetragen – mischen sich unter das Parkpublikum. Achtsam aber zielgerichtet bahnen sie sich ihren Weg durch die unübersichtliche, bedeutungsschwere Parktopographie. Der Erinnerungsraum von Babyn Jar, heute an einem urbanen Knotenpunkt, zwischen der Kreuzung von Olena-Teliha- bzw. Yurij-Illjenka-Straße und der Kirche des Hl. Kyrill gelegen, setzt sich aus rund drei Dutzend Denkmälern zusammen, die im Laufe der Jahrzehnte im Andenken an die verschiedenen hier ermordeten Opfergruppen aufgestellt wurden. Was fehlt: Ein staatliches Denkmal, welches das fragmentierte Gedächtnis von Babyn Jar ordnen und eine passende Form – eine Sprache – sowohl für den lokalen Kyiver Kontext als auch den globalen Holocaust-Kontext artikulieren würde. Bereits die Tatsache, dass die breite Autotrasse entlang der historischen Stätte der ukrainischen Dichterin, Nationalistin und Herausgeberin der Literaturzeitschrift Ukrayins’ke Slovo, Olena Teliha, einer glühenden Antisemitin, gewidmet wurde, kann als Hinweis auf die Komplexität des Ortes herhalten – und damit des polyphonen Erinnerungsdiskurses um Babyn Jar, den zu entwirren Anliegen dieses Textes ist.

Spiegelfeld (Foto: Elisabeth Bauer)

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Bewegt man sich am Denkmal für die in Babyn Jar ermordeten Kinder, dann am den Genozid an ukrainischen Roma erinnernden Eisenbahnwaggon vorbei; lässt man auch das 2019 über dem historischen Ort des Massakers eröffnete Spiegelfeld rechter Hand sowie das neueste Objekt, die Crystal Wall of Crying der Künstlerin Marina Abramovic, linker Hand liegen, wird ein großes Veranstaltungszelt sichtbar: Es verdeckt den Blick auf die 1991 zum 50. Jahrestag des Massenmordes eingeweihte “Menora” – das erste Erinnerungszeichen an diesem Ort, das spezifisch für die jüdischen Opfer bestimmt war. Hinter transluzenter Zeltplane wird eine Zuschauertribüne, die Menora und schließlich eine Bühne mit großer Leinwand sichtbar, flankiert von Bannern, auf denen eine digitale, rhizomartige Struktur aufflackert: das Logotyp des Babyn Yar Holocaust Memorial Centre (BYHMC), das angetreten ist, das Gedächtnis des Ortes zu erschließen und eine Sprache für die Geschichte von Babyn Jar zu finden. Die Leuchtpunkte des Akronyms zeichnen die abstrahierte Topographie von Babyn Jar nach, lösen sich und bilden die kabbalistischen Sephirot – den jüdischen Lebensbaum.

In seiner Rede setzt Kyiver Bürgermeister Vitali Klitschko auf ungeschickte Weise Holocaust, Holodomor und die russische Annexion der Krim in Zusammenhang zum Babyn-Jar-Jahresgedenken. Die Aufzählung impliziert eine Äquivalenz, die jeglicher historischen Grundlage entbehrt, jedoch als charakteristisch für die politisch aufgeladene ukrainische Geschichtspolitik angesehen werden kann. Klitschko spricht langsam und betont; zuweilen bekommt seine Stimme einen aggressiv-pathetischen Ton: Die Erwähnung der russischen Aggressoren scheint ihn tatsächlich zornig zu stimmen.

Auch Regisseur Sergei Loznitsa ist wütend, wenngleich aus einem anderen Grund als Klitschko. Sichtlich nervös – Loznitsa spricht als einziger auf Russisch – betont er, dass auch die ukrainische Kollaboration mit den Nazis nicht vergessen werden dürfe. Ihn scheint die politische Vereinfachung des Mainstream-Geschichtsnarrativs zu stören, das ukrainische Nationalisten märtyrerhaft als Kämpfer für die staatliche Unabhängigkeit verehrt, während über jegliche Beteiligung am Holocaust hinweggeschwiegen wird.

Das BYHMC – die „private Initiative“ – geht paradoxerweise auf eine staatliche Entscheidung des ehemaligen Präsidenten Poroschenko und des Bürgermeisters Klitschko aus dem Jahr 2016 zurück, den russischen Investoren Michail Friedman, German Khan und Pavel Fuchs freie Hand zu erteilen; die drei Co-Initiatoren sollen enge Beziehungen zum Kreml pflegen. Auch Viktor Pinchuk, ukrainischer Oligarch und Kulturmäzen, der im Stadtzentrum der ukrainischen Hauptstadt das populäre Museum und Kunstvermittlungszentrum Pinchuk Art Center unterhält, ist unter den Hauptinvestoren. Mittlerweile steht ein Teil des Regierungsapparats inklusive Präsident Wolodymyr Selensky hinter dem Projekt; Vitali Klitschko, die Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Alexievich oder Joschka Fischer gehören dem namhaften Aufsichtsrat der Stiftung an.

Als 2019 bekannt wird, dass den Posten der künstlerischen Leitung der russische Filmemacher Ilya Khrzhanovsky – Schöpfer des skandalumwitterten Mega-Filmprojekts DAU – übernehmen würde, häufen sich kritische Kommentare aus Wissenschaft und Medien; als im April 2020 ein „unfertiger“ Konzeptentwurf durch ein Leak in die ukrainische – und von dort aus in die internationale – Presse gelangt, wird lautstark Khrzhanovskys Rücktritt gefordert. Wie schon bei DAU, wird einerseits die interne Arbeitsweise des von den einen als „Megalomane“, von den anderen als „Universalgenie“ bezeichneten Künstler-Kurators kritisiert, andererseits sein von vielen als totalitär bezeichneter Umgang mit dem historischen Gedächtnis und der Kunst.

Zwei Initiativen: Zwei Denkmäler, zwei Museen?

Das BYHMC ist nicht die einzige Initiative, die in aktuellen erinnerungspolitischen Diskussionen über Babyn Jar ganz oben mitmischt. Als „privat“ oder „russisch“ wird das Projekt – nicht ohne Polemik – von der mit ihm opponierenden „staatlichen“ oder „ukrainischen Initiative“ bezeichnet, die aus dem 2003 gegründeten Komitee „Babyn Jar“ hervorgegangen ist und sich ebenso auf staatliche Entscheidungsträger beruft, aber auch auf ukrainische und internationale Forschungseinrichtungen, jüdische Institutionen, wie The Association of Jewish Organizations and Communities (VAAD) oder etwa die dem rechten Lager nahestehende Organisation Ukrainischer Nationalisten. Das Komitee sieht sich als Fortsetzung der dissidentischen Bewegung der 1960/70er Jahre; tatsächlich ist es insbesondere einigen ukrainischen, russischen, teils jüdischen Aktivistinnen und Aktivisten zu verdanken, dass sich in der sowjetischen Ära so etwas wie eine ukrainische Erinnerungskultur etablieren konnte. Einst hatten Autoren wie der russische Schriftsteller Viktor Nekrasov gegen das gezielte Vergessen auf staatlicher Ebene protestiert; seit der ukrainischen Unabhängigkeit kämpfen sie bzw. ihre „Nachkommen“ gegen die Tatenlosigkeit der Politik, wenn es um die Schaffung eines einheitlichen, die kleinteilige Denkmallandschaft ordnenden Erinnerungsnarrativs oder um den Schutz des Erinnerungsortes angesichts schleichender Privatisierungsversuche geht. „Auf Friedhöfen ist es nicht erlaubt zu schreien“, schreibt Nekrasov 1966 über die Denkmallandschaft von Babyn Jar. Seit den Neunzigern – auch in der aktuellen Debatte – steht immer wieder eine leicht abgeänderte Fragestellung im Fokus: Ist es erlaubt, auf einem Friedhof zu bauen?

Nach jahrelangem Engagement, umfassenden wissenschaftlichen Studien der historischen Topographie von Babyn Jar wird 2005 ein weiträumiges Areal zum denkmalgeschützten Reservat bestimmt; zwei Jahre später wird ihm nationaler Status zugesprochen. Mit diesem Etappensieg, so hofft man, konnte die interessengeleitete Bebauung gestoppt werden; doch selbst die Ernennung Babyn Jars zur denkmalgeschützten Zone – und dem in diesem Rahmen festgesetzten Bebauungsverbot – hindert private Initiativen nicht daran, weitere Vorstöße zu unternehmen. 2002 war ein erstes amerikanisches Projekt für ein jüdisches Zentrum auf dem Territorium des einzigen erhaltenen Friedhofs verhindert worden; 2006 macht eine städtische Initiative unter dem Oligarchen und Vorsitzenden des All-Ukrainischen Jüdischen Kongresses Vadim Rabinovich den Vorstoß, ein jüdisches Religionszentrum und Museum zu errichten, ein Grundstein wird aufgestellt. „Die Schutzzone existiert praktisch nur auf dem Papier“, ist aus Initiatorenkreisen zu vernehmen.

2016 nehmen zwei Konzeptentwürfe parallel zueinander Form an, erstellt von der „ukrainischen“ und der „russischen Initiative“. Während es sich bei letzterer um das private, in der internationalen Presse und unter Historikerinnen vielfach diskutierte Projekt handelt, das auch hinter dem großangelegten, exklusiv anmutenden Jahresgedenken sowie den neu errichteten Installationen steht, hat sich das ukrainische Konzept – wohl aufgrund fehlender Popularität, Internationalität und chronischem Geldmangel involvierter staatlicher Institutionen – noch in keiner Form manifestieren können. Den rechtlich geregelten Grundsatz des staatlich geschützten Territoriums hat die „private Initiative“ bereits mehrfach gebrochen: das Bauverbot.

Letzteres wird als zentrales Anliegen im Konzeptpapier der staatlichen Initiative genannt, auf Anordnung des Präsidenten 2017 von einer Arbeitsgruppe unter Aufsicht des Geschichtsinstituts der ukrainischen Akademie der Wissenschaften (NAN) erarbeitet. Das “Konzept einer komplexen Memorialisierung von Babyn Jar” wird 2018 vom Ministerkabinett bestätigt. Ein Jahr später werden die bestellten Konzepte zur „Erweiterung der Grenzen des nationalen Geschichts- und Gedenkreservats“ sowie „für ein Museum der Geschichte von Babyn Jar“ von 43 ukrainischen wie ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern rezensiert – und im Oktober 2021 der Öffentlichkeit präsentiert. Der Entwurf des „ukrainischen“ Projektes schlägt auch ein „ukrainisches“ Gedächtnismodell vor: Entstehen soll ein Erinnerungspark, ein Museum über Babyn Jar und ein ukrainisches Holocaust-Museum – letztere außerhalb der Schutzzone.

Im „ukrainischen“ Erinnerungspark sollen alle Tragödien, die in Babyn Jar passiert sind, abgebildet werden; es soll ruhig der Toten gedacht werden können. Anstatt auf dem historischen Areal zu bauen, sollen mit den Mitteln landschaftlichen Designs sowohl Orte der Massenerschießungen als auch ehemalige Friedhöfe bezeichnet werden. Beide Museen – dem Holocaust und Babyn Jar gewidmet – sollen in einem Museumskomplex unterkommen, verbunden durch die Geschichte der Massenerschießungen in Babyn Jar.

 

BYHMC: Ein „innovatives“ Museum

„Die Aufgabe des Projektes besteht darin, ein innovatives Museum für die Ukraine zu bauen, das potenziell ein Beispiel für andere Länder werden könnte“, sagt BYHMC-Geschäftsführer Ruslan Kavatsjuk im Rahmen einer Gesprächsrunde, die beide Initiativen – privat und staatlich – an einen Tisch bringt. „Ein traditionelles Holocaust-Museum wäre eine Niederlage.“ Die Veranstaltung unter dem Titel „Wenn Museen Schauplätze von Erinnerungskämpfen werden“ wird vom Ukrainischen Institut für Nationale Erinnerung im April 2020 ausgetragen. „Innovativ“ muten die jüngsten BYHMC-Eingriffe in Babyn Jar in der Tat an:

Am Fuß des noch immer erkennbaren Abhangs von Babyn Jar liegt ein rundes, flaches Metallpodest. Hohle Stehlen, bei Dunkelheit von innen heraus beleuchtet, ragen baumstammartig in die Höhe. Das begehbare, spiegelnde Objekt wird phasenweise in Vibration versetzt, die im eigenen Körper nachklingt: Es transferiert die erschütternde Abstraktheit der unzähligen Menschenleben, an diesem Ort maschinenhaft niedergeschossen, in wahrnehmbare elektrische Schwingung. Auf der Metallfläche verteilte Löcher bilden das Kaliber der hier eingesetzten Gewehre ab. Auf Ukrainisch verlesene Opfernamen, Archivaufnahmen jiddischer Melodien aus der Vorkriegszeit und pastorale Gesänge schallen über das „Spiegelfeld“.

Es ist eine der ersten Installationen, die seit 2020 schrittweise eröffnet wurden. Im Zuge des 80. Jahresgedenkens wird weniger Meter weiter auch die vierzig Meter lange, drei Meter hohe „Kristallene Klagemauer“ von Marina Abramovic vorgestellt: Aus ukrainischer Kohle und brasilianischen Quarzkristallen zusammengesetzt, soll sie eine symbolische Verlängerung der Klagemauer in Jerusalem darstellen, Raum für Erinnerung und Reflexion bieten. Die Interaktion mit den Kristallspitzen, in Höhe von Kopf, Brust und Bauch angebracht, soll „die Verbindung von privatem und kollektivem Gedächtnis durch Körpererfahrung“ wiederherstellen – so heißt es in der Beschreibung. Ein drittes Objekt, das der Erinnerungslandschaft wie ein Fremdkörper aufgesetzt worden: die „Symbolische Synagoge“ aus ukrainischer Eiche in Form einer aufgestellten Thora, die geöffnet und geschlossen werden kann. Bedeckt von einem bunten Symbolsystem und hebräischen Gebetssprüchen, orientiere sich die Ausstellungsarchitektur an traditionellen Synagogen der Westukraine, heißt es aus dem deutsch-schweizerischen Büro Manuel Herz Architects.

Drei Mal wurde also bereits gegen die Bauverordnung der geschützten Denkmalzone verstoßen, erlaubt sind lediglich mobile, vorübergehend errichtete Pavillons. Hinzukommen soll ein seit Monaten im Bau befindliches Objekt: Ein bewegungsloser Kran hängt über einer Baugrube, der Sichtschutz zeigt Modellierungen des von dem Berliner Architekturbüro SUB konzipierten Museumsbaus „Kurgan“, der die Geschichte der Massenerschießungen mithilfe von 3D-Technologie zu „reproduzieren“ bestrebt ist. Im Zentrum des Entwurfs steht das Erdreich als physische Erinnerungsschicht, die – zumindest in diesem Gedanken herrscht auf allen Seiten Einigkeit – höchst achtsam behandelt werden muss. „Die Erde zeichnet Geschichte nach, hat tiefgreifende Bedeutung“, sagt SUB-Architekt Andrea Faraguna bei der Projektpräsentation.

„Wie kann in einen solchen Ort eingegriffen werden?“, lautet eine zentrale Frage in der Diskussion um die Neugestaltung des historischen Babyn Jar-Geländes. Die vom BYHMC verfolgten räumlichen Eingriffe durch den entstehenden Museums-Grabhügel sowie die bereits eröffnete Synagoge wird von der Architektin Marina Otero Verzier als „selbstbewusst aber bescheiden“ beschrieben. Die architektonische Intervention müsse respektvoll sein und gleichzeitig die Stärke haben, jene zu repräsentieren, die an diesem Ort brutal zum Schweigen gebracht wurden.

Erinnerungskrieg

Der Konflikt wird in erster Linie auf Ebene der symbolischen und (global-)politischen Repräsentation des Ortes ausgetragen. Erinnerungskriegen ist gemein, dass sie sich in abstrakter, repräsentativer Distanz zu ihrem Gegenstand abspielen – und meist ist es das Mittel mythologisierender Narration, dessen sich die um das Gut „ihrer“ historischen Wahrheit konkurrierenden Parteien bedienen. Im Falle von Babyn Jar schlägt sich der Diskurs ebenso in der historischen Topographie nieder: Gebaut wird, obwohl Entscheidungsprozesse über die Zukunft des Ortes längst nicht abgeschlossen sind.

Die Anhänger der ukrainischen Initiative sind überzeugt: Das „russische Projekt“ sei ein Hebel im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Khrzhanovsky und die wichtigsten Stakeholder stünden für eine verzerrte Lesart der Geschichte von Babyn Jar und des Holocausts allgemein. In dieser Perspektive würden alle ukrainischen Zeitgenossen ohne Differenzierung als Kollaborateure und Antisemiten – oder im zeitgenössischen russischen Politjargon: als „Faschisten“ – dargestellt. Indem „Russland“ freie Hand im Bau eines Museums an diesem Gedenkort erteilt wurde, so die Befürchtung, wird dem Gedächtnis von Babyn Jar auch ein „russisches Geschichtsnarrativ“ aufgedrückt.

Wird der Gedächtnisraum von Babyn Jar zur Projektionsfläche der hybriden Kriegsführung Russlands gegen die Ukraine? Diese Annahme passt zumindest zur Analyse russischer Kriegsstrategien des in Kyiv lebenden Politikwissenschaftlers Andreas Umland. Yohanan Petrovsky-Shtern, ukrainischer Historiker, Nachkomme zweier Babyn Jar-Opfer, spricht gar von einer möglichen russischen Invasion Kyivs, „wie in Sewastopol“ – eine Bedrohung, die wenig abstrakt anmutet in Zeiten, in denen an der belarusischen und ostukrainischen Grenze die russische Armee in Kampfbereitschaft präsent ist. Die kleinste Provokation könne eine Besatzung Kyivs zur Folge haben. Im Gespräch mit Hromadske International appelliert der Bruder der Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die ihre mit Babyn Jar verknüpfte Familiengeschichte in ihren Roman Vielleicht Esther hat einfließen lassen, an intellektuelle, politische und öffentliche Figuren: „Sie müssen verstehen, dass Putin und sein Helfer Vladislav Surkov drei oder vier Oligarchen, die ihr Geld in BYHMC investieren, als Marionetten benutzen.“

 

Sinnkonflikt: Konfrontation von Erinnerungen und Ideologien

„Wie jedes beliebige bedeutende Phänomen hat Babyn Jar viele Bedeutungsebenen: räumlich, historisch, politisch, gesellschaftlich, ethisch“, so der Historiker Vitalyi Nachmanovich, einer der schärfsten Kritiker des privaten Projekts in der Online-Zeitschrift Istorichna Pravda. „Hier geht es nicht einfach um das Gedenken an die Opfer – dafür stehen bereits 30 Denkmäler dort. Hier geht es um den Bau eines großen Gedenkkomplexes, um die Erschaffung von Bedeutungen und Ideologien.“

Dass im Zuge des Umgangs mit der Erinnerung und Topographie Streitigkeiten auftreten könnten, hatte das Komitee „Babyn Jar“ früh erkannt – im Rahmen des Konzeptentwurfs zur Schaffung einer Schutzzone hatte es auch Wege vorgeschlagen, wie Dissonanzen umgangen werden könnten. Kurz vor dem 65. Jahresgedenken unterschrieb Präsident Viktor Jushchenko zwar die Verfügung zur Schaffung einer Schutzzone, doch der ausführliche Konzeptentwurf wurde ignoriert. Die fragmentierte Erinnerungslandschaft zu ordnen und die Bedeutung von Babyn Jar auszuhandeln – das müsse Aufgabe einer staatlichen Initiative sein, meint Nachmanovich. Die Frage sei, wer sich dieser Aufgabe annehme: „Der ukrainische Staat im Austausch mit ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der ukrainischen Gesellschaft oder ausländische Wohltäter unter Nachsehen des Staats und einer hilflosen Gesellschaft.“

Während das Geschichtsnarrativ im Putin-Russland jegliche sowjetische Kollaboration während der doppelten Besatzungsphase mit den Nazis ausschließt, stehen Fragen der Interpretation und Bewertung der Rolle der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) bzw. der Bandera-Fraktion (OUN-B) im Zentrum der nationalen Erinnerungspolitik. Neben dem alles „Sowjetische“ aus der ukrainischen Realität tilgen wollenden „Dekommunisierungs-Gesetz“ werde auch eine offizielle Affirmation der OUN – und eine Verzerrung der von dieser ultranationalen Bewegung vertretenen ethnozentrischen Werte – auf breiter gesellschaftlicher Ebene erfolgreich vorangetrieben, erklärt Andreas Umland.

Das illustriert der bereits angesprochene, an Babyn Jar angrenzende Straßenverlauf: Benannt nach einer antisemitischen Nationalistin, trifft die Olena-Teliha-Straße im Nordwesten der Stadt auf den Stepan Bandera-Prospekt, der vor der „Dekommunisierungskampagne“ noch Moskauer Prospekt hieß. Der OUN-Ideologe Bandera ist eine in russophonen wie pro-westlichen Kreisen in der Ukraine höchstumstrittene Figur, die Pogrome in Lviv maßgeblich mitorganisierte. Auch in der Denkmallandschaft wird seit 1992 an ukrainische Nationalisten erinnert: an „621 Teilnehmer des antinazistischen Untergunds der OUN“ – Olena Teliha wird auf der Inschrift gesondert hervorgehoben.

Ukrainische Vergangenheitsbewältigung

„Wir lernen erst jetzt aus dem schwarz-weißen Kaleidoskop auszutreten, wo alle Sowjets schlecht sind und alle Ukrainer gut. Da sehe ich eine Entwicklung. Aber bezüglich einiger Punkte – selbst für den symbolischen Raum – haben wir keine Antwort“, sagte Anton Drobovich, Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung, in einer Diskussionsrunde am Tag des 80. Jahresgedenkens. Wenn es um die „Gerechten der Weltnationen“, Kollaborationen ukrainischer Nationalisten mit den Nazis, zivile Denunziationen oder Analysen von Überlebensstrategien während der Besatzungszeit gehe, wolle man auf Regierungsebene keine eindeutige Position übernehmen: „Der Staat hat in Fragen des Gedenkens an Babyn Jar keine Subjektivität.“

Angesichts eines von Russland geführten hybriden Krieges ist aus ukrainischer Sicht die Formierung eines starken, nationalen Geschichtsnarrativs relevant. Zentraler Motor dieser erinnerungspolitischen Entwicklungen ist das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung, das hinter der staatlichen Initiative wie auch der Neueröffnung des Museums der Russischen Aggression steht.

Unterdessen hat sich die Kriegsrhetorik im Erinnerungsdiskurs längst festgesetzt – auf beiden Seiten. Josef Zissels, Vertreter der staatlichen Initiative und ehemaliger Dissident sowie Kopf der jüdisch-nationalistischen Bewegung, hebt die gesetzwidrige Funktion des russischen Projekts und seine Rolle im hybriden Krieg hervor. „Wenn der hybride Krieg mit dem Sieg der Ukraine zu Ende geht, werden das unsere Trophäen sein.“ Zissels hat jüngst ein Papier im Namen der ukrainischen Juden an Bundeskanzler Olaf Scholz initiiert, das entschlossenere Maßnahmen Deutschlands im Umgang mit Russland fordert und die historische Verantwortung Deutschlands der Ukraine gegenüber betont.

Was wird aus Babyn Jar?

Anfang 2021 hatte Bürgermeister Klitschko in der Kyiver Rada unter Abgeordneten für das russische Projekt und die Zuweisung dreier Grundstücke auf dem Gelände von Babyn Jar an die „russische“ Initiative mobilisiert; eine Abstimmung wurde mehrmals verschoben und endete in einem Skandal. Dann wurde ein Gesetzesentwurf verabschiedet, der die Unzulässigkeit der russischen Initiative und gleichzeitig die Bestätigung des staatlichen Konzeptes festlegt. Trotzdem sieht es schlecht aus für die lokale Initiative. Wie vergangenen Juni bekannt wurde, hatte der staatliche Eigentumsfond am 29. April die Möglichkeit einer Vermietung des einzigen erhaltenen historischen Gebäudes auf dem Gelände der denkmalgeschützten Zone „Babyn Jar“ prüfen lassen: der ehemaligen Kanzlei des jüdischen Luk’yanov-Friedhofs, die seit 2017 mit staatlichen und privaten Mitteln restauriert wird – dieses Gebäude wird im ukrainischen Konzept für die Unterbringung beider Museen angeführt. Josef Zissels zufolge stimmte Premierminister Denis Shmygal’ dem Vermietungsgesuch zu – und so befindet sich auch dieses Gebäude nun in der Einflusssphäre russischer Sponsoren. Anatolyi Podol’skyi, Co-Autor des Konzeptpapiers, kommentiert die Übergabe des Hauses in der Istorichna Pravda: „Das ist die Kapitulation. Als ukrainischer Historiker, als Mitglied der Arbeitsgruppe, die das staatliche Erinnerungskonzept für die Opfer von Babyn Jar geschaffen hat, glaube ich, dass diese Tatsache beweist: Die höchsten Staatsbeamten kapitulieren, arbeiten für das Putin-Regime. Jetzt kann man nicht mehr von historischen oder erinnerungsbezogenen Aspekten sprechen, sondern nur noch von politischen. Unser Staat sieht nun aus wie eine Serviceeinheit eines privaten prorussischen Projekts.“

Womit überzeugt die „russische Initiative“ ukrainische wie internationale Intellektuelle und Politikerinnen und Politiker, darunter Svetlana Alexievich, Patrick Desbois, Ronald Lauder (Präsident des World Jewish Congress), Natan Sharansky (israelischer Politiker mit sowjetisch-dissidentischer Vergangenheit), dem Aufsichtsrat beizutreten oder ausländische Regierungen – auch die deutsche ist im Gespräch –, das Projekt zu finanzieren? Warum richten sich Menschen aus Kultur- und Kunstwelt nicht entschiedener gegen ein Projektvorhaben an einem solch sensiblen Ort, bei dem schwer anzunehmen ist, dass es durch kremlnahe Stakeholder finanziert wird? Petrovsky-Shtern ist überzeugt: „Ignoranz, Prestige und Geld“ – besonders letzteres, schließlich wurden für das BYHMC rund 100 Millionen Dollar veranschlagt.

Loznitsas Dokumentation: “Babi Yar. Context”

Am Abend des 5. Oktobers sind auch Ilya Khrzhanovsky, künstlerischer Leiter des BYHMC, und Marina Abramovic, israelische Diplomatinnen und Diplomaten und internationale Politikerinnen und Politiker unter den geladenen Gästen. Dabei findet die offizielle Gedenkzeremonie mit Frank-Walter Steinmeier, dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog sowie dem albanischen Präsidenten Ilir Meta erst am Folgetag statt. Neben politischen Ansprachen umfasst das Veranstaltungsprogramm die Uraufführung des sakralen Chorwerks „In Memoriam“ des Kyiver Komponisten-Urgesteins Valentyn Sylvestrov sowie das Screening des Dokumentarfilms „Babi Yar. Context“. Vom BYHMC co-produziert, feiert Loznitsas erschütternde, mehrfach ausgezeichnete Doku ihre ukrainische Premiere; erstmals wird sie außerhalb von Filmfestivals gezeigt.

„Babi Yar. Context“ arbeitet sich an der Vorgeschichte, dem Massenmord selbst sowie der juristischen Aufarbeitung des Massakers von Babyn Jar ab. Während es sich beim Filmmaterial um teils erstmals gesichtetes Archivmaterial handelt, ist der Sound nachproduziert; die hohe Tonqualität verleiht den Bildern eine starke Fiktionalität – erschafft eine Hyper-Authentizität des Dokumentarischen. Dabei ist die Bildebene nicht nur dokumentarisch, sondern oftmals propagandistisch behaftet: Eine Reihe von Filmsequenzen nimmt die Täterperspektive ein bzw. bildet nationalsozialistisches Propagandamaterial ab, ohne es explizit als solches zu kennzeichnen; dieses Vorgehen wurde etwa von Vitalyi Nachmanovich kritisiert. Dass der aus Originalbildern und schlichten Text-Einblendungen zusammengesetzte Film das eigentliche Massaker nicht zeigt, kann auf den Umstand zurückgeführt werden, dass die Verbrechen selbst nicht dokumentiert wurden.

Dokumentation einer Topographie des Verbrechens

Der Film thematisiert den Kontext des zweitägigen Massakers von Babyn Jar: Am 29. September 1941 – es war Jom Kippur, nach jüdischer Tradition der Tag der Vergebung – setzte sich ein Menschenzug von zentraler Sammelstelle aus zu Fuß in Richtung Stadtrand in Bewegung. Anfangs verblieben die Menschen im Unklaren darüber, wohin sie geführt wurden – so machten etwa Gerüchte die Runde, dass man sie nach Palästina evakuieren würde. Was folgte war allerdings keine Evakuierung, sondern die größte einzelne Mord-Aktion während des Holocausts überhaupt. Bis zum Ende des 30. Septembers war ein Großteil der jüdischen Bevölkerung Kyivs vernichtet worden. Die Menschen wurden vom Rand der Schlucht direkt ins Massengrab geschossen; Babys warf man einfach so in die Tiefe – um Munition zu sparen. Ein anderes Vorgehen war die von Einsatzgruppenleiter Friedrich Jeckeln als solche bezeichnete „Sardinenmethode“ – man zwang die Menschen, sich nackt in einer Reihe auf die zuvor Erschossenen zu legen. Die folgenden Genickschüsse führten nicht immer zum sofortigen Tod, davon zeugen Berichte der wenigen Überlebenden. Gemordet wurde an diesem Ort auch nach diesem beispiellosen Massaker: Bis zum Ende der Besatzungszeit am 6. November 1943 erschossen die deutschen Besatzer unter Mithilfe lokaler Kollaborateure zwischen siebzig- und hunderttausend (manche Quellen nennen bis zu zweihunderttausend) Menschen: neben den Kyiver Jüdinnen und Juden fielen vermehrt auch andere Minderheiten wie Roma, psychisch Kranke, Rotarmisten, ukrainische Nationalisten, Gegner des NS-Regimes sowie einfache Zivilisten in das mörderische Raster der Nazis. Dabei handelte es sich hauptsächlich um eine der insgesamt vier auf dem Territorium der Sowjetunion operierenden Einsatzgruppen: Einheiten der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, die im Rahmen des Ostfeldzugs für die Verfolgung und Vernichtung der lokalen Bevölkerung, vor allem der jüdischen, zuständig waren. Auch das Sonderkommando 4a, die Polizei-Bataillone 45 und 303, das Polizei-Regiment „Russland Süd“ sowie Teile der OUN als Hilfspolizei waren in die Massenerschießungen involviert.

Die Nazis nutzten bei ihren Mordaktionen die Topographie des Ortes aus: Die etwa 2,5 km lange und 50 Meter tiefe Schlucht (die Angaben hierzu variieren) als Massengrab zu verwenden war in den Augen der Verbrecher praktisch und effizient, da so nicht erst Erde ausgehoben werden musste. Am südlichen Ende der Schlucht wurde im Mai 1942 das Konzentrationslager Syrecʼ eingerichtet. Nach ihrer Niederlage in Stalingrad versuchten die Deutschen, alle Spuren des Massengrabs zu vertuschen: Häftlinge aus dem Syrec’-Lager zwang man, die Leichen der Opfer auszugraben und auf Grabsteinen vom nahegelegenen jüdischen Friedhof zu verbrennen.

Erinnern vs. Vergessen: “Wieso ist das nicht gemacht worden?”

Nach einer kurzen Phase der offiziellen Aufarbeitung unmittelbar nach Kriegsende, im Zuge derer die wenigen Überlebenden der Massaker Zeugenberichte ablegten und deutsche Haupttäter zur Rechenschaft gezogen wurden, verwendete das sowjetische Regime bald große Anstrengungen darauf, die Erinnerungstopographie von Babyn Jar zu überschreiben. Nicht zuletzt seit der Anti-Kosmopolitismus-Kampagne in den späten 1940er Jahren wurden von staatlicher Seite Antisemitismus und Diskriminierung gegenüber Jüdinnen und Juden geschürt, ein verzerrter Blick auf den Holocaust etablierte sich.

Als der jiddische Dichter Dovid Hofshteyn 1944 versuchte, eine Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Massakers zu initiieren, wurde diese aus „Sorge“ vor antisemitischen Stimmungen in der Bevölkerung verboten. Ohne die jüdischen Opfer zu benennen, wollte die sowjetisch-ukrainische Regierung im März 1945 zusammen mit der kommunistischen Partei ein Denkmal in Babyn Jar aufstellen – die schwarze Granitpyramide wurde aufgrund vermeintlicher ästhetischer Bedenken nie verwirklicht. In den Nachkriegsjahren bis zu Stalins Tod 1953 kulminierten jene antisemitischen Stimmungen vonseiten politischer Führung und Bevölkerung. Nachdem es im September 1945 bereits zu Pogromen in Kyiv gekommen war, folgte am 12./13. August 1952 die „Nacht der ermordeten Dichter“: 13 jüdische Intellektuelle, darunter zahlreiche jiddische Dichter, fielen den stalinistischen Säuberungen zum Opfer – auch Hofshteyn.

Anstatt geschützt zu werden, wurde die Erinnerungslandschaft von Babyn Jar bebaut: ein stalinistischer Wohnkomplex, eine Straße, ein Park. 1959 fragte Viktor Nekrasov in der Literaturnaja Gazeta in seinem Artikel „Wieso ist das nicht gemacht worden?“ empört:

„Ist das denn möglich? Wem konnte das in den Sinn kommen – eine Schlucht von 30 Metern Tiefe zuzuschütten und am Ort der größten Tragödie herumzutollen und Fußball zu spielen? Nein, das darf man nicht zulassen! Wenn ein Mensch stirbt, beerdigt man ihn, und auf seinem Grab errichtet man ein Denkmal.“

In den Fünfzigern wurde Babyn Jar tatsächlich „zugeschüttet“ – der Abraum der benachbarten Ziegelfabrik in die Schlucht geleitet. Aufgrund einer fehlerhaften Bauweise kam es am 13. März 1961 nach starken Regenfällen zu einem Dammbruch, mit dem sich das Schlammwasser in umliegende Bezirke und über Wohnhäuser mitsamt ihrer Bewohnern ergoss. In der Kurenivka-Katastrophe kamen wohl weit über 145 Menschen ums Leben. Der Versuch, die Erinnerung einzuebnen, mündete in einer weiteren Tragödie.

In den Neunzigern überwiegt ein zersplitterter Erinnerungsdiskurs: Gleichwohl begann mit der Suche nach einem wiedererweckten nationalen Selbstbild in der unabhängigen Ukraine auch die Suche nach einem gemeinsamen Erinnerungskanon. Die Neujustierung der Vergangenheit ist in der Ukraine auch 30 Jahre nach Beginn des (wieder) „Sprechen-Könnens“ noch nicht abgeschlossen – erschwert durch das Erbe zweier totalitärer Systeme, deren Verbrechen einander überlagernde Topographien des Todes hinterlassen haben, „Bloodlands“, wie Historiker Timothy Snyder sie bezeichnet hat.

Der Historiker John-Paul Himka und die Historikerin Joanna Beata Michlic machen in ihrer Monographie Bringing the Dark Past to Light: The Reception of the Holocaust in Postcommunist Europe zwei Phasen der Erinnerungswiederherstellung im postkommunistischen Raum aus: Während die Phase nach 1991 von der Ausformung eines (ethno-) nationalen Diskurses in dichotomischer Opposition zum kommunistischen Regime geprägt sei, beschreiben sie die zweite Phase als „progressiv, pluralistisch, zivilgesellschaftlich“ – als bestrebt, die komplexe, schmerzhafte Erinnerung an den Holocaust anzuerkennen. Die Ukraine illustriere am eindrücklichsten den Fall eines postkommunistischen Landes, in dem die erste Phase, in der sich Erinnerungsnarrative den positiven, national- bzw. identitätspolitischen Erzählungen zu beugen haben, noch die Oberhand habe.

Erinnerungskulturen: Leerstellen deutscher Perspektiven

Erinnerungslandschaften und die mit ihnen verbundenen Erinnerungspraktiken formieren sich nicht von jetzt auf gleich; sie sind Ergebnis jahrelanger Debatten, auf zivilgesellschaftlicher und politischer Ebene. Auch die international oftmals gelobte deutsche Erinnerungslandschaft und -kultur erfordern immer wieder neu auszutragende Aushandlungsprozesse, wie jüngst der über Monate ausgefochtene „zweite Historikerstreit“ zeigte. Erinnerungskultur droht stets ins Formelhafte oder in ihr Gegenteil, das Vergessen, umzuschlagen: Hält der Satz „so etwas darf nie wieder passieren“ was er verspricht oder ist er zu einer leeren, millionenfach wiederholten Phrase geworden, die – gleich einem Mantra – jeder wahren Überzeugung beraubt ist? Wird nicht längst „Erinnerung als höchste Form des Vergessens“, wie es Eike Geisel formulierte, praktiziert?

Jedenfalls sorgte der Mitte Dezember 2021 gefällte und jüngst von Markus Söder gelobte Beschluss der Stadt Nürnberg, in der nie vollendeten Kongresshalle – einem Prunkbau des von Nazi-Architekt Speer entworfenen Reichsparteitagsgelädes – die Nürnberger Oper während der Renovierung des alten Opern-Gebäudes einziehen zu lassen und insgesamt zu transformieren in der internationalen Presse für Furore: Die Vorstellung, dass in Nürnberg bald Wagner im nationalsozialistischen Riesengebäude aufgeführt wird, gemahnt prompt an die von Hannah Arendt zur philosophischen Definition des Bösen herangezogene Gedankenlosigkeit. Die durch den Umbau der Kongresshalle unvermeidbare Zerstörung eines wichtigen historischen Erinnerungsortes – in seiner Dimension als Täterort – wurde begründet mit der typischen pragmatischen Alternativlosigkeit sowie dem Scheinargument, etwas „für die Kultur“ tun zu wollen. Das ist, wieder mit Arendt gesprochen, banal-böse und gedankenlos. Neben diesen besorgniserregenden Entwicklungen im Kontext der innerdeutschen Erinnerungslandschaft wird deutlich, dass hierzulande zugleich Interesse und Verständnis für die Komplexität und Spezifik des Holocausts in den „Bloodlands“ fehlt, was mit einer allgemeinen Ignoranz gegenüber Osteuropa verbunden sein mag. Frank-Walter Steinmeier sprach diesen Aspekt in seiner Rede bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Massenmorde von Babyn Jar am 6. Oktober 2021 explizit an:

„Wer in meinem Land, in Deutschland, weiß heute von diesem Holocaust durch Kugeln? Wer kennt sie, diese mit Blut getränkten Namen? All diese Orte haben keinen angemessenen Ort in unserer Erinnerung. Die Ukraine ist auf unserer Landkarte der Erinnerung nur viel zu blass, viel zu schemenhaft verzeichnet.“

Es hat lange gedauert, bis der in Babyn Jar ermordeten Menschen angemessen öffentlich gedacht werden durfte. Die kollektive traumatische Erfahrung der sowjetischen Gesellschaft ließ auch jede Unterscheidung der einzelnen Opfergruppen verschwimmen und unsichtbar werden; doch das Schicksal der jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die der nationalsozialistischen Ideologie zufolge ausgelöscht werden sollten, konnte nicht einfach übergangen – überbaut, überschrieben – werden.

Den Opfern ein würdevolles Denkmal zu setzen, das nationale, religiöse und politische Gruppierungen zwar unterscheiden, aber gleichberechtigt nebeneinanderstehend respektieren würde; das den Symbolcharakter des Ortes als lokales wie universelles Mahnmal zu tragen imstande wäre; einen Museumsbau zu errichten, der als staatliche Bildungs- und Forschungseinrichtung die Geschichte des Ortes vermitteln würde – diese Schritte in mehrheitlicher Übereinkunft zu gehen, hat sich bis heute als quasi unmöglich erwiesen. Stattdessen entzünden sich an den Fragen zur Schaffung eines Erinnerungskomplexes geschichts- und nationalpolitische Diskussionen, die in Zeiten des heißen Kriegskonflikts mit Russland auf eine geopolitische Ebene katapultiert werden.

Die komplexe Erinnerungsdebatte zeigt: Dort, wo Geschichte von zentraler Bedeutung für die Stärkung nationaler Selbstidentifikation und Abgrenzung ist, wiegt auch der Umgang mit dem Holocaust schwer – das ist heute in der Ukraine zu beobachten. Momentan scheint die aufgerissene Erde der laufenden Baustelle jedoch sinnbildlich vor allem eines offenzulegen: dass in der komplexen, politisch aufgeladenen Debatte um die Zukunft von Babyn Jar alles andere als Einigkeit herrscht.

Baustelle (Foto: Elisabeth Bauer)