Warum der Merkur bloggt

Seit mehr als sechs Jahrzehnten bietet der Merkur ein publizistisches Forum für Beiträge zur kulturellen, politischen, intellektuellen Diskussion auf höchstem Niveau. Die Zeitschrift lebt wesentlich von der Qualität ihrer Essays, Kritiken und literarischen Texte, die in aller Regel für sich stehen können und sollen. Sie ist dabei allerdings auch ein weitgehend monologisches Medium: Auch wenn immer wieder einzelne Beiträge aufeinander Bezug nehmen, so liegen doch meist Monate zwischen These und Replik. Es gibt zudem – sieht man von den monothematischen jährlichen Doppelheften einmal ab – keine Editorials, in denen Konzept und Inhalt der Hefte kommentiert oder moderiert würden. Vor allem aber gibt es keinerlei Raum für Leserreaktionen, es sei denn als Heftbeiträge eigenen Rechts.

Mit diesem Blog ändert sich das – der Merkur tritt in den Dialog, öffnet sich für Kommentare und Kritik, sucht das Gespräch mit alten und neuen Leserinnen und Lesern. Daran werden sich, je nach Anlass, immer wieder auch unsere Autoren und Autorinnen beteiligen. Der Blog soll und kann das gedruckte Heft wohlgemerkt nicht ersetzen. Sofern es uns gelingt, damit einen Ort der gemeinsamen Reflexion zu schaffen, verhält er sich idealerweise komplementär dazu.

In mindestens dreierlei Hinsicht lassen sich die spezifischen Möglichkeiten dieses Mediums dafür auch über die Funktion einer reinen Diskussionsplattform hinaus fruchtbar machen. Zum einen, indem es erlaubt, den historischen Resonanzraum aktueller Debatten massiv zu erweitern. Ende des Jahres wird das komplette Archiv der seit 1947 im Heft erschienenen Texte digital zugänglich sein – wir haben im Lauf des Jahres in der kleinen Reihe Aus dem Archiv bereits darauf hingewiesen. Im Blog werden wir den Blick ins Archiv zur festen Einrichtung machen, sowohl um Aktuelles historisch zu vertiefen als auch, um die äußerst reiche Geschichte des Merkur in Porträts seiner Autorinnen und Autoren sichtbar zu machen.

Zweitens eröffnet ein Blog die Möglichkeit, schneller als bisher auf Aktuelles zu reagieren. Bedingt durch den Produktionsvorlauf liegen beim Merkur zwischen Redaktionsschluss und Erscheinen mindestens sechs Wochen. Das ist eine Stärke, weil dieser Abstand zur Gegenwart es notwendig macht, dass jeder Text über die Stunde und den Tag hinaus Gültigkeit sucht. Manchmal ist das aber auch ein Handicap, wenn etwa die Wirklichkeit durch unvorhersehbare Entwicklungen gegen ihre Analyse interveniert. Gelegentlich werden wir unsere Autoren deshalb bitten, solche Veränderungen in der Lage der Dinge im Blog zu kommentieren. Zugleich soll der Blog aber auch die Gelegenheit geben, für den Tag und die Stunde zu schreiben: Der Merkur will sicher nicht in Konkurrenz zu den Tageszeitungen treten, sich von Fall zu Fall aber doch zu Debatten und Tagesereignissen äußern, die eines Kommentars bedürftig erscheinen.

Und drittens hat sich der Textumfang im Merkur über die Jahrzehnte auf eine durchschnittliche Länge zwischen 20.000 und 30.000 Zeichen eingespielt. In der Geschichte der Zeitschrift war das nicht immer so. Vor allem in den ersten Jahren nach Kriegsende fanden sich dort regelmäßig auch deutlich kürzere Nachrichten, Notizen, Chroniken und Marginalien. Auf lange Sicht konnte ein Monatsheft bei dieser Form der Berichterstattung allerdings nicht mit dem schnelleren Erscheinungsrhythmus der Tages- und Wochenzeitungen mithalten. Das führte zwangsläufig zur zunehmenden Konzentration auf längere und anspruchsvollere Textformate, die den Autoren dramaturgisch und inhaltlich höchste Disziplin abverlangen und das Heft so von publizistischen Konkurrenzangeboten deutlich abgrenzen.

Ein Blog eröffnet nun aber auch hier andere Optionen. Er bietet Raum für schnellere, kürzere Texte – von Herausgeber und Redakteur, aber auch von Gastautorinnen und -autoren: Robin Detjes Buchmessen-Glosse wird nicht der letzte Beitrag seiner Art bleiben. Wir werden mit Textformen und Kommentaren experimentieren, ebenso mit Ergänzungen zu Heftinhalten – beispielhaft dafür zum Start das Interview mit dem Schriftsteller Teju Cole, aus dessen Roman Open City wir im August ein Kapitel abgedruckt hatten. Über kurz oder lang wird es auch multimediale Formate, etwa Video-Interviews geben. Wir hoffen auf rege Beteiligung der Leserinnen und Leser, auf Gastbeiträge, auf Kommentare und Vorschläge. Die Kommentare werden moderiert, Kritisches wird dabei gewiss nicht zensiert, Verstöße gegen die Regeln des zivilisierten Gesprächs lassen wir allerdings nicht zu.