Blogroll: literaturkritik.de

Das Rezensionsportal literaturkritik.de, das an den Lehrstuhl von Professor Thomas Anz an der Universität Marburg agebunden ist, ist eines der ältesten literaturkritischen Angebote im deutschsprachigen Internet. In großer Zahl und Breite und auf hohem Niveau werden hier literarische und kulturwissenschaftliche Neuerscheinungen besprochen. Die Texte erscheinen in monatlichen Ausgaben, die in der Regel um einen Themenschwerpunkt geordnet sind; von Anfang an gibt es die Texte des Onlinemagazins auch im Printformat. Der Literaturwissenschaftler und -kritiker Jan Süselbeck, Redaktionsleiter von literaturkritik.de, hat unsere Fragen per E-Mail beantwortet.

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Literaturkritik.de existiert seit dreizehn Jahren und war damit ein Pionier im Internet. Wie hat sich Ihrer Wahrnehmung nach das Umfeld verändert – und das heißt: das Printumfeld der Feuilletons, aber auch das Netzumfeld, in dem sich inzwischen viele spezialisierte Rezensionsorgane tummeln, vom Krimibereich bis ins rein Fachakademische?

In den letzten Jahren sind viele neue Internet-Foren entstanden, die Kritiken publizieren. Manche haben ihren Betrieb aber wieder eingestellt. Die Berliner Literaturkritik etwa erscheint nicht mehr und existiert jetzt nur noch als Text-Archiv. Viele unserer AutorInnen schrieben und schreiben parallel für solche Online-Zeitschriften. Mittlerweile gibt es z. B. sogar eine österreichische „Schwester“ von literaturkritik.de: literaturkritik.at.

Doch auch anders konzipierte Angebote wie perlentaucher.de sind aus dem Alltag nicht nur von Zeitungslesern, sondern vor allem auch von professionellen Journalisten, Literaturkritikern und Redakteuren kaum noch wegzudenken. Nicht zuletzt aus Gründen der Aufmerksamkeitserzeugung via Vernetzung: So weist der Medienticker bei perlentaucher.de z. B. regelmäßig auf ausgewählte Essays und Kritiken hin, die im Laufe der Woche bei literaturkritik.de erscheinen. Auch zu literaturkritischen Portalen wie Glanz & Elend oder zu verschiedenen Blogs bestehen gelegentliche Kontakte. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Wir befinden uns mit literaturkritik.de also  in einem äußerst dynamischen Umfeld von Online-Publikationsforen, deren jeweilige Spezialisierung ernsthafte Konkurrenzen allerdings meist gar nicht erst aufkommen lässt. Das literaturwissenschaftliche Rezensionsportal aus München etwa, IASL online, publiziert in eher loser Folge akribisch verfasste, mit Fußnoten versehene und dem akademischen Duktus folgende Rezensionen, deren komplette Lektüre am Bildschirm eher schwerfällt. Zwar kommt es vor, dass wir in Schwerpunkt-Rubriken unserer monatlich erscheinenden Ausgaben längere Aufsätze mit Fußnoten bringen, aber im Großen und Ganzen orientieren wir uns doch eher am Stil der Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen, also der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der taz oder der Jungle World.

Das heißt: Wir wünschen uns deutlich und allgemeinverständlich formulierte, klar strukturierte und gerne auch einmal polemisch argumentierende Beiträge im besten Sinne literaturkritischen Schreibens – was übrigens manche Literaturwissenschaftler verstört oder sogar verärgert, da sie solche Formen der Kritik oft gar nicht gewöhnt sind und bei uns dann plötzlich auf Verrisse ihrer Bücher stoßen, die sie im Ton für verfehlt halten.

Sie sind exzellente Kenner der Geschichte der Literaturkritik (nicht nur) in Deutschland: Liegt man falsch, wenn man da im Lauf der letzten Jahrzehnte einen Bedeutungsverlust der Kritik, auch ein Verschwinden der Grundsatzdebatten und der weithin bekannten prägenden Kritiker konstatiert? Und wenn man nicht falsch liegt: Hat irgendetwas davon mit dem Aufkommen des Netzes zu tun? Oder kompensiert das Netz das sogar eher?

Bei allem gebotenen Misstrauen gegenüber der möglichen Käuflichkeit von Gefälligkeitsrezensionen und trotz mancher Anzeichen eines drohenden Herabsinkens der Literaturkritik zum öden, verkaufsfördernden PR-Gerede bleiben wir da nach wie vor optimistisch. Tumultuöse Debatten wie die um Christian Krachts Roman Imperium oder Günter Grass’ Gedicht Was gesagt werden muss zu Beginn dieses Jahres, die wir im Übrigen in unserer Zeitschrift schnell und zeitnah kommentiert und analysiert haben, deuten jedenfalls ganz und gar nicht darauf hin, dass solche literaturkritischen „Grundsatzdebatten“ einfach verschwinden. Im Gegenteil: Fast hat es sogar den Anschein, als würden die schnellen Verbreitungsformen entsprechender „Skandale“ im Internet das Entstehen wochenlanger Debatten sogar befeuern. Gab es doch in den letzten Jahren mehrere solcher aufschlussreichen Kontroversen, die über die Literaturkritik schneller denn je auch in die Literaturwissenschaft hinein getragen wurden und dort weitere aufschlussreiche Folgedebatten auslösten – man denke dabei etwa nur an die Plagiatsdiskussionen um Helene Hegemanns Debüt-Roman Axolotl Roadkill oder Karl-Theodor zu Guttenbergs „Dissertation“.

Und hat sich die Wahrnehmung von literaturkritik.de geändert – oder haben Sie den Eindruck, dass die etablierten Medien (Feuilletons, Zeitschriften) es nach wie vor nicht ganz ernst nehmen? (Obwohl man, wie ich hinzufügen würde, inzwischen fast mehr kundige und fachlich versierte Rezensionen dort findet als in den traditionellen Organen? Und vor allem: ein viel breiteres Spektrum.)

Selbst unter Literaturwissenschaftlern setzt sich mittlerweile immer mehr die schlichte Erkenntnis durch, dass eine Rezension des eigenen Buches in Arbitrium sicher erfreulich ist, diese aber nur von einer Handvoll Leuten und mit meist großer Verzögerung gelesen wird, wenn überhaupt. Es lässt sich also nicht nur durch die Wahrnehmung in renommierten (Fach-)Zeitschriften symbolisches Kapital akkumulieren, sondern vor allem durch Aufmerksamkeit. Und diese Aufmerksamkeit richtet sich in unserer Zeit sogar noch mehr auf das Internet als auf das Fernsehen: Fachzeitschriften wie Germanistik und Arbitrium können in dieser Hinsicht mit Facebook und Twitter, über die unsere Zeitschrift z. B. auch ihre Rezensionen zusätzlich bekannt macht, schlicht kaum mithalten.

Gerade unter GermanistInnen konnte man in den letzten Jahren immer wieder einmal kulturpessimistische bis trotzige Töne vernehmen: Der Publikationsraum des Internets wurde als unbeständiger und dubioser Nebenschauplatz abgetan oder sogar gleich mit einem Hort der Verdummung gleichgesetzt. Manche glauben sogar nach wie vor, es ei unnötig, die eigene Arbeit und das eigene Profil auf einer regelmäßig aktualisierten Seite im Netz zu präsentieren. Bezeichnenderweise handelt es sich bei diesen Leuten aber oft um solche, die bereits eine Lebenszeitstelle an der Uni ergattert haben und sich damit vorgenommen zu haben scheinen, die Hände endgültig in den Schoß zu legen. Es handelt sich zudem meist um Akademiker, die es noch dazu für gut halten, lediglich mit ihnen genehm erscheinenden „Eliten“ in Kontakt zu bleiben und die zudem die Literaturkritik für etwas halten, über das der Literaturwissenschaftler nur die Nase rümpfen könne. Kurzum: Oft sind das einfach Leute, die sich ohnehin kaum noch mit Forschungs-, Tagungs- und Sammelband-Projekten hervortun oder gleich gar nichts mehr publizieren.

Alle aktiven und progressiv denkenden AutorInnen von Rezensionen, Artikeln und Aufsätzen begreifen dagegen früher oder später, dass online stehende Texte welcher Art auch immer mit einem Mausklick erreich- und lesbar sind, jederzeit. Und wenn solche Beiträge in einer Zeitschrift wie literaturkritik.de erschienen sind, dann bleiben sie unter dem gleichen Link bis auf Weiteres weltweit verfügbar, da sie in ein gratis abrufbares Archiv von mittlerweile weit über 10.000 Artikeln und Rezensionen eingehen, das überaus rege konsultiert wird. Bei literaturkritik.de erschienene Rezensionen tauchen zudem bei Google meist sehr weit oben auf der ersten Seite der Suchergebnisse auf – übrigens zum Leidwesen von AutorInnen, die sich mit bei uns erschienenen Verrissen ihrer Bücher konfrontiert sehen. Darauf können wir als unabhängige Zeitschrift aber keine Rücksicht nehmen und lassen uns auch von Drohungen nicht beeindrucken.

Die etablierten Medien wissen ohnehin schon lange um die große Bedeutung  ihrer Sichtbarkeit im Internet, auch wenn sie teils sehr unterschiedliche Reaktionsweisen darauf favorisieren. Überheblich begegnet uns von dort aus eigentlich kaum jemand. Manchmal erstaunt uns das positive Feedback selbst, weil es uns bei unserer täglichen Arbeit wirklich viel Mühe und Arbeit kostet, mit unzähligen technischen und redaktionellen Problemen umzugehen, die immer wieder neue Fehler generieren können. Doch egal, mit wem wir im Literaturbetrieb reden – ob das die Mitarbeiter angesehener Verlage sind oder Journalistenkollegen aus der Presse, egal ob es bei uns besprochene Autorinnen und Autoren oder unsere Leserinnen und Leser sind: Ernste Beschwerden hören wir zu unserer großen Freude wirklich selten. Unsere Zeitschrift ist nach all den Jahren  sehr bekannt geworden, und man kennt und liest uns nicht nur in Deutschland, sondern tatsächlich in der ganzen Welt – und besonders an den Unis bzw. in literaturvermittelnden Institutionen aller Art. Das verraten uns nicht nur die Leserbriefe und Mails aus den unterschiedlichsten Ländern, sondern auch unsere schwarz auf weiß nachlesbaren Klick-Statistiken.

Wie läuft die Redaktonsarbeit – also die Auswahl der rezensierten Bücher, die Planung von Schwerpunkten, das Redigieren der Texte etc.? Es gibt, wenn ich recht sehe, niemanden, der ausschließlich und hauptamtlich für literaturkritik.de zuständig wäre. Gibt es da ein Team, das dezentral arbeitet? Oder machen Sie das alles ganz unvirtuell von Marburg aus?

Unsere Redaktion befindet sich derzeit noch immer in zwei kleinen, überaus bescheidenen, um nicht zu sagen unscheinbaren Büros der Philipps-Universität Marburg. Unsere Redaktionssitzungen halten wir in der Regel im Büro von Thomas Anz ab, zwischen hohen Stapeln neu eingegangener Bücher. Viele, denen wir dies erzählen, sind erstaunt, dass die Zeitschrift im Grunde nur von drei Leuten gemacht wird, wenn man die ständig wechselnden PraktikantInnen und wenigen technischen Hilfskräfte einmal außen vor lässt: Thomas Anz als Herausgeber, Jan Süselbeck als Redaktionsleiter und André Schwarz als Koordinator der Text-Aquise und -Annahme bzw. des Erscheinens unserer ebenfalls existierenden Druckausgabe et cetera.

In der Tat ist eine solche Zeitschrift für alle Beteiligten ein absoluter Fulltime-Job, wobei man als Professor oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni ja  noch unzählige andere Aufgaben zu erledigen hat, unter anderem in der Lehre und in verschiedenen Gremien – von den vielen anderen (Buch-)Publikationen und Projekten einmal ganz abgesehen, die man in eigener Sache vorantreibt, um sich als Wissenschaftler und Publizist auszuweisen und eine Zukunft im Fach zu haben. Deswegen arbeiten wir im Grunde Tag und Nacht, auch von zu Hause aus und selbstverständlich auch am Wochenende. Jeder muss für die Kollegen einspringen können, wenn jemand etwa durch eine Tagungsreise verhindert oder erkrankt ist, hier ist optimales Teamwork gefragt. Semesterferien gibt es für die Redaktion von literaturkritik.de schon gar nicht, denn unsere Zeitschrift erscheint ja jeden Monat, mit jeweils 80-100 Beiträgen, also einem Druckumfang von ca. 400 Seiten im Schnitt: Mit festen Arbeitszeiten ist eine solche großangelegte Zeitschrift wie literaturkritik.de mit so wenigen Mitarbeitern ganz einfach nicht professionell machbar. Uns motiviert diese besondere Aufgabe aber trotzdem immer wieder neu, weil man so viel Feedback bekommt und täglich erlebt, dass man damit wirklich wahrgenommen wird. Zum Beispiel auch vom Merkur.

Im Prinzip sieht unsere Arbeit wohl kaum viel anders aus als die in großen Redaktionen auch: Die Verlagskataloge müssen frühzeitig durchgearbeitet und die Rezensionsexemplare bestellt werden; Themenschwerpunkte kommender Ausgaben müssen, etwa nach anstehenden Jubiläen, deren kommendes Echo in der Presse am Aufkommen betreffender Publikationen in den Katalogen schon ablesbar ist, möglichst Monate im Voraus geplant werden. Dazu braucht man renommierte und gut schreibende Spezialisten. Auch Pannen muss man dabei vorausschauend mit einplanen: Autoren können gerne ausgerechnet dann schon einmal wieder absagen, wenn der Erscheinungstermin der kommenden Ausgabe unmittelbar bevorsteht.

Es ist uns daher ebenso eine Selbstverständlichkeit, unter pausenlosem Zeitdruck zu arbeiten. Zur Not stellt man schon einmal einen erst um 0:30 Uhr nachts fertig redigierten Text noch vom heimischen Schreibtisch aus schnell online oder trägt dort letzte nötige Korrekturen nach, bevor man sich die Zähne putzt. Die Redigierarbeit in der Redaktion wiederum folgt einem ausgeklügelten System, in das in einer ersten Korrekturphase auch die PraktikantInnen eingebunden werden, deren Hilfe für uns aufgrund des großen Umfangs unseres Textaufkommens wichtig und verdienstvoll ist und bleibt.

Sie sind an der Schnittstelle von Universität und Kulturbetrieb. Was ist Ihr Eindruck, wie sich die Verhältnisse zwischen beidem verändern? Interessieren sich die Studierenden noch für das, was in den „alten“ Medien, also Feuilletons, Kulturzeitschriften passiert? Führt für die Geisteswissenschaftler/innen noch ein Weg in die traditionellen Kulturbetriebsmedien, also Zeitungen, Verlage etc. ?

Dass sich Studierende  in Zeiten des Bologna-Prozesses und des Internets noch weiter für die „alten“ Medien interessieren, daran arbeiten wir in Marburg als Lehrende und auch als redaktionelle Mentoren unserer PraktikantInnen ab dem ersten Semester mit großer Leidenschaft. Es ist tatsächlich nicht mehr unbedingt so, dass sich die breite Masse der Studienanfänger, die an die Uni kommt, noch ohne Weiteres für das begeistert, was in den Zeitungen steht. Oftmals wissen sie nicht einmal, wie die wichtigsten Tages- und Wochenzeitungen heißen und kennen bestenfalls irgendein Lokalblatt, das ihre Eltern abonniert haben. Mit anderen Worten: Viele von Ihnen haben noch nie mit vollem Bewusstsein eine Rezension gelesen, wenn sie an die Uni kommen.

Verallgemeinern kann man diese Beobachtung dennoch nicht. Und immer wieder gelingt es uns, bereits in frühen Semestern Kontakte zu Zeitungen herzustellen, Praktika in Redaktionen oder Verlagen zu vermitteln etc. Wenn man beispielsweise miterleben darf, dass einer der Studierenden nach dem Besuch der eigenen Literaturkritik-Lehrveranstaltung einen Artikel im überregionalen Feuilleton unterbringt, dann freut man sich darüber natürlich als Dozent sehr mit.

Und zum Schluss: Haben Sie eine Vorstellung, wie sich literaturkritik.de entwickeln kann/sollte/wird? Es gibt seit diesem Jahr zum Beispiel auch Filmkritiken – planen Sie vielleicht weitere Ergänzungen dieser Art?

Wir denken pausenlos über solche möglichen Neuerungen nach, arbeiten ständig an unseren Konzepten weiter. Unser Wunsch wäre es natürlich, ganz einfach damit weitermachen zu können. Allerdings sind dafür längerfristige Perspektiven für alle beteiligten Mitarbeiter nötig. Ob es die Universität Marburg sein wird, die uns diese Sicherheiten weiterhin wird bieten können, ist z. B. derzeit vollkommen unklar. Denkbar sind allerdings auch andere Modelle – etwa ein Umzug von literaturkritik.de an eine andere Universität, die sich für unser Konzept interessiert. Theoretisch könnten wir die Zeitschrift von überall her machen: Wir brauchen dazu nur zwei, drei Büroräume und einen Internetanschluss.

Die Fragen stellte Ekkehard Knörer