Sorgfaltspflichten. Wenn Frank Schirrmacher einen Bestseller schreibt

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Text wird in der Printfassung im Märzheft des Merkur erscheinen. Wir machen ihn hier vorab zugänglich – und vor allem auch kommentierbar. 

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In diesen Tagen ist Frank Schirrmachers neuer Bestseller erschienen. Ego. Das Spiel des Lebens heißt er, und wovon auch immer er handeln mag, er wird monatelang auf der Liste des Spiegel stehen, in allen Zeitungen mit ernster Gebärde rezensiert werden, eine wichtige und längst überfällige Debatte anfachen oder lostreten, und Alexander Kluge wird sich seinen Inhalt in einem Selbstgespräch mit dem Autor zu eigen machen. Von diesem Buch kann hier nicht weiter die Rede sein; trotzdem soll Ihre Kaufentscheidung massiv und nachhaltig beeinflusst werden.

In Schirrmachers letztem Bestseller, Payback, ging es um den Computer und das Internet. Zwei Rezensenten fanden einen Fehler in der vierten Zeile der ersten Seite. »Tweeds« stand da, gemeint war aber »Tweets«. Wer eine Kurznachricht, die über den Internetdienst »Twitter« verbreitet wird, mit einem Anzugstoff verwechselt, gaben sie zu bedenken, werde den Nerds wenig zu sagen haben. Das ist wohl wahr. Wenn man trotzdem weiter liest, findet man sechs Zeilen später diese Worte: Würde ich morgen vom Internet oder Computer geschieden werden, wäre das nicht eine Trennung von dem Provider, sondern es wäre das Ende einer sozialen Beziehung, die (!) mich tief verstören würde. (13) So steht es im zweiten Absatz der ersten Seite der ersten Auflage, so steht es auch noch in der zweiten, in der dritten und in der vierten Auflage und im Taschenbuch. Und selbst als Schirrmacher in einem Tonstudio saß, um seinen Text für die Hörbuchausgabe vorzulesen, fiel ihm nichts auf. Ihm gegenüber saß ein Regisseur, dem auch nichts auffiel.

Und so geht es immer weiter, über 240 Seiten bis zu den Anmerkungen und dem Personenregister. Ständig muss der Leser schlauer sein als der Text, wenn er ihn verstehen will. Hier muss ein Komma, dort ein Wort eingefügt oder gestrichen werden, hier muss man den Numerus, dort das Tempus oder den Modus eines Verbs korrigieren, bis man meint, man habe es nicht mit dem Kulturkopf der FAZ zu tun, sondern mit einem Praktikanten von Kicker online. Viele Sätze muss man zwei- oder dreimal lesen, bevor man den Fehler entdeckt und beheben kann. Dann erst stellt ein Sinn sich ein, von dem man aber nie mit Gewissheit annehmen darf, er treffe das, was der Autor sagen wollte. Das Internet fresse unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit, behauptet Schirrmacher. Bei der Lektüre seines Buches denkt man eher, es sei die Verkommenheit der hiesigen Verlagsbranche.

Da eröffnen sich Raum (38), da nimmt die Informationstechnologien uns Zeit (38). Es fällt aber vielen von uns sehr schwer, uns daran zu erinnern, was wir vor zwanzig Minuten an diesem Computer getan haben (67), auch wenn es schon reichte, dass sie sich daran erinnerten, was sie getan haben. Diese Präsentationen musste eine falsche Vorstellung erzeugen (84), eine Gruppe von Forschern wollten wissen (95), deutlich haben das eine Reihe von Bloggern ausgesprochen (125), Web-Designer setzen Reize, die der Verführungskraft entspricht (165), eine Gruppe von Forschern haben sich gefragt (175): Könnte es sein, dass die Automatismen den Menschen den Blick verstellt (175)? Die zweite Gruppe, denen die Objekte präsentiert wurden, hatten unbewusst verinnerlicht (179), aber die Gruppe, denen die Fakten vorgestellt wurden, fand kreative Lösungswege (180). Eine Gruppe bekam Informationen – in der Hoffnung, ihnen damit das Gefühl zu geben, durch die Informationen das Gefühl von Kontrolle zu bekommen (186). Die Art, wie die Logik unseres Hirns und unser zentrales Nervensystem statistisch funktionieren, entsprechen einem Wirtschaftssystem (204).

Schirrmacher berichtet von Japanern, die systematisch, also absichtlich und konsequent, ihre U-Bahn-Station verpassen (15), er fordert den Leser auf, lang genug auf einen Buchstaben zu schauen (173); es werden zu viel Kekse gegessen (172), es gibt einen Schalter, der, wenn man ihn drückt, seinen immer besser perfektionierten »Informations-Duft« verströmt (165), es gibt eine Denkoperation, die genau nicht in Rezepten bestand (187), eine Kombination von menschlicher Intelligenz und eines fremden digitalen Gedächtnisses (195) und selbstverständlich auch einen Kontrollverlust über Informationen (58) und das Prüfungsmaterial für eine der wichtigsten Examensprüfungen (180); statt unendlich vieler Informationen und Schritte gibt es unendliche Informationen (42) und unendliche Schritte (178); jemandem wird durch einen Windhauch die Suchrichtung erleichtert (136), und es kommen Nachrichten über Telefon oder die Haustür (161).

Die Freunde des Doppelpunkts und des Gedankenstrichs beschenkt Schirrmachers Satzbau reich, die Liebhaber vollständiger Perioden enttäuscht er hundertfach. Oft genügt ein einziges Wort, eine Nominalgruppe oder ein Nebensatz, um den Raum zwischen zwei Punkten auszufüllen. Was in der Möglichkeit startet, wird manchmal zu einer Notlandung in der Wirklichkeit gezwungen: Würde man sie am Montag bitten, einen Film für den Mittwoch auszusuchen, sind sie nicht imstande, ihre vorauseilende Erschöpfung zu relativieren. (168) Immer wieder sollen metaphorische Ausdrücke buchstäblich verstanden werden, und es hat den Anschein, dass in Schirrmachers Gedankenwelt nichts vorkommt oder geschieht, was nicht auch zunehmend vorkommen oder geschehen könnte. Die Artikel werden, wenn sie nicht sowieso fehlen, vollkommen sinnlos über die Seiten verstreut: Er hat jetzt erst Verlage und Zeitungen, Fernsehen und die Musikindustrie betroffen (19), also mehrere Verlage und Zeitungen, eine unbestimmte Menge Fernsehen und die gesamte Musikindustrie.

Immerhin wird man für all die Hässlichkeit hin und wieder entschädigt mit Sätzen von geradezu rührender Blödheit: Menschen haben ein Bedürfnis danach, dass Dinge so und nicht anders sein können. (180) Wir wissen nicht mehr, was Lernen und Lehren bedeutet. Das zeigt sich dort, wo über unsere Zukunft entschieden wird: im Bereich des Lernens und der Bildung. (214) Unter dem Eindruck einer computerisierten Welt wird die ganze Welt zum vorformulierten Rezept. (175) Auf die letzte Frage lautet die Antwort eindeutig: Ja. Und wie lautet diese letzte Frage? Man möchte es lieber nicht glauben, aber sie lautet tatsächlich: Nehmen wir den maschinenzentrierten Blick auf die Welt ein oder den menschenorientierten Blick? (80)

Angesichts dieses sprachlichen Schrotthaufens möchte man sich natürlich sehr gern von Schirrmacher erklären lassen, wie Fehler in Texten aufzufinden sind. Es gibt zwei häufige Arten von Wortfehlern. Bei der einen Art entsteht ein Wort, das nicht existiert, Sanne statt Sonne, Mont statt Mond. Menschen können solche Fehler mit neunzigprozentiger Zuverlässigkeit erkennen, Computer sind zu hundert Prozent zuverlässig. (44) Menschen erkennen in diesem Buch ungefähr 250 Fehler. Folglich kann kein Mensch es gelesen haben, bevor es gedruckt wurde. Computer erkennen Max-Planck-Institus (40), hervorbingen (111), exisitiert (125), Hygenie (171), wiederzum (178), müsssen (188) und auzustatten (211). Mont erkennen sie nicht, denn das französische Wort für »Berg« kommt zuweilen auch in deutschen Texten vor, in Goethes Briefen allein zwanzigmal.

Dass irgendjemand an der Aufgabe scheitern könnte, beliebig viele Buchstaben so zu kombinieren, dass dabei kein Wort entsteht, hat man nicht erwartet. (Wer Schirrmacher zugute halten will, er sei immerhin mit Sanne erfolgreich gewesen, lese einmal das Grimmsche Märchen vom Fundevogel.) Und dass jemand es wagt, sich über die Vorteile der automatischen Orthografieprüfung auszulassen, ohne von ihr Gebrauch zu machen, ist eine sehr unfreundliche Botschaft. Sie lautet ungefähr so: »Lieber Leser, es ist mir schnuppe, was für einen Dreck ich dir vorsetze, denn ich weiß ja, dass du ihn fressen wirst.« Diese Widmung wird auch vom Verlag unterschrieben, der mit einem solchen Buch wohl eine Million machen möchte, sich aber nicht bemüßigt fühlt, 300 Euro für eine anständige Textkorrektur auszugeben.

»Eine neue Generation ist ein neues Hirn«, hat Gottfried Benn gesagt, und manchmal baut sie auch neues (!). Wie die beiden Jungen Sergej Brin und Larry Page, die siebzig Jahre nach Alan Turing mit Lego spielen (!) und eines Tages daraus ein (!) Kasten bauten, der nichts weniger war, (!) als der erste Server der Welt. (25) Welcher andere Autor hätte es wohl geschafft, bei der Formulierung einer an sich schon blödsinnigen Aussage auf fünf Zeilen vier Fehler unterzubringen? Aber welcher andere hätte aus dem ersten Server der Welt nicht den weltweit ersten Server gemacht? Für solche kleinen Schönheiten sollte man dankbar sein.

Eine der Thesen dieses Buches lautet, wir alle seien überfordert von der Unmenge an Informationen, die pausenlos auf uns einstürzten, und könnten nicht mehr unterscheiden, was wichtig und was unwichtig ist. Wir Informationsüberladenen sollten uns bekennen. Der Philosoph Daniel Dennett hat das Genre der intellektuellen Selbstbezichtigung unlängst in einem Artikel für die »New York Times« wunderbar neu belebt. Und von ihm können wir lernen: »Wir sind keine Minderheit, wahrscheinlich sind wir die leidende Mehrheit.« So übersetzt Schirrmacher »a silent majority«, was zweifellos nicht ganz korrekt ist. Dann fährt er fort: Wir sind überall. Wir könnten Ihre Brüder und Schwestern oder Ihre Töchter und Söhne sein. Wir sind Krankenschwestern und Ärzte, Polizisten und Lehrer, Journalisten und Wissenschaftler. Wir sind auch schon in den Kindergärten und Schulen. (17)

Und an diesen Worten, eher Paraphrase als Zitat, weshalb sie auch nicht in Anführungszeichen erscheinen, gibt es nur wenig auszusetzen. Bei Dennett heißt es: »We are all around you: we’re doctors, nurses, police officers, schoolteachers, crossing guards and men and women serving in the military. We are your sons and daughters, your brothers and sisters.«(3) Aber wer sind die Leute eigentlich, von denen Dennett spricht und die er »the brights« nennt? »What is a bright? A bright is a person with a naturalist as opposed to a supernaturalist world view. We brights don’t believe in ghosts or elves or the Easter Bunny – or God.«

Während Schirrmacher ihn als Gewährsmann für die Überforderung der Menschen durch das Internet vorführt, geht es Dennett vom Anfang bis zum Ende seines Artikels ausschließlich um Atheisten und Agnostiker, die in den Vereinigten Staaten aus verschiedenen Gründen unter Druck geraten seien und die er tatsächlich auffordert, sich öffentlich zu bekennen: »The time has come for us brights to come out of the closet.«

Da also die Opfer der Informationslast in der Mehrheit sind, muss diese Last selbst unermesslich groß sein. Kein Mensch kann mehr daran zweifeln, dass wir in eine neue Ära eingetreten sind, aber die Zweifel, wohin sie uns führt, wachsen täglich. Das Gefühl von Vergesslichkeit und Vergeblichkeit steht nicht im Widerspruch zu den gigantischen Datenmengen, die täglich gespeichert werden, sondern ist deren Resultat. Nichts mehr, das verweht, und keine Frage, die nicht ohne Antwort bliebe. Nach einer Berechnung der Universität Berkeley wurden im Jahre 2003 auf allen bekannten Datenträgern, von Print bis Internet, 5 Exabyte neuer Informationen gespeichert. Die unvorstellbare Zahl entspricht allen jemals von Menschen auf der Erde gesprochenen Worten. Die jüngste Studie, die 2010 publiziert werden soll, wird eine weitere Informationsexplosion verzeichnen. Jede dieser Informationen muss von irgendjemanden (!) produziert und gesendet und von einem anderen gelesen und gespeichert worden sein. (18)

Schirrmacher mag zweifeln, wohin er will; doch wer wird einem Autor folgen, der schon über eine dreifache Negation stolpert und das Internet für einen Datenträger hält? Die Menschheit habe, so steht es hier geschrieben, im Jahr 2003 (das aber in der zitierten Studie das Jahr 2002 ist) ebenso viel gelesen, wie sie in den Jahrtausenden zuvor gesprochen hat.

In Wirklichkeit ist von diesen 5 Exabyte (5 Millionen Terabyte) nichts gesendet und nur das Allerwenigste gelesen worden. Die bekannten Datenträger sind »print, film, magnetic, and optical storage media«;(4) und »information« ist nicht »Information« im herkömmlichen Sinne, sondern alles, was sich auf ihnen speichern lässt. Den größten Bitbedarf haben Filme, Fotos und Musikaufnahmen; was man lesen kann, verschwindet im Vergleich. Obwohl aus der Studie auch hervorgeht, dass der »electronic flow of new information« im ehrwürdigen Drahttelefon 2002 noch dreißigmal so groß war wie im Internet, insinuiert Schirrmacher, es gehe bei diesen gigantischen Datenmengen um Informationen von Print bis Internet, die wir alle irgendwie bewältigen müssen. Denn kaum jemand fühlt sich wohl von dem Umstand überfordert, dass sein Nachbar ständig telefoniert und achthundert Familienfotos besitzt.

Schirrmacher kennt noch mehr große Zahlen. Eine von ihnen betrifft das Multitasking, das uns ständig von dem ablenkt, was wir eigentlich tun sollen und wofür wir bezahlt werden. Die Kosten dieser Ablenkung für die Produktivität – 588 Milliarden Dollar und zweieinhalb Arbeitsstunden pro Tag – sind enorm. (63) Was soll man nun wieder mit dieser Absurdität anfangen? 588 Milliarden Dollar am Tag wären das zehnfache BIP der USA, zweieinhalb Arbeitsstunden am Tag wären nichts. Schirrmacher verheimlicht seine Quelle, sie ist aber leicht zu finden.

Die Unternehmensberatungsfirma Basex veröffentlichte 2005 einen Bericht, in dem sie behauptete, durch eine Befragung von »hundreds of knowledge workers« herausgebracht zu haben, jeder einzelne werde von allen möglichen modernen Kommunikationsmitteln für zweieinhalb Stunden am Tag von seiner eigentlichen Arbeit abgehalten. »Interruptions now consume 28% of the knowledge worker’s day … This translates into 28 billion lost man-hours per annum to companies in the United States alone. Assuming an average salary of $21/hour for a knowledge worker, the cost to business is $588 billion.«(5) Diese Zahlen kommen von einer Firma, die ihren Kunden die Lösung eines Problems verkaufen will und deshalb womöglich dazu neigt, es zu übertreiben. Ob sie zitierbar sind, fragt Schirrmacher sich nicht. Er zitiert sie, weil sie ihm in den Kram passen, und macht sich lächerlich, weil er sie nicht richtig zitieren kann.

Vergleicht man den Computerspiel-Konsum eines durchschnittlichen Jugendlichen mit der Zeit, die ein Manager täglich an den Tasten seines Blackberry herumspielt, um nach aktuellen Nachrichten zu suchen, wird man auf vergleichbare Zeiten stoßen. (28) Es ist ohnehin stets zu empfehlen, nur Vergleichbares zu vergleichen, auch wenn das Frankfurter Feuilleton sich zur künstlichen Erzeugung von Tiefsinn gern des Tricks bedient, gerade solche Gegenstände zu vergleichen, die nichts miteinander zu schaffen haben, das Tertium Comparationis mit Gewalt herbeizuziehen und das Resultat, das aus nichts besteht als der Feststellung, das Verglichene sei vergleichbar, für einen Gedanken auszugeben. Diesen Trick hat Schirrmacher hier leider falsch angewendet, obwohl er eigentlich doch weiß, wie’s geht: Auch die Bibel war einst eine große Suchmaschine. (192)

Die Kunst der gesuchten Analogie wird in Payback ausführlich zelebriert, denn mit ihrer Hilfe lässt sich dezent der ungeheure Bildungsschatz andeuten, über den der Autor verfügt; ihr Wert für die Erkenntnis ist allerdings gering. Der »Schachtürke« des Wolfgang von Kempelen war ein mechanischer Schachspielautomat, der quietschte und ratterte und stockte und aus dessen Innerem man das Pumpen hydraulischer Maschinen hörte. Wozu man allerdings prophetische Ohren brauchte, da es solche Maschinen im Jahr 1770, als der Schachtürke zum ersten Mal auftrat, noch nicht gab. Aber was will Schirrmacher eigentlich mit ihm? In dem großen Kasten saß ein kleiner Mensch, und dieser Mensch … Teufel auch! Wir werden mehr und mehr zu diesem Menschen, der zusammengekauert an seinem Arbeitsplatz sitzt … Zugegeben, das Gehäuse ist nicht mehr so eng wie zu Kempelens Zeiten, und wenn es von Apple kommt, ist es sogar nicht nur Gehäuse und Technik, sondern auch Kunst. Aber nichtsdestotrotz sitzen wir zunehmend in diesem Apparat fest. (90) Müssen wir aus der Tatsache, dass wir zunehmend festsitzen, nun auch schließen, dass wir festsitzend zunehmen?

Bereits jetzt genügt ein Blick auf Youtube, um zu begreifen, dass Erfahrungen zunehmend nur gemacht werden, damit man sie digital verarbeiten und verwerten kann. In einer einzigen Minute werden – Stand 2009 – 20 Stunden Videomaterial allein auf Youtube hochgeladen, pro Woche 850000 Filme in Spielfilmlänge  Schon aus den heutigen Zahlen folgt, dass das gefilmte Leben das gelebte Leben bei Weitem übertrifft. (88) Die Rechnung stimmt nur dann, wenn ein Spielfilm 15 Minuten dauert. Zwar ahnt man wohl, was Schirrmacher meint, aber irgendwann schwindet die Lust, es ihm zu erklären.

Schirrmacher käme es sehr gelegen, wenn er ein Exemplar des neuen Menschen präsentieren könnte, dessen Gedanken und Empfindungen von den Computern bereits so sehr deformiert sind, dass er seine ganze Existenz freiwillig ins Internet verlegt. Und eine solche Person scheint es tatsächlich zu geben. Sie heißt Karen Herlihy. Nein, sie heißt Kerry Herlihy, wurde im Alter von fünf Tagen zur Adoption freigegeben und beschrieb in der New York Times zwei Begegnungen mit ihrer leiblichen Mutter. Irgendwann, als sie längst erwachsen ist, findet sie heraus, wo ihre Mutter lebt und dass sie eine Familie hat, sucht den Kontakt zu ihr und überredet sie schließlich zu einem Treffen. »Our airport meeting was strained by awkward pauses and unasked questions … She took me to her house nearby, introduced me to her husband while her children were away and told me family stories. When I left, she said she would write a letter soon.«(6) Diese Passage liest sich in Schirrmachers Übersetzung so: Ein verabredetes Treffen am Flughafen fand nicht statt. Die Mutter erschien einfach nicht. (191)

In den folgenden Monaten kommen tatsächlich ein paar Briefe, dann kommt nichts mehr. Offensichtlich empfindet ihre Mutter Kerry als Gefahr für ihr Familienglück. Acht Jahre später begegnet Kerry Herlihy ihr erneut, diesmal bei Facebook. Mehrere Tage lang ist sie versucht, die Lebenslüge ihrer Mutter zu zerstören, indem sie sich ihren Halbgeschwistern per E-Mail vorstellt. Doch schließlich verwirft sie diesen Gedanken. »Deine Mutter ist ein Computer. Sie ändert ihr Konzept nicht«, sagte ihr Freund, und dieser Vergleich überzeugte sie. Da ihr Freund aber Englisch spricht, sagt er etwas anderes: »She’s still the same person. Computers don’t change choices.« Und das bedeutet ungefähr: »Sie ist immer noch dieselbe und wird ihre Einstellung nicht ändern, nur weil sie jetzt einen Computer hat.«

Am Ende beschließt Kerry Herlihy, die Entscheidung ihrer Mutter ein für allemal zu akzeptieren. »In this digital age, my birth mother must rely solely on my trust, my compassion and my willpower to keep her story safe, because the easy access of the Internet will keep her tantalizingly close … And yet in that easy access is also possibility, and hope. At any moment, without flights or trips or complicated arrangements, she and I could move our relationship out of the shadows and into the light. Until then, if ever, I’ll try not to seek what cannot be delivered by an Internet search. I’ll draw my own virtual lines and move forward in real time without her.« Das ist sehr menschlich und sehr verständlich. Sie wird ihre Mutter nicht mehr bedrängen, sondern nur noch hin und wieder ihr Profil bei Facebook aufsuchen, um wenigstens auf diesem Wege etwas von ihr zu erfahren.

Indem er die entscheidenden Sätze unterschlägt, macht Schirrmacher aus der verstoßenen Tochter ein Monstrum, das sich selbst digitalisiert hat. Interessant ist, wie Karen Herlihy diese Resignation im Zeitalter der Informationstechnologien formuliert: »Ich werde nichts mehr suchen, was nicht durch eine Internet-Suche gefunden werden kann.« (192)

Da sie nur noch im Internet lebt, sorgt Schirrmacher sich um ihr künftiges Schicksal. Was werden die Computer mit ihr anstellen? Der Reflexionsprozess von Karen, einer von Milliarden, ist jetzt zu einem winzigen Teil der Reflexionsprozesse der Maschinen geworden, die ihn zerstückeln, umbauen und zu neuen Antworten modellieren. (196) Aber die Maschinen könnten Kerry Herlihys Geschichte doch kaum übler missbrauchen, als er sie missbraucht hat. Wenn ich Freunden erzählte, dass eine amerikanische Schriftstellerin verkündet, nichts mehr zu suchen, worauf sie keine Antwort im Netz findet, war das mitleidige Befremden groß. (201) Einen Freund wie ihn möchte man haben, aber nur bei Facebook.

Nach dem Fernsehen und den Comics sind nun die Computer daran schuld, dass eine schnell wachsende Zahl von Kindern und Erwachsenen nicht mehr nur nicht lesen wollen (!), sondern nicht mehr systematisch lesen können (35). Man hört diese Klage seit mindestens fünfzig Jahren, allerdings wurde sie selten von jemandem vorgetragen, der selbst nicht lesen kann. Neu ist immerhin die Nachricht, auch unsere Ärzte litten an einer Leseschwäche, da sie nicht einmal fähig seien, medizinische Statistiken zu verstehen. Erinnern wir uns als Beispiel an die Fehldeutungen von Brustkrebs-Statistiken, die der Bildungsforscher Gerd Gigerenzer aufgedeckt hat. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich wirklich Krebs habe? Man würde meinen, dass es in Zeiten der Computer darauf eine allgemeinverbindliche Antwort gibt. Er möchte also eine allgemeinverbindliche Antwort auf die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass er an Brustkrebs leidet. Bitte schön: Sie liegt nahe bei null Prozent. Doch die Antworten der Ärzte variieren von 1 Prozent bis in den zweistelligen Bereich. Ein Drittel der Ärzte, die Gigerenzer befragt hat, darunter Klinikchefs mit langjähriger Erfahrung, gaben (!) aufgrund der Statistiken eine Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent an.

Nun, sie haben es ja auch mit Frauen zu tun. Aber ein Drittel von ihnen will tatsächlich aus der Statistik herausgelesen haben, dass 90 Prozent aller Frauen an Brustkrebs erkranken? Nein, dieser Blödsinn entsteht allein durch den Umstand, dass Schirrmacher die entscheidende Voraussetzung von Gigerenzers Erhebungen übersehen hat. »A third said they would tell this woman that, given a positive mammogram, her chance of having breast cancer is 90%.« Es geht also um Frauen, die bereits eine Untersuchung mit positivem Befund hinter sich haben.

Und wie lautet nun die richtige Vorhersage? Gigerenzer klärt die Ärzte auf, indem er die statistischen Daten auf ihre eigene Lebenswirklichkeit herunterbricht. »Stellen Sie sich 100 Frauen vor. Eine von ihnen hat Brustkrebs. Das ist 1 Prozent. Diese Frau wird mit einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit getestet.« (187f) Also werden 90 Prozent aller Frauen getestet? Oder 90 Prozent aller Frauen, die an Brustkrebs leiden? »If a woman has breast cancer, the probability that she will test positive on a mammogram is 90%.«(7) Wieder produziert Schirrmacher unverständlichen Ausschuss, weil er seine Vorlage nicht richtig abschreibt, und der Leser bleibt hilflos zurück. Da kann man nur hoffen, dass die Ärzte wenigstens diese Statistik verstehen: Einer von vier Männern, die nicht an Prostatakrebs sterben, weisen bei der Autopsie Prostata-Krebszellen auf. (188)

Im Multitasking erkennt Schirrmacher die Wiederkehr des Taylorismus, der Computer übertrage Taylors Körper- und Muskeltrainingsprogramm … im industrialisierten neunzehnten Jahrhundert in den Bereich unseres Gehirns (52). Zwar könnte man einwenden, dass Frederick Winslow Taylor im 19. Jahrhundert vom Taylorismus noch wenig ahnte und es sich späterhin verbeten hätte, wenn die Arbeiter in den nach seinen Vorschlägen organisierten Fabriken bei ihrer einfachen, stets wiederkehrenden Tätigkeit von irgendetwas gestört oder unterbrochen worden wären. Trotzdem müsste man ihn für den Begründer der Fitnessbewegung halten, wenn man nicht wüsste, dass Schirrmacher dieses Körper- und Muskeltrainingsprogramm erfunden hat.

»Als am Ende des 19. Jahrhunderts die erste große Welle der Maschinen kam«, sagte er in einem Radiogespräch, »merkten die Menschen relativ schnell, dass etwas nicht stimmt. Die Menschen waren nämlich am Abend unglaublich erschöpft. Und das verstanden sie damals gar nicht: Warum sind wir erschöpft, wir haben doch Maschinen? Und dann stellte man fest, dass jenseits von Fragen wie Arbeitsplatzhygiene und Arbeitszeit der menschliche Körper, der Muskelapparat nicht eingestellt war auf diese Maschinen. Das war übrigens der Grund, warum der Sportunterricht eingeführt wurde, warum Fitness-Studios entstanden und so weiter.«(8) Nun ja, der Mann ist halt kein Historiker.

Was machen die Computer aber mit unserem Gehirn? Schirrmacher erklärt es uns in demselben Interview: »Digitale Kommunikation löst im Gehirn einen Schub an Hormonen aus, die unmittelbar auf das kurzfristige Belohnungszentrum des Gehirns reagieren. Wir wollen sofort eine Belohnung für das Signal, das wir empfangen haben … Das ist einerseits Neurobiologie, es ist aber andererseits auf einer politischen Ebene tatsächlich so … Das haben Sie bei dem Ausstieg aus der Atomkraft erlebt, da war Fukushima der Auslöser, aber niemals im vordigitalen Zeitalter wäre eine solche Entscheidung in dieser Schnelligkeit getroffen worden. Das ist deshalb, weil diese Echtzeitkommunikation von uns unmittelbare Antworten – wiederum das Belohnungszentrum – verlangt. Das gilt für den Einzelnen ebenso wie für die Politik.«

Es ist aber leider nicht ganz verständlich. Hat Angela Merkel ein Signal aus Fukushima erhalten und sich selbst eine Gabe Dopamin verschafft, indem sie den Abschied von der Atomenergie ankündigte? Oder haben wir dieses Signal empfangen und wollten deshalb von Merkel mit einem Domain-Kick (137) belohnt werden? So oder so muss es jedenfalls gewesen sein. Denn alles andere würde bedeuten, dass Schirrmacher von dem, worüber er schreibt und redet, keinen blassen Schimmer hat.

(1) Frank Schirrmacher, Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. München: Blessing 2009.
(2)  Kursivierte Passagen sind Zitate aus Payback; die Zahl in Klammern gibt die Seite an.
(3) Daniel C. Dennett, The Bright Stuff. In: New York Times vom 12. Juli 2003.
(4)  www2.sims.berkeley.edu/research/projects/how-much-info-2003/printable_report.pdf
(5) The Cost of Not Paying Attention: How Interruptions Impact Knowledge Worker Productivity
(6) Kerry Herlihy, Dear Birth Mother, Please Hit »Reply«. In: New York Times vom 7. August 2009.
(7) Gerd Gigerenzer u.a., Helping Doctors and Patients Make Sense of Health Statistics. In: Psychological Science in the Public Interest. Nr. 2, November 2007.
(8) Frank Schirrmacher befragt von Ruth Jakoby, Hessischer Rundfunk vom 23. August 2012.

Joachim Rohloff lebt als freier Lektor in Berlin (und nimmt Aufträge an). Zuletzt schrieb er über den preisgekrönten Dichter Martin Mosebach: Zwischen den Mauern des Schluckaufs

 

© Merkur, Nr. 766, März 2013