Zum Tod von Wolfgang Herrndorf

Gestern ist der Autor Wolfgang Herrndorf gestorben (1). Er hat nie für den Merkur geschrieben (leider, und an ihm lag es nicht), stand manchem aus dem Umfeld der Zeitschrift aber durchaus nahe. Als Verbeugung stellen wir Michael Maars im April 2012 erschienene akribische Lektüre von Herrndorfs letztem zu Lebzeiten erschienenen Buch Sand hier frei ins Blog. Wer Herrndorfs großartiges Blog „Arbeit und Struktur“ las, musste wissen, wie ernst es um ihn stand. Daraus erklärt sich wohl auch, dass Maars Rezension bereits wie ein Nachruf endet: „Herrndorf hat den größten, grausigsten, komischsten und klügsten Roman der letzten Dekade geschrieben. Er ist aimable; und sein Werk wird bleiben.“

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„Er hat’s mir gestanden“

Überlegungen zu Wolfgang Herrndorfs „Sand“

Von Michael Maar

Der große und vielfach prämierte Überraschungserfolg des letzten Jahres, der heute schon in Costa Rica Schulstoff sein soll, war Wolfgang Herrndorfs Roadmovieroman Tschick, in dem die Presse nicht zu Unrecht einen deutschen Huckleberry erkannte – aber Herrndorf kann die Vergleiche nicht mehr hören.

Gustav Seibt, Herrndorf-Bewunderer der ersten Stunde, sah in Tschick alte Motive der Romantik am Werk, jener Stimmung also, von der jemand anlässlich Eichendorffs sagte, sie sei nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh, Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park und törichte Seligkeit. In seinem neuen Roman Sand, dem Gegenbuch zu Tschick, um nicht zu sagen: seiner Zurücknahme, herrscht die kühle, schwarze Romantik des „gothic tale“, aber von der klaren Konturiertheit eines Edgar Allan Poe.

Schon seine Nacherzählung, sonst eine müßige Angelegenheit, ist ein Abenteuer. Eines, von dem der Autor indirekt abrät, wenn er sich über die aussterbende Kunst, Rezensionen ohne Inhaltsangabe zu schreiben, beklagt. Dennoch ist das in diesem Fall nicht ganz zu umgehen. In den bislang erschienenen Besprechungen hat sich als Urteil herausgeschält, dass Sand rätselhaft und verwirrend sei und viele Fragen offen lasse. Nichts wird diesem Buch weniger gerecht. Sand verlangt dem Leser einiges ab, genau gesehen aber eigentlich nur eines: Aufmerksamkeit.

Klar sind Handlungsort und Zeit: der Sommer 1972, in dem das palästinensische Terrorkammando „Schwarzer September“ bei der Münchner Olympiade israelische Geiseln nimmt, was im Roman aber nur am Rande hereinflackert. Der Ort ist die nordafrikanische Hafenstadt Targat in der Sahara, ein nur zart verschleiertes Marokko; nicht weit entfernt von der Oase Tindirma, an der sich eine Aussteigerkommune von Westlern angesiedelt hat.

Klar ist auch, dass sich das Genre nicht eindeutig bestimmen lässt, und ebenso klar, dass deshalb auch nicht der schmächtigste Reissack in China umkippt. Kein Hahn kräht nach dem Genre. Alle schlechten Romane gleichen einander, jeder große Roman ist auf seine eigene Weise groß.

Wer ist der Held?

Schwieriger wird es schon mit dem Personal. Im zweiten der insgesamt 68 Kapitel erfahren wir viel über einen Polizisten Polidorio, dessen Spur sich im zwölften Kapitel verliert. Es wird unentwegt nach einem Herrn namens Cetrois gesucht, der etwas Ultrawichtiges mit sich führt, doch Monsieur Cetrois taucht bis zum Ende nicht auf. Und selbst die einfache Frage, wer denn der Held des Buches sei, erweist sich als heikel, weshalb die meisten Rezensenten sie denn auch umschifften.

Vertrackt ist die Frage deshalb, weil der Held, der erst auf Seite 91 auftritt, durch einen Schlag auf den Kopf sein Gedächtnis verloren hat. Er hat nicht den blassesten Schimmer, wer er ist. Behelfsweise nennt er sich nach dem Etikett in seiner Jacke Carl (in seinem Blog Arbeit und Struktur erwähnt Herrndorf, das Unternehmen Carl Gross wolle ihm einen Anzug schenken, und fragt sich, ob er nicht mehr Zeit auf die Beschreibung des Alfa Spider hätte verwenden sollen). Sein wahrer Name und seine Vergangenheit bleiben Carl bis zum blutigen Ende verborgen. Er weiß nichts über sich, und als er erfährt, dass Tindirmas Pate, der König der Schieber, seine Frau und sein kleines Kind als Geiseln genommen hat und mit ihrer Ermordung droht, kann er sich nur abstrakt um sie sorgen, weil er sie nicht kennt.

Anders als Carl hat der Leser zum Glück die Möglichkeit, zurückzublättern und sich unter den Figuren umzusehen, die Herrndorf auf den ersten 90 Seiten einführt. Da treten am Anfang zwei komische Kommissare auf, der erwähnte Polidorio und ein Canisades, um, wie ein Rezensent schrieb, „bald wieder zu verschwinden, der eine wegen Bedeutungslosigkeit, der andere wegen einer Schlinge um den Hals.“

Fast genau richtig. Der Kommissar Canisades wird in der Tat von einem auf dem Transport zu seiner Hinrichtung entwischten Mörder erdrosselt. Der andere, scheinbar bedeutungslose Kommissar – fahr dahin, Spoilerscheu, das Buch ist lang genug auf dem Markt! –, dieser andere Polizist Polidorio ist Herrndorfs gedächtnisloser Held.

Ces trois ne font qu’un

In einer frühen Besprechung von Georges Perecs La Disparition fand der Rezensent irgendetwas merkwürdig an dem Buch. Irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas war bizarr. Es war ihm entgangen, dass der Roman kein einziges E enthielt.

Ähnlich Wichtiges entgeht dem Leser von Sand, wenn er die so diskret wie zwingend angelegte Grundkonstruktion übersieht. Das Indiziennetz ist dabei so dicht ausgelegt, dass er eigentlich darüber stolpern muss. Carl spricht die Landessprache und sieht arabisch aus, denkt aber auf Französisch. Polidorio hat in Paris studiert und wird im Streit als Pied-noir beschimpft, sein Großvater war Araber. Carl wundert sich darüber, dass er Deutsch versteht und sogar Fraktur lesen kann; Polidorio verbringt seine Jugend in der Schweiz. Carl wird auf knapp dreißig geschätzt, Polidorio ist achtundzwanzig Jahre alt. Carl wird, obwohl er Leute anspricht, in der Stadt nicht erkannt. Weil Polidorio, mit ungeliebter Frau und 1969 gezeugtem Kind, erst vor acht Wochen aus Paris dort angekommen ist. Wer ihn erkennt, sind zwei Kollegen aus dem Kommissariat und eine drogensüchtige Hure, die ihn beschimpft, weil er sie nicht mit Morphium aus der Asservatenkammer versorgt, wie es Polidorios Gepflogenheit war, der jede zweite Nacht im Bordell verbringt.

Warum gibt Carl unter der Folter als seinen Namen den Namen „Bédeux“ an? Weil es einer der Phantasienamen ist, die Polidorio im Eingangskapitel in alte französische Passformulare einträgt. Immer wieder hat der Amnestiker Flashbacks des Polizisten. Einen Sandsturm erlebt er wörtlich gleich wie vor ihm Polidorio. Auch der Moment, der über sein Leben entscheidet, dämmert ihm als Erinnerungsrest im Traum. Carl sieht das grüne Haus mit grüner Fahne, das dem Café gegenüberliegt, in dem er als Polidorio das Pech hatte, seinen Tee neben einem schwedischen Geheimagenten zu trinken, der ihn für seine Kontaktperson hält. Polidorio schreibt auf Wunsch seinen Namen auf einen Block, „Cetrois“ – denn Polidorio ist gleich Carl ist gleich Cetrois, die drei scheinbar getrennten Figuren sind ein und dieselbe –, und ein Kugelschreiber mit Innenleben wechselt seinen Besitzer. Der Agent Lundgren, durch einen Sonnenstich schon leicht verwirrt, formuliert im Kopf ein umlautfreies Telegramm, in dem er Vollzug meldet („die Wuste brennt stop C3 auf Oel gestossen“), und liegt kurz darauf ermordet in einem Tümpel.

Ein Unfall, wie man später erfährt; die CIA wollte ihn eigentlich lebendig, um ihn unter Folter zu verhören. Denn Lundgren ist mit Mikrofilmen unterwegs, auf denen sich Baupläne für eine Ultrazentrifuge befinden. Eine arabische Macht greift nach der Atombombe, was Israel und die CIA verhindern wollen. Das ist der Hintergrund eines Thrillers, der kühn auch darin ist, dass er auf alle politische Korrektheit pfeift. „Die Araber sind dumm, faul und stinken“, sagt Herrndorf über Sand in einem Interview, in dem er den Fächer der Beleidigungen genüsslich entfaltet, „die Europäer sind ausnahmslos arrogante Rassisten und Päderasten, die Amerikaner foltern alles, was ihnen in den Weg kommt, und hinter allem stecken – selbstverständlich – die Juden.“

Kopfschmerzen

Aber wie kommt der Held nun, er heiße wie er wolle, zu seiner Amnesie? Ein Grund liegt darin, dass er zwar die einzige sympathische Figur des figurenreichen Romans, aber kein Enkel Einsteins ist. Genauer gesagt, hat er einen IQ von 102, wie er durch einen alten französischen Schultest erfährt. Deshalb braucht er etwas länger, um zu begreifen, dass seine freundliche amerikanische Helferin Helen mit ihren Karatefähigkeiten vielleicht doch keine Kosmetikfachfrau ist; dass der schmuddelige Psychiater Cockcroft eine eher ungewöhnliche Arztpraxis hat; dass die „Mine“, hinter der sie alle her sind, sich in dem Kugelschreiber befindet, den jemand in dem Mercedes abgelegt hat, dessen Zentralverriegelung sich in einem hochelegant vorbereiteten Moment schnalzend öffnet, als Carl-Polidorio zufällig und wie immer ahnungslos mit seinem Schlüssel am Schloss hantiert.

Weil er gutmütig, aber nicht der Hellste ist, hat Polidorio alias Carl einen Fehler gemacht. In der von Hippies bewohnten Kommune an der Oase gab es ein Massaker mit vier Opfern. Der Hauptverdächtige, ein Fellachensohn mit Sexualproblemen, leugnet die Tat, obwohl alle Zeugenaussagen und Indizien gegen ihn sprechen. In einem Trivialroman wäre er dennoch unschuldig, und eben diese falsche Vermutung beschleicht auch den Polizisten Polidorio. Er will der Sache auf den Grund gehen und fährt mit seinem Mercedes zur Oase, wo er die Kommunarden noch einmal nach dem Tathergang befragt. Anschließend nimmt er seinen fatalen Tee neben dem schwedischen Agenten, wird verfolgt, lässt den ihm zugesteckten Kugelschreiber in seinem Mercedes und flieht in die Wüste, wo er in einer alten Schnapsbrennerei den betäubenden Schlag auf den Schädel bekommt und sein Gedächtnis verliert.

Der Glaube an die Unschuld eines Schuldigen: Das sei, wie der Erzähler kurz vor Romanschluss erklärt, der Grund für den Leidensweg seines Helden. Damit ist die Katze eigentlich aus dem Sack. Wer bis dahin nicht erkannt hat, dass dieser Held derselbe Polizist ist, der nach seiner Fahrt zur Oase als vermisst gemeldet wird, müsste es spätestens jetzt bemerken. Und er müsste sich über eine der versteckten Pointen freuen, von denen das Buch überquillt: Dass es ausgerechnet das Schädeltrauma ist, das Polidorio von seinen schrecklichen Kopfschmerzen befreit, die ihn sonst täglich pünktlich um vier überfallen. Carl hat in dieser Hinsicht keine Beschwerden mehr; er hat dafür sonst mehr als genug. Dass die Leichen seiner Frau und seines dreijährigen Sohns in den Bergen gefunden werden, bekommt er dabei gar nicht mehr mit.

Lundgren hat ein Problem

Woran aber liegt es, dass so viele Rezensenten das Gefühl haben konnten, durch ein Labyrinth geirrt zu sein? Sand hat einen klaren chronologischen Rahmen, in dem man jeden einzelnen Tag datieren kann. Herrndorf empfände es geradezu als katastrophalen Fehler, wie er schreibt, wenn etwa der 23. August 1972 ein Dienstag wäre. Innerhalb dieses Rahmens aber erzählt er nicht chronologisch, sondern in Sprüngen; mit kleinen Ausfall- und Rückwärtsschritten, was dem Buch die Spannung und enorme Dynamik gibt. Der schwedische Agent wird auf folgende Weise eingeführt: Und jetzt habe Lundgren ein Problem. „Lundgren war tot.“ Erst liegt Lundgren tot im Tümpel, dann reist er nach Targat an, nimmt ein Sammeltaxi und nach dessen Zusammenbruch einen Eselskarren zum Oasenstädtchen, meidet professionell das zuvor gebuchte Hotel, setzt sich zu lange der Sonne aus, wird immer unvorsichtiger, lässt sich von der zwölfjährigen Serviererin anspitzen, fragt den seit Tagen vor seiner Pension sitzenden zahnlosen alten Araber: „Heute schon dein Schaf gefickt?“ – ein Mann der Gegenseite, Pech für Lundgren – und spricht mit einem Unbekannten, dem er seinen Kugelschreiber überreicht … Ein Rondo, das wieder im Tümpel endet.

Herrndorf gibt seine Informationen versetzt, rhythmisiert, leicht verschoben, gewissermaßen angeschrägt. Aber er gibt uns alle, die wir brauchen. Wenn in der Dichtung das Chaos durch den Flor der Ordnung schimmere, wie es Novalis forderte, so ist es in seinem Fall gerade anders herum. Er sei kurz davor, hundert Euro auszuloben für jeden losen Faden, den ein Rezensent benenne und nicht nur behaupte, schreibt Herrndorf und riskiert damit keinen Cent. Es gibt in Sand nicht viel überflüssige Information, aber auch keine fehlende. Der Leser muss sie nur selbst verbinden, wie bei den Malheften, bei denen sich erst, wenn man die nummerierten Punkte durch eine Linie verbunden hat, der Clown mit Dreiecksmütze zu erkennen gibt. Wobei sich in diesem Fall nicht ein Clown offenbarte, sondern die Fratze des Teufels.

Das Stöhnen im Nachbarzimmer

Der Plot, die Fabel eines Romans: Wenn sie gelingt, hat E. M. Forster in seiner Vorlesung Aspects of the Novel klassisch ausgeführt, entspringt dieser Fabel, die rätselvoll, aber nie irreführend sein darf und organisch gebaut und frei von Ballast sein soll, auch wenn sie verwickelt ist, eine ganz eigene Schönheit und ästhetische Qualität. Die Erinnerung des Lesers schwebt über ihr, erwägt und ordnet alles immer wieder neu, sieht neue Fäden und neue Ketten von Ursache und Wirkung, und am Ende – wupps, eröffnet sich die Schönheit des Plots.

Forster kannte Sand nicht, hätte es aber nicht besser sagen können, wenn er gerade durch ihn gestreift wäre. Wer ein Faible für raffiniert gebaute Plots hat, erlebt hier ein Fest. Hier geht alles auf, und alles rundet sich, wenn auch auf perfideste Art. Herrndorfs Größe liegt aber nicht nur im Plot. Wichtiger ist anderes – die Kraft seiner Imagination, die sprühende Intelligenz, die jede Seite tränkt, und der Reichtum der Details. Herrndorf hat als Maler begonnen und sein Ingenium in die andere Disziplin hinübergerettet: Alles in der flirrenden Wüstenhitze ist hier gesehen, nichts nur behauptet, nichts ohne Farbe, scharfen Schatten und Textur. Kühl und lakonisch ist der Ton, kühl und komisch die Psychologie. Die Komik ist überhaupt seine Silbermine und sein wahres Elixier. Mitunter hat schon das übergenau Gedachte, die penible Logik etwas Komisches. Als Carl in einem der wenigen Momente des „relief“ im Hotelzimmer mit einer Sextouristin liegt, hört er aus dem Nebenzimmer das Stöhnen eines Paares, macht sich im nächsten Moment aber klar, dass er die Männerstimme gar nicht hört, sondern sie sich nur dazu denkt. Worauf er folgert: Vielleicht liegt nebenan auch eine Frau mit zwei Männern. Oder mit einer andern Frau; oder eine Frau ganz allein. Als es später, nachdem sich seine Begleiterin verabschiedet hat, wieder von nebenan stöhnt, überlegt er, ob es nicht nur das gleiche, sondern dasselbe Stöhnen wie das von ihnen gerade erzeugte sein könnte; im Nachbarzimmer von einem Tonband aufgenommen und als verspätetes Echo abgespielt. Solche nur für sich schönen und schrägen Details machen den nichtfunktionalen Überschuss aus, der einem literarischen Werk von Rang das gewisse Etwas von Fülle, ja Freiheit verleiht.

Aimable-Jean-Jacques

Die Hauptfrau in Carls kurzem Leben ist dabei eine andere, die Amerikanerin Helen Gliese. Ihr Name erinnert an den deutschen Sexualwissenschaftler Hans Giese, der in Kathrin Passigs und Ira Strübels SM-Handbuch Die Wahl der Qual firmiert; die Handschellen in ihrem Koffer dienen aber nicht dem dort erläuterten Zweck. Helen Giese ist die Frau, die man in Herrndorfs Charakterisierung nach der Beschreibung „schön und dumm“ sofort treffsicher am Hafen abholen könnte – obwohl sie weder das eine noch das andere sei. Helen ist die klügste von allen, und dass sie keine schöne Stimme und leicht verrutschte Gesichtszüge hat, wie ihre Freundin und Tarotkartenlegerin Michelle ihr taktlos einreibt, führt dazu, dass sie, um sich etwas zu beweisen, den Beruf der Geheimagentin wählt. Herrndorf führt das nicht aufdringlich aus, setzt aber genügend Punkte, die man zu diesem Porträt verbinden kann. Helen Gliese hat eine Tochter namens Heather, die dem Erzähler im vorgeschalteten Epilog aus dem späteren Leben ihrer Mutter berichtet. Wie das? Erstens, wieso meldet sich plötzlich ein Ich-Erzähler zu Wort, zweitens, warum wechselt er Briefe mit einer erfundenen Figur? Schon im achten Kapitel setzt unvermittelt die Stimme eines Ich-Erzählers ein, der wie der reale Autor im Jahr 1972 sieben Jahre alt war. Das Kind ist im Hotel in Targat untergebracht. „Meine Eltern hatten ein Zwei-Zimmer-Apartment im neunten Stock gemietet“, erfahren wir, „und wenn sie mich, wie so oft, hinausschickten, um hinter verschlossenen Türen geheimnisvolle Dinge zu treiben, erkundete ich allein das weitläufige Hotelgelände.“ Der Junge, der damals Lederhosen trug, hinter dessen Hosenträgern die Eltern kleine Plastiktütchen applizierten, kann sich nicht mehr daran erinnern, ob er am letzten Augusttag des Jahres 1972 von seinem Hotelzimmer aus die blonde amerikanische Touristin und ihren einarmigen Taxifahrer bemerkt habe. Aber eine Fotografie ihrer Bungalowtür hänge heute über seinem Schreibtisch.

Und zum Romanende meldet sich dann Helens Tochter Heather, die irritierenderweise auch in der Danksagung auftaucht, neben so realen Personen wie Sascha Lobo oder Tex Rubinowitz; freilich auch neben einem „Ebbesand Flutwasser“. Es mögen sich mehr Realien in diesem Roman verstecken, als es der Kolportagecharakter vermuten lässt – ja, wenn sich die Welt auch so oft als schlechte Kolportage geriert?

Das wahre Alter Ego des Autors versteckt sich vielleicht in einer Miniatur. Carl blättert in der Pseudopraxis des Pseudopsychiaters Cockcroft in einem Lexikon nach den verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Mine“. Der letzte der Einträge führt einen Autor „Mine, Aimable-Jean-Jacques“ auf, der in humorvoller Kleinmalerei die „Abgründe kosmopolitischen Lebens“ schildere. Worin man ebenso unschwer Herrndorfs in Berlin spielenden Debütroman In Plüschgewittern erkennen kann wie in Aimables späterer Hinwendung zum „Abenteuerroman mit trivialen Elementen“ das uns vorliegende lexikonwürdige Werk.

Das Minenspiel

Helen verliert bei der Ankunft im Hafen ihren Koffer, weil sie um einen Kugelschreiber angebettelt wird. Mit einem Kugelschreiber hat davor Polidorio seinen Kaffee umgerührt, bevor er seine Schmerzmittel gegen die demnächst ausbrechenden Kopfschmerzen nimmt. Helens Taxifahrer, der seinen rechten Arm verloren hat, deutet auf den Stumpf und erklärt „Mine“. Carl staunt über den Reichtum der möglichen Minenbedeutungen, bevor er die tödliche in der eigenen Tasche entdeckt. Der Blazer mit der Mine wird ihm von Slumkindern geklaut, denen der Exkommunarde Bekurtz Privatunterricht gibt. In einer privaten Goldmine wird Carl gefoltert, weil er jene andere, brisant gefüllte nicht beibringen kann. Im Kugelschreiber verborgen, wandert sie durch die Hände der Bekurtz-Schüler, die am Hafen auch schon Helen angeschnorrt hatten, und landet endlich als silbernes Rückgrat in einer Puppe aus Gras. Um diese Lieblingspuppe zu retten, reißt sich das junge Mädchen Samaya von der Hand seiner Mutter los, als gerade wieder eine Säuberungswelle das Slumviertel erfasst, und wird unter den Trümmern der von einem Bulldozer eingerissenen Baracke begraben. „Er hob seine Schaufel hoch wie ein Priester die Bundeslade, zeigte sie den Ungläubigen und schob den ganzen Schamott den Hügel hinab.“

Es ist der letzte Satz des Buchs. Und „hinab“ nicht umsonst sein letztes Wort.

Lieblingsfach Folter

„Zwei Vietcongs wurden während eines Fluges nach Saigon vernommen. Der erste weigerte sich, die Fragen zu beantworten, und wurde aus 3000 Fuß aus dem Flugzeug geworfen. Der zweite beantwortete die Fragen sofort, dann wurde auch er hinausgeworfen.“

Dies das Motto, ein Zitat William Blums, zum 51. Kapitel. Ein anderes der Motti, die jedem Kapitel so irrlichternd wie misanthrop voranleuchten, eine geniale Sammlung für sich, führt Vladimir Nabokov an. Er habe nichts übrig für Happy Ends. Unglück sei das Normale, das Verhängnis sollte nicht klemmen. Die Lawine, die in ihrem Lauf ein paar Meter über dem sich duckenden Dorf zum Stillstand komme, benehme sich nicht nur unnatürlich, sondern unmoralisch.

Mit Sand wäre Nabokov zufrieden gewesen, nicht nur als Großmeister des Plots. Hier macht auch nicht der kleinste Schneeball oberhalb eines Bergdorfs Halt. Mit einer Ausnahme nimmt alles die schlimmstmögliche Wendung. Nur eine einzige Figur fliegt am Ende einer langen und glücklichen Ehe entgegen, Helens Exfreundin Michelle, die esoterische Trulle, die dem Helden vor ihrer Abreise die Zukunft korrekt aus den Karten liest.

Ihn selbst erwartet ein anderes Los. Dem schwedischen Agenten schoss es noch durch den Kopf, hier müsse er vorsichtig sein, „Lieblingsfach Folter“, bevor er sein Problem im Tümpel hat. Weniger Glück hat Carl, der von einem Verderben ins nächste taumelt, bevor er sich in tiefster Schwärze in einem unterirdischen See eng angekettet vorm langsamen Ertrinken retten muss – eine besonders grausame Phantasie. Nachdem er es dennoch schafft sich zu befreien, passiert das, was wie in No Country for Old Men den impliziten Pakt zwischen Autor und Leser bricht.

Herrndorf ist groß im Abseitigen, und seine Freude am Detail setzt dann nicht aus, wenn es ins Grausige geht. Aber das Wort Freude trifft es nicht, denn mit Sadismus hat sein Ausmalen des Furchtbaren nichts zu tun. Es ist derselbe am Rand der Verzweiflung balancierende Moralismus, mit dem Nabokov in Das Bastardzeichen den Sohn des Helden von delinquenten Jugendlichen zu Tode quälen lässt.

Aber hieß es nicht, die Komik sei sein Elixier? Das zutiefst Grausige berührt sich mit dem Komischen in einem Punkt: dem Absurden. Dem auf seinem Stuhl gefesselten Carl wird zwischen den Elektroschocks von seinem Folterarzt ein Witz erzählt. Nun, was er Witz nennt. Ein Wettbewerb zwischen den Geheimdiensten: In einer Höhle liegt ein prähistorisches Skelett, der Sieger soll sein, wer sein Alter am genauesten bestimmen kann. Der CIA-Mann und der vom KGB kommen dank wissenschaftlicher Methoden dem Alter immer näher – etwa 6000 Jahre, nein, 6100. Der Stasiagent tritt nach zwei Tagen erschöpft aus der Höhle: 6124 Jahre! Wie er das so genau rausgekriegt habe? Der Stasimann zuckt die Achseln: „Er hat’s mir gestanden.“ – Gänsehaut. Derselbe Arzt beschwert sich, als er das Kabelgeflecht des Elektroschockgeräts entwirren muss: „Warum hinterlassen die Leute das immer in diesem Zustand?“ Nur weil einem die Sachen nicht persönlich gehörten. „Die Menschennatur, an der der Kommunismus scheitern wird.“

Verflixte Menschennatur … An dergleichen Sarkasmen ist das Buch reich. Und auch im Burlesken berührt sich das Grausige mit dem Komischen, wie es Pulp Fiction vorgeführt hat. Auf der Autofahrt zu der Mine, in der Cockcroft resigniert die Elektroden entheddern wird, entspinnt sich ein Disput zwischen den CIA-Agenten auf den Vordersitzen und dem syrischen Folterexperten, genannt „Die Zange“, auf der Rückbank. Carl liegt gefesselt auf dem Boden. Der Syrer will beten, man streitet, will nicht extra anhalten mit der prekären Fracht und fragt, ob er das nicht auch im Auto erledigen könne, wenn man es gen Mekka dirigiere. Gesagt, getan, aber dann weigert der strenggläubige Dschafarit sich, mit dem Gebet zu beginnen: das sei „haram“, weil noch ein Hauch von Abendröte am Himmel stehe. Ja, warum denn das? Die Atheisten auf den Vordersitzen wissen es nicht, der gläubige Muslim weiß es nicht, niemand weiß es, bis auf den auf dem Boden kauernden Helden, der für den Syrer antwortet: Es sei wegen der Naturreligionen; damit sie nicht verwechselt werden können mit Anbetern des Sonnengottes aus dem vorderasiatischen Raum.

In dieser so beklemmenden wie burlesken Szene fällt beiläufig auch die alte Frage der Theodizee.

Bundeslade und Kreuz

„Warum lässt Gott das Böse zu?“ Es ist der Syrer, der die Frage in einer Reihe anderer für ihn sinnloser Warum-Fragen stellt – wegen der „haram“-Verlegenheit will er seine atheistischen CIA-Kollegen darüber belehren, dass Warum-Fragen überhaupt dumme Fragen seien. „Warum lässt Gott das Böse zu? Warum segeln die Wolken am Himmel? Warum ist Amerika nicht Fußballweltmeister?“

Herrndorf versteckt hier mit typischem Bathos ein Herzthema seines Buchs. Schon in Tschick standen an einem Scheitelpunkt zwei Krücken umgesunken am Feldrand wie ein „barmherziges Kreuz“, und der Vater des Helden hieß betont unauffällig Josef. Auch Sand beginnt mit einem sakralen Signal. Im ersten Satz steht der Exkommunarde Bekurtz mit nacktem Oberkörper und seitlich ausgestreckten Armen auf einer Ziegelmauer „wie gekreuzigt“. Im Schlusssatz dann das Alte Testament: Der Bulldozer hebt seine Schaufel wie ein Priester die Bundeslade. Und auch die dritte große monotheistische Religion entkommt der Säuberungswelle nicht: Samaya, das Mädchen, das durch die teuflische Mine zurück ins Haus gelockt wird, hat die engelsgleiche Güte des Herzens, ihre Reinheit ist ohne Makel, und in ihr Antlitz schauen heißt Allahs Schöpfung begreifen. Aber wir wissen, wie alles endet; als Schamott.

Als der Sohn des Helden am Ende ermordet in den Bergen gefunden wird, steckt in seinem Rachen ein Teufelsamulett. Es ist das Signum des ganzen Romans. Sein ursprünglicher Titel war nicht „Sand“, sondern „Die Wüste des Bösen“. Das Böse in der Welt ist das Thema dieser als Thriller nur getarnten großen Antitheodizee geblieben. Eine Welt, in der das Geschilderte passiert, wird nicht von einem sowohl mächtigen als auch gütigen Gott regiert. Die Wüste des Bösen ist die teuflische Welt des Realen, in der die Dummheit herrscht, die Grausamkeit und die schiere Kontingenz; die Welt, in der es keinen Unterschied macht, ob man aussagt oder nicht, weil man so oder so aus dem Flugzeug gestoßen wird; die Welt, in der die Kindheit eines Sechsjährigen damit endet, dass seine Eltern und Großeltern, vier Schwestern, ein Schwager und dessen sämtliche Verwandte, zwei andere Tuaregfamilien, eine Handvoll Rebellen und einige Unbeteiligte in einer Reihe in den Wüstensand gelegt und angepflockt werden, bevor ein Armeepanzer über ihre aufplatzenden Körper rollt.

„Helen!“

Eine Frage lässt Herrndorfs Roman denn doch offen: die nach dem Sinn. Er ist nicht leicht herauszusieben aus dem Sand der Wüste, dem ewig gleichförmigen Nihil. Ein kleines glitzerndes Partikel findet sich aber vielleicht doch. Es ist ein elementares, der Ratio nicht untergeordnetes Gefühl: das Mitleid mit dem Lebendigen.

Selbst Helen, die Carl gefesselt im unterirdischen See zurücklässt, wird am Ende von diesem Gefühl angehaucht. Sie wartet in Targats Terminal auf ihren Rückflug in die Staaten, der Abflug verzögert sich. Im Café erinnert sie das blau gemusterte Porzellan an die gemeinsamen Frühstücke mit dem Mann, dem sie die Amnesie nicht glaubte. Sie nimmt sich einen Leihwagen und fährt zur Mine zurück, um nach Carl zu sehen.

Und damit folgt sie seinem Ruf. Im Moment der äußersten Verzweiflung nämlich ruft Carl im Dunkeln, er schreit den Namen, „der ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. Jetzt hallte er von den Wänden wider ins Nichts.“

Und eben doch nicht ins Nichts, denn Helen – deren Name nicht fällt – kommt; verfehlt Carl zwar, aber hat ihn zumindest gehört. Es gibt eine Reststrahlung von Empathie in der Kälte des Alls.

Herrndorf hat den größten, grausigsten, komischsten und klügsten Roman der letzten Dekade geschrieben. Er ist aimable; und sein Werk wird bleiben.