„Mein Interesse am Hermannplatz ist gering“

Jakob Nolte im Gespräch mit Wolfgang Hottner über seinen Roman ALFF, Teenager, Bücher und das Großwerden in aufgelösten Formen.

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Die Schüler der High & Low Highschool in Beetaville in Neuengland haben Angst. Einer ihrer Mitschüler wurde von dem sogenannten „Vollstricker“ grausam ermordet. Agent Donna wird vom FBI geschickt, um den Fall zu lösen und Meggy von der Schülerzeitung versucht sich als Privatdetektivin. Zudem gibt es eine „Anachronistische Jugend Beetaville e.V.“, eine Band die „La Deutsche Vita“ heißt und die Olympischen Spiele in Atlanta finden statt: die 90er, das „Genick am Rand des Jahrtausends“. Jakob Noltes Romandebüt ALFF (Fiktion, 2014 / Matthes & Seitz Berlin, 2015) erzählt im Stile eines Highschool-Thrillers von dieser gespenstischen Zeit, von den deutsch-amerikanischen Verwirrungen einer Jugend an der Peripherie des alten Jahrtausends. Noltes Roman ist präziser Unrealismus, durchzogen von Verfremdungen, Durchstreichungen und Übermalungen.

Wolfgang Hottner: Während von seiner Krise seit hundert Jahren die Rede ist, prophezeit die Kritik seit einiger Zeit das Verschwinden der Form des Romans. Dieser sei ein literarisches „Auslaufmodell“ (Ingo Meyer), bedroht von der Präsenz kleinerer und kürzerer Formen, wie der Twitteratur, die dem „Leben“ in dieser Gegenwart mehr entsprächen. Zugleich gibt es ein ungebrochenes Interesse an realistischen, monumentalen Geschichten, man denke beispielsweise an Frank Witzels Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 oder an die sogenannten Neapolitanischen Romane Elena Ferrantes. Wie nimmst Du als Leser und Autor diese Prophezeiungen, Krisen und Entwicklungen wahr?

Jakob Nolte: Zunächst ist die Unterscheidung zwischen den beiden sehr wichtig. Ich bin unvoreingenommen mit Literatur, Lesen und Romanen groß geworden. Man macht sich als Leser recht wenige Gedanken darüber, ob Leute an Hochschulen denken, der Roman sei in einer Krise. Jemanden, der mehrmals alle Teile der Dark Tower-Reihe durchgelesen hat, und dabei die beste Zeit seines Lebens gehabt, stellt sich diese Frage kaum. Die Rede von einer Krise des Romans scheint mir eher einen intellektuellen Verdruss wiederzugeben, eine Angst, die sich darauf richtet, dass Literatur nicht mehr als zeitgemäßes Medium auftritt. Dass es nicht die Aufmerksamkeit oder Bedeutsamkeit hat, von der angenommen wird, dass es sie früher einmal hatte. Aber nur weil es seit ein paar Jahren das Internet gibt und andere Rezeptionsformen, also vielleicht ein verstärktes Interesse an nicht-literarischen Erzählformen, scheint mir der Roman nicht in der Krise. Warum auch? Der Roman war stets von anderen Entertainmentformen bedroht und steht mit diesen parasitär im Dialog. Es gibt, denke ich, ein ungebrochenes Interesse daran, Welt und Fantasie sprachlich zu verhandeln. Und genau dieses habe ich als Autor. Ich möchte eine Version der Dinge, die mich umgeben, meine Sicht auf sie mit der Leserschaft teilen, und das beispielsweise in der Form des Romans. Einer Aneinanderreihung von Wörtern und Sätzen und Zeilen, die am Ende eine Geschichte erzählen.

Zugleich hat das Interesse und der Konsum serieller Formate in den letzten Jahren enorm zugenommen, wie The Wire, Mad Men ff. Gibt es da eine aktuelle Verbindung zwischen romanhaftem Monumentalismus und der narrativen Ausführlichkeit dieser Serien?

Die Verbindung ist ja bereits durch die Veröffentlichungsform einiger dieser großen Romane gegeben, die schließlich seriell in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen sind. Aber ohne sehr viel vom Buchmarkt zu wissen, scheinen es doch die umfangreichen Romane zu sein, die von Verlagen gerne gedruckt werden. Die großen, klaren, alles umfassenden Entwürfe der Wirklichkeit. Oder wie lässt sich der Erfolg eines Karl Ove Knausgard erklären? Das spricht nicht gerade für einen Verdruss an überbordenden Literaturprojekten. Oder es ist genau die Nische, für die sich Schreibende entscheiden können, das sich des schnellen Konsums Verweigernde zu produzieren. „Eine Herausforderung“ heißt es dann gerne. Aber nehmen wir als Gegenbeispiel Cesar Aira, der kaum einen Roman über 120 Seiten geschrieben hat, dafür aber über 60 an der Zahl. Diese kurzen, geistreichen Bücher, die einem Gefühl von Gegenwärtigkeit vielleicht viel eher entsprechen, scheinen den Markt viel stärker herauszufordern.

ALFF ist in seiner Überdrehtheit, seiner Komik und Drastik keineswegs ein realistischer Text, eher eine Parodie auf Konventionen der Gattung, auf den Detektivroman, den Bildungsroman, den Institutionenroman…

Ich habe das Gefühl, dass die Parodie für mich ein extrem natürlicher Zustand ist. Vielleicht weil ich mit einer Zeit und ihrer Kunst aufgewachsen bin, in der schon alle Formen zersprengt waren. Meine ersten einprägsamen Literatur- und Theatererfahrungen waren geprägt von Werken, die alles Vorherige angegriffen haben. Nur war mir dieser Angriff gar nicht bewusst. Erst Jahre nachdem ich das erste Mal Godards Außer Atem sah, erklärte mir jemand, warum der Film filmhistorisch so bedeutend ist. Für mich war er eine etwas langsame, aber albern und stilvoll erzählte Geschichte. Vielleicht ist ALFF parodistisch, aber nicht ironisch oder sarkastisch. Ich würde ihn eher als Groteske bezeichnen. Viele Lesende, mit denen ich gesprochen habe, nehmen den Text als sehr lustig wahr. Stellen, die vordergründig erschreckend und ernst sind, erschienen ihnen durch den Kontext der Überhöhung komisch. Dieser Art von Humor ist für mich intuitiv, sie ergibt sich durch die Welt, wie ich sie wahrnehme. Andere können damit nichts anfangen oder finden es sogar zynisch. Dabei ist die Frage doch: Was ist ein ernstes Thema?

Was den Roman betrifft, so lässt sich völlig vereinfacht sagen, liegt dessen welthafte Ernsthaftigkeit seit dem 18. Jahrhundert in einer Illusion von Nähe, einem vermeintlichen Realismus, seiner formalen Unförmigkeit und Assimilationsfähigkeit. Möglich wird diese Elastizität ja zuerst durch das Medium der Prosa, erst ihre Unfeierlichkeit, ihre im besten Sinne „Ungereimtheit“ macht die Hintergründigkeit und Tragik der Oliver Twists, Jane Eyres und Effi Briests erzählbar. War also das Groteske, das Parodistische in ALFF für dich eine Möglichkeit, einer vermeintlichen „Gegenwärtigkeitsfalle“ und den damit verbundenen Realismen zu entgehen? Ich meine damit, dass es ja auf darstellerischer Ebene, auf der Ebene der ästhetischen Praxis, noch nie gereicht hat, das eigene gegenwärtige Mensch-Sein abzubilden, also beiläufig den Hermannplatz zu erwähnen, um dem Text den Anstrich von Aktualität zu geben…

Die grotesken Ebenen in dem Roman sind wie gesagt intuitiv entstanden. Schreiben heißt für mich schärfste Klarheit und größte Verwirrung zugleich. Alle „Momente des Lebens“ sollen darin zu gleichen Teilen vorkommen dürfen. Das heißt für mich Gegenwärtigkeit. Zudem stellt sich die Frage: Habe ich ein aufrichtiges erzählerisches Interesse am Hermannplatz? Nein. Ich mag den Hermannplatz, ich bin da gerne, manchmal kaufe ich mir einen Sesamring oder einen Bund Petersilie, aber ich weiß auch, meine Faszination für diesen Ort, und vielleicht sogar diese Stadt, ist nicht so groß, dass es literarisch tragen würde. Zumindest bisher nicht. Mein Interesse an meiner Kindheit war dagegen, zumindest im Bezug auf ALFF, viel größer. Vielleicht ist der Hermannplatz für mich auch deshalb nicht interessant, weil er mit keiner Fantasie verbunden ist. Er eröffnet mir keinen Horizont. Was nicht heißt, dass man nicht auch ein aufrichtiges Interesse an ihm haben kann. Ein Freund von mir ist vernarrt in die Berliner U-Bahnen, er kennt ihre Geschichte und träumt von ihnen. Er kennt alle geheimen Pläne. Wenn er von den U-Bahnen redet oder schreibt, dann ist das Literatur.

ALFF spielt in der Zeit von 1994 bis ungefähr 2001. In einer verklärten Rückschau erscheinen mir die 90er immer mehr als eine Zeit positiver Naivität, Leichtigkeit, einer gespannten Erwartung hinsichtlich des neuen Jahrtausends, zugleich der Anfang eines allmählichen „Abhandenkommen der Heiterkeit“, wie es im Roman heißt. Ich musste beim Lesen immer wieder an die Masse von Coming-of-Age-Filmen der 90er denken. Beispielsweise an Reality Bites, an Filme, die diese pseudo-apokalyptische Unbeschwertheit, das Irgendwas-wird-schon-kommen-und-es-wird-ok-sein, in allen Variationen erzählen. Was hat dich interessiert an der amerikanische Provinz, der Highschool, Baseball und den Abschlussbällen?

Nachdem ich vor ein paar Jahren die Serie Freaks and Geeks geschaut habe, fand ich, dass die schiere Masse an Highschool-Erzählungen in mir zu viel Platz eingenommen hat. Mir wurde klar, dass eine der Sachen, mit denen ich mich am besten auskenne, obwohl ich noch nie da war, die US-amerikanische Highschool ist. Die Welt dieser Highschools hat nichts mit mir zu tun und trotzdem kenne ich sie in- und auswendig. Zugleich war dieses Setting eine Möglichkeit für mich, über meine eigene Jugend zu schreiben, ohne mich dieser zu verschreiben. Beetaville konnte Barsinghausen sein und New England das Calenberger Land, aber es musste nicht. Diese Art der Überschreibung ist im Prinzip das, was die Figuren selbst die ganze Zeit tun. Sie greifen in die imaginäre Ferne oder die Fantasmen der Medien, um sich selbst zu erklären. Um über den Umweg an die größere Wahrheit zu gelangen. Genauso wie die Filme von Jean-Pierre Melville in Paris spielen, aber doch nicht in Paris spielen. Sie sollen immer so aussehen, als wäre der Ort der Handlung Manhattan. Hauptsache man sieht den Eiffelturm nicht! Diese Hybridorte interessieren mich, weil sie Wollen und Sein in einem sind.

Die Teenager, von denen Du erzählst, kamen mir wie Typisierungen vor, vertraut, zugleich surreal überhöht…

In die Figuren und ihre Entwicklungen ist eine Art von hysterischer Gutgläubigkeit eingeschrieben. Was sie verbindet, ist der extreme Druck, als Jugendliche „jemand“ sein zu müssen. Durch die Allgegenwart der Filme, der darin erzählten teenager, ihrer craziness, entsteht ja auch der Wunsch, jemand anderes zu sein. Alle Figuren versuchen, ihre Leben aufzuwerten und verrückteren, besseren Kram zu machen, in alle Richtungen zu schießen, Intensitäten zu erfahren. Ausgelöst wird das im Roman durch die Konfrontation mit dem Tod, auf die 90er übertragen vielleicht mit einem Gefühl, am Ende der Geschichte angelangt zu sein. Im Sinne von: Unser Mitschüler ist gestorben, das Jahrtausend endet, wir müssen jetzt alle mehr Fun haben, weil es ja sein könnte sein, dass wir als Nächste dran sind. Und perverserweise sind genau das die Figuren, denen der Erzähler die größte Beachtung schenkt. Er ist genauso neidisch wie wütend wie verliebt in diese Stadt, das Leben in Beetaville.

Um welche Art von Erzählerfigur ging es dir also? Mir scheint, dass dieser Erzähler als Einziger in diesem Roman eine bildungsromanmäßige Entwicklung durchmacht…

Es sollte ein Erzähler sein, dem alles erlaubt ist. Der vulgär sein kann, involviert, voreingenommen und selektiv. Für mich war es eine Möglichkeit, der Enge des dramatischen Erzählens zu entkommen. Alles konnte passieren, jeder Ort war denkbar. Dieser Erzähler kennt die Geschichte und trotzdem erzählt er sie im Präsens, es ist, als erlebe er sie wieder und wieder. Seine Haltung gegenüber dem Geschehen hat damit, glaube ich, viel zu tun, mit diesem Gedanken: Baseball, Promball, Brillenschlange – das kennt man doch schon. Aber je länger er erzählt, desto aufmerksamer wird er. Er fängt mit Bibel-Tempo und kurzen Absätzen an, kommt dann in den Modus eines realistischen Romans mit Kapiteln, um schließlich in einer Art stream of consciousness einen einzigen Tag abzubilden. Während er auf der Höhe seiner Empathie anlangt, die durch das Beobachten und Beschreiben wächst, ist seine Hauptfigur an dem niedrigsten Punkt ihrer Existenz.

Und an was arbeitest Du im Moment? Was erwartest Du von deinem anstehenden Aufenthalt an der Villa Kamogawa in Kyoto, wo Du zusammen mit Leif Randt arbeiten wirst?

Gerade habe ich das Manuskript zu meinem zweiten Roman in eine erste Fassung gebracht. Es geht um Zwillinge, die sich nicht in Monster verwandeln wollen. Ich hoffe, dass es im nächsten Frühjahr fertig ist. In Kyoto wollen Leif und ich an einem PDF arbeiten. Dann schreibe ich mit Jugendlichen aus Luzern an einem Musiktheaterstück  und plane die nächste Arbeit mit meinem Kollegen Michel Decar.