Censorship Now!!

Identitätspolitik, die Zerstörung von Kunst und die Kontroverse um Dana Schutz’ Open Casket

1955 wurde im Bundestaat Mississippi ein 14-jähriger schwarzer Junge namens Emmett Till, aus Chicago stammend und gerade auf Verwandtenbesuch, von zwei weißen Männern verstümmelt und getötet. Roy Bryant und sein Halbbruder J. W. Milam glaubten, Till habe Bryants Frau Carolyn Avancen gemacht. In Wirklichkeit log Carolyn Bryant, als sie Till bezichtigte, sie belästigt und bedroht zu haben. Dass sie diese Unwahrheit erst 2008 zugab, in einem Interview das dieses Jahr veröffentlich wurde[1. Timothy B. Tyson, The Blood of Emmett Till, New York: Simon and Schuster 2017.], mildert weder den Mord noch die Tatsache, dass Bryant und Milam freigesprochen wurden.

Der Mord an Till machte unmissverständlich deutlich, dass die Gewalt, Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung der Sklaverei im segregierten Amerika der Fünfzigerjahre noch sehr lebendig waren. Und damit diese Wahrheit nicht ignoriert oder vergessen werden konnte, bestand Tills Mutter, Mamie Till Mobley, auf der Veröffentlichung und Verbreitung von Fotografien, die das entsetzlich entstellte Gesicht ihres Sohnes in jenem offenen Sarg zeigte, den sie für seine Beerdigung ausgewählt hatte. Die Bilder, heute leicht im Internet zu finden, sind erschütternd. Die Brutalität, die sie dokumentieren, befeuerte die Bürgerrechtsbewegung der Sechziger. Heute sind sie Teil einer Vergangenheit, die noch immer sehr gegenwärtig ist.

In seinem Essay „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“[2. Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit in: Kulturkritik und Gesellschaft I/II (=Gesammelte Schriften, Bd. 10.2), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.], einem Gründungsdokument des deutschen Aufarbeitungsdiskurses, stellt Theodor W. Adorno die Frage, wie man der Gewalt der Vergangenheit entkommen kann ohne die eigene Schuld zu verleugnen. In der Tat ist es nicht immer leicht, zwischen einer heilenden und einer die ursprüngliche Verletzung wiederholenden Geste zu unterscheiden. Die offene Debatte, die Adorno anmahnte – und die sich mit einer Verzögerung von zehn Jahren in Deutschland auch entfachte –, ist sicherlich ein erster Schritt. Und sie kann ohne Konflikte nicht ausgetragen werden. Aber müssen einem solchen Dialog und der kulturellen Produktion, die ihm entspringt, Grenzen gezogen werden? Kann eine künstlerische Schöpfung sich als destruktiv erweisen – und kann ein Akt der Zerstörung je produktiv sein?

Dana Schutz’ Open Casket und Hannah Blacks offener Brief

“The painting must go.” Vor einigen Wochen hallte dieser Satz laut durch die New Yorker Kunstwelt. Das Gemälde ist Open Casket (Offener Sarg), eines von mehreren Werken, mit denen Dana Schutz auf der diesjährigen Whitney-Biennale vertreten ist, einer Art Schnappschuss amerikanischer Gegenwartskunst, die seit 1932 stattfindet. Open Casket ist Schutz‘ abstrahierende Interpretation des Fotos, das Emmett Till in seinem Sarg zeigt. Üppige Farben ersetzen das Schwarzweiß des Originals. Tills Kopf, nicht als menschliches Gesicht zu erkennen, ist aus dicken Schichten von Ölfarbe geformt, sein Mund wie mit einem Hieb hineingeschlitzt, so als habe Schutz die Gewalt, die gegen Till verübt wurde, auf das Material ihrer Kunst übertragen. Die Stimme, die „das Bild muss weg“ fordert, gehört Hannah Black. Auch sie ist Künstlerin. Der Satz durchzieht mantrahaft ihren an das Whitney gerichteten offenen Brief, in dem sie gegen Schutz’ Bild Anklage erhebt. Er beginnt „mit der dringenden Empfehlung, das Bild zu zerstören und es weder auf den Kunstmarkt noch in ein Museum gelangen zu lassen.“[3. Alex Greenberger, „The Painting Must Go“: Hannah Black Pens Open Letter to the Whitney About Controversial Biennial Work, in: Artnews, 21. März 2017, http://www.artnews.com/2017/03/21/the-painting-must-go-hannah-black-pens-open-letter-to-the-whitney-about-controversial-biennial-work/]

In diesem viel diskutierten Brief verurteilt Black die Darstellung schwarzen Leids durch eine weiße Künstlerin. Sie erkennt darin einen Akt der Ausbeutung und der Gewalt, der gegen Emmett Tills Andenken verübt werde: „Jene nicht-schwarzen Künstler, denen aufrichtig daran gelegen ist, die schändliche Form weißer Gewalt hervorzuheben, sollten zuerst davon ablassen, schwarzen Schmerz als Rohmaterial zu benutzen. Das Thema gehört Schutz nicht. Weiße Redefreiheit und weiße Kunstfreiheit sind darauf gebaut, anderen diese Freiheiten zu verwehren; sie sind kein Naturrecht.”[4. Ebd.]Zusammen mit dem Künstler Parker Bright, der in einem T-Shirt mit der Aufschrift „BLACK DEATH SPECTACLE“ vor dem Gemälde protestierte, gehört Black zu den sichtbarsten Kritikern von Open Casket, auch wenn diese zwei jungen schwarzen Künstler nicht die einzigen sind; der Brief fand fast 50 Unterzeichner. Manche Stimmen in den Medien befürworteten den Protest und Kritiker des Bildes halten Schutz’ Darstellung von Till für einen Akt kultureller Aneignung, eine Wiederholung und Ästhetisierung der Gewalt, die ihm angetan wurde. Eine Reihe von Artikeln in Kunstmagazinen und Zeitungen hat die Debatte weiter angefacht. Manche wiederholen Blacks Argumente aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit, während andere sie unter dem Gesichtspunkt der Redefreiheit ablehnen oder Schutz’ Bild aus ästhetischen Gründen verteidigen.

Dass diese sehr amerikanische Debatte auch in Deutschland kommentiert wurde, ist nicht überraschend: Blacks Refrain, „das Bild muss weg“, erscheint vielen wie ein Aufruf, eine Stimme zum Schweigen zu bringen, die sich einer dunklen Vergangenheit stellen will. Zensur ist für Liberale ein Tabu. Aber in diesem Fall schließt ihre Ablehnung ein, auch die Stimmen junger People of Color abzuweisen, deren eigene Erfahrung, in einer Gesellschaft ungehört zu bleiben, sehr wirklich sind. Es kommt vielleicht durchaus darauf an, wer spricht. Ich selbst bin eine weiße Amerikanerin. Ich lehne Zensur instinktiv ab, aber gleichzeitig gibt es mir zu denken, dass ich damit Stimmen beiseite wischen sollte, die von Weißen so oft ignoriert oder mit Gewalt zum Schweigen gebracht werden. Der Protest gegen Open Casket handelt von Blickwinkeln – davon, ob eine weiße Künstlerin die Erfahrung schwarzer Amerikaner nachvollziehen und zum Ausdruck bringen kann. Ich verstehe nicht alle Einwände, die gegen Schutz’ Bild vorgebracht worden sind. Aber ebenso wenig verstehe ich, was es heißt, schwarz zu sein.

Rechte und liberale Probleme mit „Identität“

Viele weiße Liberale bringt die Idee auf, dass ihre Identität ihrer Verständnisfähigkeit Grenzen auferlegen sollte. Sie glauben, dass die Einschränkung dessen, was einer Künstlerin darzustellen „erlaubt“ sein sollte, eine gefährliche Beschneidung ihrer Redefreiheit bedeute. Aber eines von Blacks zentralen Argumenten ist, dass schwarze Amerikaner immer schon solchen Beschränkungen ausgesetzt waren, seien sie nun rechtlich oder sozial durchgesetzt, und dass es daher falsch ist, so zu tun als existierten sie nicht. Und tatsächlich wird die Art der in den Vereinigten Staaten herrschenden Redefreiheit in Deutschland für gefährlich gehalten. Der Staat setzt ihr Grenzen, um die Schutzbedürftigen vor jenen zu bewahren, die über die Macht zu ihrer Ausgrenzung verfügen. In Deutschland sind die Symbole des Nationalsozialismus verboten. In Amerika hat die American Civil Liberties Union, eine normalerweise von der Linken gefeierte Organisation, in einem berühmt gewordenen Fall das Recht amerikanischer Nazis verteidigt, durch ein jüdisches Viertel Chicagos zu marschieren.[5. Nazis, Skokie and the A.C.L.U., in: The New York Times, 1. Januar 1978, http://www.nytimes.com/1978/01/01/archives/nazis-skokie-and-the-aclu.html]Dass deutschen Juden heute besondere Berücksichtigung zukommt und etwa ihre Synagogen beschützt werden, ist bereits eine Form von Identitätspolitik – einer auf Interessen und Perspektiven sozialer Gruppen beruhenden politischen Positionierung –, auch, wenn das hierzulande oft für spezifisch amerikanisch gehalten wird. Eine deutsche Kommentatorin erklärte die Kontroverse um Open Casket dann auch so: „Es geht, wie heute meistens, wenn in den USA eine emotional hochbesetzte Debatte ausbricht, um ‚identity politics‘.“[6. Andrea Köhler, Schwarzes Leid, weisser Blick, in: Neue Zürcher Zeitung, 6. April 2017, https://www.nzz.ch/feuilleton/whitney-biennale-streit-um-ein-gemaelde-schwarzes-leid-weisser-blick-ld.155613]Vielleicht steckt dahinter der deutsche Verdacht, dass die Identitätspolitik der Linken gefährlich nah an die Gemeinschaftsideale der Rechten rücken kann.

roter punkt_20px Bleiben Sie auf dem Laufenden. Abonnieren Sie jetzt den Merkur-Newsletter.

Insbesondere nach den Novemberwahlen, die Donald Trump ins Weiße Haus gebracht haben, hat eine Reihe von Liberalen dazu aufgerufen, die Prioritäten der amerikanischen Linken so zu überdenken, dass Identität eine weniger zentrale Stellung zukommt. In einem Artikel, der sowohl in den USA als auch in Deutschland breite Beachtung gefunden hat, forderte der Historiker Mark Lilla, dass „die Zeit des Identitätsliberalismus zu einem Ende gebracht werden muss.“ [7. Mark Lilla, The End of Identity Liberalism, in: The New York Times, 18. November 2016, https://www.nytimes.com/2016/11/20/opinion/sunday/the-end-of-identity-liberalism.html. In der deutschen Übersetzung wurde aus dieser Forderung bezeichnenderweise die eher analytische Beobachtung „dass die Zeit dieses identitätsfixierten Linksliberalismus abgelaufen ist.“ Mark Lilla, Identitätspolitik ist keine Politik, in: Neue Zürcher Zeitung, 26. November 2016, https://www.nzz.ch/feuilleton/mark-lilla-ueber-die-krise-des-linksliberalismus-identitaetspolitik-ist-keine-politik-ld.130695 ] Lilla glaubt, dass ein solcher auf soziale Identität gerichteter Fokus die Basis der Demokratischen Partei zersplittert habe. Er sieht dessen Niederlage gerade in Trumps Sieg und meint, dass Hillary Clinton sich auf breite Kategorien – wie die der Klasse – hätte berufen sollen, statt auf ihren Wahlveranstaltungen individuelle Gruppen anzusprechen. Und Lilla lehnt die Idee ab, dass weiße Männer überhaupt eine solche Gruppe ausmachen: „Das neue und nachgerade anthropologische Interesse der Medien am zornigen weißen Mann enthüllt ebenso viel über den Zustand unseres Linksliberalismus wie über jene viel geschmähte und zuvor geflissentlich übersehene Spezies.“

Impliziert ist darin, dass die Identitätspolitik „unseren Liberalismus“ in einen erbärmlichen Zustand gestürzt habe, wenn wir nun dabei angelangt sind, weiße Männlichkeit als eine Identität statt als breite Mehrheit zu betrachten. Das aber ist schlicht falsch: Seit jeher hat „anthropologisches Interesse“ an jeder denkbaren Gruppe bestanden, nur nicht an weißen Männern. Dass uns heute bewusst wird, dass dies ebenfalls eine Identität ist – und nicht einfach ein Standard –, beweist den Fortschritt der Identitätspolitik, nicht ihr Versagen. Wenn die Demokratische Partei das etwas früher erkannt hätte, wäre die Wahl vielleicht anders ausgegangen.

Darum geht es der Identitätspolitik letztlich: dass es keine Standardposition gibt. Nur weiße Männer besaßen den Luxus zu glauben, sie existiert, weil ihre Identität weithin für eine solche gehalten wird. Daher ist es erstaunlich, dass so viele Kommentatoren, vor allem in Deutschland, sich wie von einem universellen Standpunkt aus in diese Debatte eingeschaltet haben, die, in ihrem Kern, uns doch gerade zur Reflexion darüber auffordert, ob dieser Standpunkt nicht eher eine gefährliche Illusion ist. Für manche Autoren scheint das ein blinder Reflex zu sein, während andere daraus geradezu eine Pointe machen: Dass Dana Schutz weiß ist, hat mit der Wahl ihres Sujets nichts zu tun; dass ich weiß bin hat mit meiner Haltung in dieser Kontroverse nichts zu tun – mir geht es nur um die Wahrheit! Das Problem ist, dass Wahrheit selbst einen subjektiven Aspekt besitzt, der von den enorm verschiedenen Erfahrungen und Geschichten abhängt. Die Idee eines universellen Subjekts uneingeschränkt zu verteidigen bedeutet, diese Unterschiede zu leugnen; weiß zu sein wird so zur Norm und white supremacy lediglich die bewusste Verteidigung dieser unbewussten Haltung.

Ich verstehe, dass vielen Weißen diese Vorstellung zuwider ist. Ich verstehe es, weil ich diesen Widerstand auch in mir selbst spüre. Gehört es nicht zum wichtigsten Erbe der Aufklärung, dass jede Person als Individuum anerkennt werden muss, das dessen Religion und Kultur transzendiert? Meine liberalen, progressiven Überzeugungen begehren gegen die Vorstellung auf, dass ein universales Subjekt unmöglich sein sollte; dadurch wird diese Einsicht aber nicht weniger wahr. Unterdrückung, Genozid und Sklaverei, die dunkle Seite des aufklärerischen Erbes, haben das universale Subjekt erledigt, das eben jene Aufklärung versprach. Darauf zu insistieren, dass schwarze und weiße Amerikaner im selben Land leben, bekämpft den Rassismus daher nicht, sondern normalisiert ihn nur.

Historische Gewalt bleibt real für die Nachfahren derer, die sie erlitten haben. Ich weiß das ganz konkret: Meine Großeltern sind Holocaustüberlebende und ich verdanke meine eigene Existenz einer ganzen Reihe von Glücksfällen – etwa dem, dass mein Großvater kurz, bevor das Ghetto von Łódź liquidiert wurde, dank eines Hinweises den Zug bestieg, der in ein Arbeits- und nicht in ein Todeslager fuhr. Ebenso ist die Tatsache, dass ich Amerikanerin bin, eine Laune des Schicksals: Im Lager für displaced persons, in dem sie sich nach Kriegsende begegneten und in dem die ältere Schwester meiner Mutter geboren wurde, erwogen meine Großeltern, sich in Palästina oder Frankreich niederzulassen. Trotz dieser Zufälligkeit ist mir mein Amerikanischsein für meine Identität stets zentraler vorgekommen als mein Judentum; meine Familie ist ausgesprochen säkular und mein Leben lang habe ich in großen Städten im Nordwesten der Vereinigten Staaten gelebt, wo es leicht ist, Antisemitismus für ein Problem der Vergangenheit zu halten.

Vor ein paar Wochen besuchte ich meine Eltern in ihrem Haus in einem Vorort von Philadelphia um Pessach zu feiern, einen Feiertag, der so wichtig ist, dass selbst meine sehr liberale Familie ihn begeht. Bei der Zubereitung des traditionellen Seder-Essens war Donald Trump das ständige Diskussionsthema. Als ich Petersilie und Muskat in den Teig für die Matzeknödel mischte (die Adaption eines Traditionsrezepts durch meine Mutter), gestand ich, dass mir in den jüngsten Tagen die Augen geöffnet wurden, was die Gegenwart des Antisemitismus in den USA angehe. Die Welle antijüdischen Hasses, die nach der Wahl aufbrandete und die, wie es schien, nur auf ihre Zeit gewartet hatte, zeigte mir, wie kurzsichtig es ist zu glauben, dass im säkularen Westen Antisemitismus nur in den Geschichtsbüchern existiert oder in der Erinnerung von Überlebenden, wie meinen Großeltern. Meine Mutter schöpfte, als ich sprach, Fett von der Hühnersuppe und schwieg für einen Moment. „Wir haben in diesem Land bisher viel Glück gehabt“, sagte sie. Ihre Worte bestätigten mir, dass es naiv ist zu glauben, dass mein Judentum kein primärer Aspekt meiner Identität sei oder stets schnell wieder dazu werden kann.

„Verbrennen geht gar nicht“

Ich kann mich dazu entscheiden, jüdische Feiertage zu begehen oder sie zu ignorieren, aber auf manche Weise ist meine Identität keine Wahl. Und ein Aspekt meiner Identität – nicht nur jüdisch, sondern eben auch weiß zu sein – steht mir auf die Haut geschrieben. Die pointiertesten Stimmen auf beiden Seiten der Schutz/Black-Kontroverse erkennen das an. Eine von ihnen ist Coco Fusco, eine kubanisch-amerikanische Künstlerin, deren Arbeiten und Schriften versuchen, jene kolonialen Machtstrukturen aufzudecken, die dazu führen, dass kulturelle Identität stets im Vordergrund unserer Erfahrungswelt bleibt. 1992 stellten sie und der Künstler Guillermo Gómez-Peña ein bis heute berüchtigtes Werk in Madrid, London, Sydney und New York aus. In Two Undiscovered Amerindians Visit the West (Zwei unentdeckte amerikanische Indianer besuchen den Westen) präsentierten sich Fusco und Gómez-Peña ihrem Publikum in einem Käfig, verkleidet als echte „Ureinwohner“ einer neuentdeckten Insel im Golf von Mexiko. Ihre bizarren „Rituale“ wurden durch einen Begleittext in pseudowissenschaftlicher Sprache interpretiert, die jene Vorannahmen parodierte, denen People of Color aller Hintergründe im Westen ausgesetzt sind. Fusco lehrt an Kunsthochschulen; ihre Erfahrungen mit nicht-weißen Kunststudenten und ihren Befürchtungen, dass die eigene kulturelle Identität ihre Arbeit zu sehr bestimmen zu scheinen mag, spielt in ihrem Artikel, der Blacks Brief behandelt, eine große Rolle.

Auch wenn sie das Gemälde nicht im Sinne Schutz’ verteidigt, stellt sich Fusco doch gegen Blacks Aufruf, das Bild zu zensieren. Unter anderem kritisiert sie Black dafür, sich anzumaßen, für alle schwarzen Menschen sprechen zu können, Abstraktion als Form gesellschaftlichen Protests unkritisch abzulehnen und fälschlich zu insinuieren, Schutz habe aus Profitgier gehandelt (es ist nicht falsch, wenn Künstler von ihrer Arbeit leben können). Fusco greift Black auch auf ihre Unterstellung hin an, dass Mamie Till die Fotos ihres Sohnes nur für ein schwarzes Publikum verbreitet wissen wollte, ein Punkt, mit dem Black ihren Standpunkt zu bestärken sucht, dass das Sujet Schutz nicht „gehöre“. Es besteht in der Tat kein Zweifel daran, dass Mamie Till die Bilder auch Weißen zeigen wollte – und nicht nur den Rassisten, die ihren Sohn umgebracht hatten, sondern auch solchen Liberalen, die, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, die Tiefe des Rassenhasses zu minimieren versuchen, der auch nach dem Ende der Sklaverei noch in den Vereinigten Staaten herrschte.

In einer wichtigen Sache, meine ich, hat Fusco allerdings Unrecht. Indem sie forderte, dass das Bild nicht nur dem Blick der Öffentlichkeit entzogen, sondern, dass es auch zerstört werden sollte, schreibt Fusco, „stellen sich Black und ihre Unterstützer auf die falsche Seite der Geschichte, gesellt sich zu Falangisten, die Bücher verbrannten, autoritären Regimes, die Kultur zensieren und Künstler einsperren, und religiösen Fundamentalisten, die Kunst im Namen ihres Gottes verbieten.”[8. Coco Fusco, Censorship, Not the Painting, Must Go: On Dana Schutz’s Image of Emmett Till, in: Hyperallergic, 27. März 2017, https://hyperallergic.com/368290/censorship-not-the-painting-must-go-on-dana-schutzs-image-of-emmett-till/]Dieses Argument war auch von vielen weißen Liberalen im Zuge dieser Kontroverse zu hören: Dass sie zwar das Recht schwarzer Künstler zu protestieren unterstützten, dass aber der Ruf nach der Zerstörung von Kunst einfach zu weit gehe. In Antwort auf einen Twitter-Kommentar, der die Verbrennung von Open Casket forderte, schrieb etwa Brigitte Werneburg in der taz empört: „Verbrennen […] geht gar nicht.“[9. Brigitte Werneburg, Schwarzes Leid als Material, in: die tageszeitung, 30. März 2017, https://www.taz.de/!5394709/]

Eine jede Diskussion um die Zerstörung von Kunst ist zu recht besorgniserregend. Aber in diesem Fall wird die Idee, die Werneburg, Fusco und andere evozieren, verdreht: Wir haben es in der Geschichte, auf die sich Open Casket bezieht, nicht mit der bloßen Drohung von Gewalt, sondern mit ihrem Faktum zu tun. Zudem dürfen wir nicht die historischen Täter solcher Gewalt mit ihren Opfern verwechseln. Leben sind vernichtet worden, unter anderem das Emmett Tills. Angesichts seines Todes – eines grausamen Mordes, der jene Vergangenheitsbewältigung nicht zu entfachen vermochte, die den Tod von Michael Brown, Philando Castile, Jordan Edwards, Eric Garner, Freddie Gray, Akai Gurley, Trayvon Martin, Laquan McDonald, Tamir Rice, Walter Scott und Alton Sterling hätte verhindern können[10. Das ist nur eine Auswahl der Namen unbewaffneter schwarzer Männer, die in den letzten Jahren von weißen Polizisten in den USA erschossen wurden. Es existieren keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Zivilisten von Polizeibeamten getötet wurden; allerdings betreibt der Guardian eine inoffizielle Dokumentation der letzten zwei Jahre: https://www.theguardian.com/us-news/ng-interactive/2015/jun/01/the-counted-police-killings-us-database] – scheint es fragwürdig, auf der Unantastbarkeit der Kunst von Weißen zu bestehen. Wir alle würden es vorziehen, wenn Schutz’ Hautfarbe irrelevant wäre, aber sie ist es nicht – und sie wird es nicht sein, bis es die von Black nicht auch ist.

Aus diesem Grund liegt Fusco auch falsch, Black mit autoritären Regimes zu vergleichen. Der Unterschied lautet: Macht. Anders als Regime, die die Macht besitzen, ihre Gewaltandrohungen auch Wirklichkeit werden zu lassen, ist Black – eine junge schwarze Künstlerin ohne institutionelle Autorität – dazu gerade nicht in der Lage. Sie spricht aus einer historisch ohnmächtigen Position heraus und anders als autoritäre Regimes oder auch nur eine einflussreiche Institution, kann sie die Zerstörung, die sie einfordert, nicht umsetzen. Das ist der springende Punkt, der in dieser Diskussion fehlt: Ob Black ihren Aufruf zur Zerstörung nun wörtlich oder rhetorisch meint – er kann nur als letzteres verstanden werden, als Geste des gerechten Zorns einer Person, die ihn nicht ausführen kann. Blacks Ohnmacht angesichts der Rassengewalt sollte daran erinnern, was wir riskieren, wenn wir die Stimmen von Minderheiten unterdrücken, und wenn sie noch so extrem erscheinen mögen.

Black ist nicht die erste Künstlerin, die um der Gerechtigkeit willen zur Zerstörung eines Kunstwerkes aufruft. Ein anderes wirkungsvolles Beispiel findet sich in Horst Hoheisels Ein unübersehbares Zeichen (1995), einer Wettbewerbseinreichung zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das vorsah, kein neues Wahrzeichen zu schaffen, sondern ein altes zu zerstören – das Brandenburger Tor zu Staub zu zermahlen und ihn auf der Stätte zu zerstreuen, die dem neuen Denkmal zugewiesen worden war. Hoheisels Entwurf ersetzt die bombastische Präsenz eines traditionellen Denkmals mit seiner augenfälligen Absenz. Wie Black insistiert er darauf, dass keine Schöpfung den Verlust menschlichen Lebens gutzumachen vermag. Verbrennen ist eben doch möglich; sein Projekt dagegen war es nicht. Hoheisel konnte kaum erwartet haben, den Wettbewerb zu gewinnen. Sein Beitrag stellte zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für das Brandenburger Tor das, denn er war nie in der Position, es zermahlen zu können. Die Macht seiner Geste ist daher ihr Paradox: Die Zerstörung des Tors ist gleichermaßen zu viel und zu wenig verlangt um den Mord der sechs Millionen aufzuwiegen. In seiner Ohnmacht erinnert er an die Grundfrage aller Identitätspolitik, der sich auch Black stellt: Es kommt nicht nicht nur darauf an, wer sprechen darf, sondern auch, wer wirklich gehört wird.

Censorship now!!

Das die Geschichte der Unterdrückung den Zensurbegriff verkompliziert, ist interessanterweise das Thema eines anderen Werkes der diesjährigen Whitney-Biennale, das nur ein paar Schritte von Open Casket entfernt ausgestellt ist. Frances Starks Ian F. Svenonius’s „Censorship Now“ for the 2017 Whitney Biennial (2017) nimmt sehr viel mehr Ausstellungsfläche ein als Schutz’ Gemälde und ist ohne Frage ein polemischeres Werk, wurde in der Presse aber vergleichsweise wenig beachtet. Stark benutzte ihre acht großflächigen Leinwände wie die Doppelseiten eines Buches und kopierte Wort für Wort den titelgebenden Essay eines kleinen polemischen Buches von Svenonius, einem Underground-Musiker und noch weniger bekannten Autor. Censorship Now!! ereifert sich gegen Redefreiheit und behauptet, dass „wir heute Zensur brauchen“ – vor allem „Zensur in der Kunst, deren Sonderstatus, der sie gegen alle Schuldfähigkeit immunisiert, die degeneriert Ideologie erklärt und entschuldigt, die all diese ‚Freiheit’ möglich macht.“[11. Ian F. Svenonius, Censorship now, in: ders., Censorship now!!, New York: Akashic Books 2015.]

Stark machte das Buch zu ihrem Gegenstand, weil sie seinen Titel provokativ fand, und hat das Unbehagen, das er heraufbeschwört, selbst thematisiert. „Es ist der skandalöseste, unangenehmste Satz mit dem auseinanderzusetzen man sich als Künstler oder Kreativer oder Museumsbesucher vorstellen kann.“[12. Frances Stark, Audio guide stop for Frances Stark, http://whitney.org/WatchAndListen/AudioGuides/40?stop=24]Aber indem sie den gesamten Essay auf die Leinwand bringt, nicht nur seinen beunruhigenden Titel, und zwar in großen Lettern in einem großen Museum, macht Stark es schwer, Svenonius‘ Botschaft zu ignorieren. Und wenn man auch nur ein paar Zeilen des Textes liest, wird schnell deutlich, dass es Svenonius nicht um Zensur geht, wie wir sie für gewöhnlich verstehen. Statt Zensur von oben, diktiert von Regierungen, mächtigen Institutionen oder der Finanzelite, tritt er ein für eine „Volkszensur, eine Graswurzelzensur, eine Zensur als Aufstand.“ Es ist eine Zensur von unten. Svenonius geht es darum, dass trotz alles leidenschaftlichen Vertrauens in die „Redefreiheit“ manche Rede eben doch freier ist als andere. Qualität und Expertise mögen nebulöse Kriterien sein, aber sie haben wenig zu tun mit Erfolg in Kunst, Literatur, Musik und sogar Journalismus, deren Verbreitung von den Verbindungen, finanziellen Ressourcen und, natürlich, der Identität ihrer Schöpfer abhängt, beruht sie nun auf Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder etwas anderem. Statt dies passiv zu akzeptieren, drängt Svenonius darauf, dass „we the people“ uns aktiv für jene Werke einsetzen sollten, von denen wir glauben, dass sie eine Plattform verdienen – so wie Stark es tat, als sie ihm die ihre zur Verfügung stellte – und uns auch gegen die Werke aussprechen, die wir für inakzeptabel halten.

Wie kann so eine „Graswurzelzensur“ aussehen? Eine Antwort liefert Blacks Brief. Durch die Linse des unkonventionellen Verständnisses von Redefreiheit betrachtet, das Svenonius und Stark artikulieren, unterscheidet sich Blacks Aufruf zur „Zensur“ grundsätzlich von den Machenschaften von Medienkonglomeraten, repressiven Regierungen und reichen Mäzenen. Er ist ein Plädoyer für die Umverteilung von Redefreiheit und eine Mahnung, dass der Mord an Emmett Till keine Sache der Vergangenheit ist, sondern unsere Gegenwart bestimmt. Adorno schließt seinen Essay: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“ Solange also die rassistische Vergangenheit Amerikas noch lebendig ist, solange sie weiter die Leben und den Lebensunterhalt von Schwarzen zerstört, sollte man diesen Aufruf zur Zensur nicht als Akt der Zerstörung begreifen, sondern als Mahnmal für das betrachten, was bereits Opfer der Zerstörung wurde.