Mädchenbande

Ich habe den Großteil meiner Kindheit und den Anfang meiner Jugend mit Bücher lesen verbracht. Auf Familienfesten wurde sich über mich lustig gemacht, weil ich immer in irgendeiner Ecke saß, las und meine Umwelt ignorierte. Wahrscheinlich hat mich nichts so sehr geprägt wie das, was ich damals gelesen habe.

Ich habe das Lesen nie aufgegeben, aber irgendwann begannen mich andere Dinge mehr zu interessieren. Bier trinken im Park zum Beispiel. In dem Freundeskreis, in dem ich mich dort bewegte, waren viele in der Antifa. Dieser Freundeskreis bestand, bis auf mich und ein paar Freundinnen, ausschließlich aus Jungs. Ich genoss dieses Ungleichgewicht der Geschlechter. Es kam mir und meinen Freundinnen cooler vor, mit fünfzehn Jungs abzuhängen als mit fünfzehn Mädchen. Bis auf unsere Kleidung (wir trugen weiterhin Blumenröcke und bunte Sachen von H&M) unterschieden wir uns nicht von den Jungs: Wir tranken genauso viel, blieben genauso lang wach und pöbelten, wenn uns danach war.

Irgendwann löste sich der Freundeskreis auf, ich ging nicht mehr in den Park und rutschte stattdessen in die Technoszene. Auch hier waren wieder die Männer in der Überzahl, mit Abstand. Auch hier unterschied sich mein Verhalten nicht von dem der Männer: Ich blieb immer bis zum Ende, nahm auch meist noch die Afterhour mit, kaufte mir meine Drogen selbst und machte mich über die Frauen lustig, die sich ihre nur schnorrten. Ich genoss es, eine von den wenigen „coolen Frauen“ zu sein, ich genoss es, dass ich beim Verlassen des Clubs gefragt wurde, ob ich nicht noch mit nach Wedding fahren wollte, wo ich dann mit einer großen Gruppe an Männern und zwei, drei Frauen auf einem Dach chillte, bis die Sonne wieder unterging.

Nach dem Abi ging ich als Au-pair für ein Jahr nach London. Ich fühlte mich lost und fand keinen Anschluss, die anderen Au-pairs langweilten mich. Als ein Freund in die Stadt zog, begannen wir zusammen wegzugehen und ich bemerkte wieder, wie viel leichter es mir fiel, mit Jungsgruppen abzuhängen. Den Frauen, die ich traf unterstellte ich, dass sie mich als Konkurrenz sahen, selten kam ich mit ihnen ins Gespräch. Bei den Männern war das anders und sicher spielte dabei auch sexuelles Interesse eine Rolle. Dass diese „Freundschaften“ oft sehr oberflächlich waren, ignorierte ich.

Zurück in Deutschland begann ich Kreatives Schreiben in Hildesheim zu studieren. In meinem Jahrgang gab es genauso viele Männer wie Frauen, trotzdem war ich am Abend oft eine von wenigen Frauen und am Ende des Abends die einzige Frau. Auch bei Lesungen passierte mir das oft. Wenn wir anschließend noch zusammensaßen, kam es fast nie vor, dass Frauen in der Überzahl waren. Das Gegenteil war der Fall. Und genau wie damals in meinem Antifafreundeskreis kam ich mir auch hier besonders vor. Statt kritisch zu hinterfragen, warum das passierte, genoss ich diese Umstände. Ich hatte das Gefühl, ich hatte es geschafft: Ich war in einen Kreis integriert worden, zu dem andere Frauen nur schwer Zugang hatten, dass mir das trotzdem gelungen war, verstand ich als Aufwertung meiner Person.

Erst jetzt fange ich an mich zu fragen, wieso ich es überhaupt bevorzuge bzw. es mehr genieße mit Männern befreundet zu sein. Wieso erscheint es mir „cooler“ als einzige Frau, oder als eine von wenigen Frauen mit einer großen Gruppe Männern unterwegs zu sein? Und wieso ist in meiner Vorstellung ein Mann, der mit einer großen Gruppe Frauen unterwegs ist, nicht „cool“, bzw. wieso wertet ihn das nicht auf?

Die Problematik dieses genannten Musters und die Problematik in meinem eigenen Verhalten bzw. in meinem Einschätzen der Situation werden mir gerade erst so richtig bewusst. Ich füge mich gut ein in dieses System aus „homosozialen Männergemeinschaften“, das Alina Herbing bereits in ihrem Artikel „Spaß haben und blödes Zeug reden“ beschrieben hat. Leider setzt sich der Literaturbetrieb aus sehr vielen solcher Männergemeinschaften zusammen. Frauengemeinschaften kommen dagegen fast nicht vor. Nicht nur im Literaturbetrieb.

Ich denke an all die „Männergemeinschaften“, denen ich irgendwie mal angehörte und mir fällt das Wort Bande ein. Ich kenne Banden vor allem aus Büchern, also durchforste ich bei meinen Eltern das Bücherregal meiner Schwester, das zu achtzig Prozent Bücher beinhaltet, die mal mir gehört haben. Darunter Der Zauberer von Oz, Die wilden Kerle, Vorstadtkrokodile, Die rote Zora und ihre Bande, TKKG, Der Herr der Diebe, Emil und die Detektive, Der Krieg der Knöpfe. Alles mehr oder weniger Bücher über Banden, aber all diese Banden bestehen nur aus Jungs, mit Ausnahme des einem Quotenmädchen[1. Der Zauberer von Oz – der Löwe, der Scheuch, der Blechmann und Dorothy, die Wilden Kerle – alles Jungs bis auf Vanessa, Die Vorstadtkrodile – Olaf, Theo, Peter, Willi, Otto, Hannes, Kurt und Maria, Die Rote Zora und ihre Bande – Branko, Nikola, Pavle, Đuro und Zora, TKKG – Tim, Karl, Klößchen und Gaby, Der Herr der Diebe -Bo, Prosper, Mosca, Riccio, Scipio und Wespe, Emil und die Detektive – Emil Tischbein, Gustav mit der Hupe, der kleine Dienstag, Fliegender Hirsch u.a. (m) und Pony Hütchen, Der Krieg der Knöpfe – Lebrac, Kleiner Gibus, Großer Gibus, Aztec u a. (m) und Marie.].

Ich google Mädchenbande Kinder- und Jugendbücher. Bis auf Die Wilden Hühner von Cornelia Funke bekomme ich vor allem Bücher vorgeschlagen, in denen Mädchen-Cliquen (nicht Banden!) langweilige Dinge machen, aber dabei wirklich fast nie Rätsel lösen, Verbrechen aufdecken, Streiche spielen oder Abenteuer erleben.

Der Typus „cooles, starkes Mädchen“ funktioniert anscheinend in der Kinder- und Jugendbuchwelt vor allem dann, wenn die anderen Figuren Jungen oder Männer sind. Andere Frauenfiguren, die in diesen „Männerwelten“ noch auftauchen, sind entweder die Mutter oder die nervige Schwester. Darüber hinaus finde ich wenig Nuancen. Und selbst bei Büchern wie Ronja Räubertochter oder Tintenherz, in denen ein Mädchen die Hauptfigur ist, sind oft die wichtigen Bezugspersonen/Vorbilder/Personen zu denen sie aufschauen, Männer.

Aber zurück zu Banden. Laut Duden ist eine Bande eine Gruppe gleich gesinnter Menschen. Bei Banden fallen mir Begriffe wie Kollektivität, Zusammenhalt, Unterstützung und Solidarität ein. Eine Bande ist stärker als ihre einzelnen Mitglieder. Wieso aber sprechen Kinder- und Jugendbücher Mädchen die Fähigkeit ab, sich zu Banden zusammenzuschließen? Wieso ist Bandenbilden ein „Jungsding“?

Ich wünsche mir, dass Mädchenbanden die Kinder-und Jugendbücher übernehmen, oder noch besser Banden, bei denen es keine Rolle spielt, ob die Mitglieder einen Penis oder eine Vagina haben. Worauf es doch ankommt, ist, dass die Figuren an sich selbst glauben, mutig, neugierig, offen und empathisch sind, weinen, wenn ihnen danach ist oder schreien, wenn sie wütend sind, nicht aufgeben, auch nicht in schwierigen Situationen und zusammenhalten, ganz unabhängig von ihrem Geschlecht.

Weil die Literatur bekanntlich immer ein bisschen langsam ist und nicht erst meine Kinder coole Banden bilden sollen, werde ich dafür jetzt eben in der Realität Banden bilden. Banden, die Mädchen und Frauen nicht vorenthalten werden. Und ich will versuchen, die männerdominierten Banden, von denen ich schon Teil bin, auch zugänglicher für andere zu machen, also für Personen, die nicht weiß, heterosexuell und männlich sind, weil wir dann endlich Banden für mehr nutzen können, als verbrüdert um sechs Uhr morgens Bier zu trinken.

Helene Bukowski studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und ist Mitherausgeberin der BELLA triste.

 

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