„Was, wenn der Streit der Grund für unseren Fortschritt wäre?“

Irritation und Innovation am Beispiel der TV-Serie The Big Bang Theory und Ludwik Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache

Eben schlug ich das Mitgliedermagazin meiner Hausbank auf. Das Titelthema lautet: „Gemeinschaftlich. Mehr Miteinander bitte!“ Im Editorial heißt es: „Gemeinschaftsgefühl steht derzeit hoch im Kurs. Das ist erfreulich. Aber gleichzeitig geht es auch wieder des Öfteren um die Abgrenzung von anderen Menschen, Staaten und Kulturen. […] Was sind Gemeinschaften, aus denen etwas Positives für alle erwächst?“ Innovation, Gemeinwesen, Inklusion, Vertrauen, Brücken über Kontinente, gemeinschaftliches Tun und soziale Prozesse sind weitere – eindeutig positiv besetzte – Schlüsselbegriffe des Textes.

Nicht nur bei meiner Hausbank, auch in den Wissenschaften und in den Künsten spielen gemeinschaftliches Tun, Kooperation und Kollaboration – letzterer Begriff war vor allem im Deutschen bis vor kurzem noch negativ besetzt – aktuell eine zentrale Rolle. Begleitet wird diese Entwicklung von einem Lob der Empathie, also der Einfühlung und des Verständnisses. Unter Barack Obama erfuhr der Begriff in den USA eine starke Aufwertung, der Soziologe Jeremy Rifkin schrieb der Empathie in seinem Bestseller Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein (2010) nachgerade erlöserische Qualitäten zu. Die Gründe für diese Entwicklung liegen auf der Hand. Viele Herausforderungen der rundum vernetzten, globalisierten, hybridisierten Gegenwart, beispielsweise in der Gesundheits- oder Geschlechterforschung, lassen sich nicht durch monodisziplinäre Ansätze meistern. So gilt etwa nicht mehr die Frage danach, wie die Gesellschaft das Gender prägt, sondern wie soziale und biologische Faktoren hierbei zusammenwirken, als erkenntnisleitend – willkommen in der Epigenetik. Ohne Verständnis für die Belange Anderer und Einfühlung in deren Gemütslagen geraten auch international und global aufgestellte Unternehmen ins Hintertreffen (das Konzept der „Glokalisierung“ entstammt adaptiven ökonomischen Ansätzen aus Japan). In den Künsten wiederum ist die Kritik am Mythos des heroischen Einzelkämpferkünstlers der Moderne nach wie vor virulent. Auch möchten viele Artivisten – ein Kofferwort aus artist und activist – der Refeudalisierung des Kunstbetriebs entgegenwirken. Zusammenschlüsse wie das Berliner Agora Collective und Organisationen wie die Gulf Labor Artist Coalition sind die Folge.

Während es unbestritten ist, dass Kooperation und Kollaboration wie auch Partizipation wertvoll, ja oft unumgänglich sind, begegnet man doch mitunter, wie bei der Lektüre des erwähnten Bank-Magazins, einer allzu frohen Botschaft ob ihrer segensreichen Qualitäten. Manchmal scheint es, als führten Kooperation und Kollaboration fast unausweichlich zu mehr Harmonie, Verständnis, Respekt, Komplexitätskompetenz, Fortschritt, Innovation. Doch ist dies, um eine Gegen-Binse ins Feld zu führen, keineswegs automatisch der Fall. Komplexität kann frustrieren und eine Sehnsucht nach dem Einfachen wecken; intensiver Austausch kann zu Stress führen und zur Gegenreaktion der Abschottung führen, usf.

Was die Innovation betrifft, so speist sie sich vielleicht gerade nicht aus denjenigen Formen des Zusammenarbeitens, welche vom Ideal eines sinnvollen, glücklichen, einfühlsamen, produktiven Miteinanders überformt werden. Innovation, so die hier vertretene These, basiert eher auf der Bereitschaft und dem Willen zu Irritation, Streit, Unvorhersehbarem und Emergenz als auf dem Verlangen nach einer harmonischen Ökumene, deren Resultate – Innovation! Verständigung! bessere Welt! – bereits im voraus festgelegt wurden.

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Die Folge The Fluctuation Collaboration aus der 10. Staffel der TV-Serie The Big Bang Theory bietet in diesem Zusammenhang eine erhellende Fallstudie. Da kooperieren die Neurobiologin Dr. Amy Farrah Fowler und der theoretische Physiker Dr. Dr. Sheldon Cooper, im Privatleben ein Paar, zum ersten Mal als Wissenschaftler. Konkret geht es darum, Amys neurowissenschaftliche Experimente zu Entscheidungsverfahren (decision making) mit Sheldons Überlegungen zum „Messproblem“ (measurement problem) in der Quantenmechanik zu kombinieren, um die Rolle des Bewusstseins in Niels Bohrs und Werner Heisenbergs „Kopenhagener Deutung“ (Copenhagen interpretation) zu widerlegen.

Zunächst stellen Amy und Sheldon Regeln auf, um ihre Zusammenarbeit zu strukturieren und negative Auswirkungen auf ihre Paarbeziehung zu verhindern. Nach einem kurzen Streit einigen sie sich auf ein Set von ground rules; unter anderem darauf, dass sie ein Team sind und nicht miteinander konkurrieren. Voller Enthusiasmus beginnen sie ihre Zusammenarbeit: „Biology and physics coming together, that’s like the peanut butter cup of the mind“, frohlockt Sheldon. Zu den Klängen des Turtles-Songs Happy Together (1967) nimmt das Experiment in Harmonie und Glückseligkeit seinen Gang. Allein, was dabei herauskommt ist – „complete garbage“, wie Amy enttäuscht feststellen muss.

Erst nach einem Streit, in dem sich die beiden Forscher anblaffen und persönlich beleidigen, kommt Amy die zündende Idee. Halb erfreut, halb ernüchtert konstatiert sie: „We finally make progress. I wish we could do it without fighting.“ Darauf Sheldon: „What if the fighting is the reason we make progress?“

Seine Vermutung trifft ins Schwarze. Bereits im Jahr 1935 hatte der Immunologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck in seinem Buch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache den Begriff des „Denkstils“ geprägt. Gerade auch hochprofessionelle Forschungs- und Wissenschaftskollektive, so Fleck, neigten dazu, einen geschlossenen, also in sich harmonischen „Stil“ mit starker Beharrungstendenz zu bilden. Dieser Stil entscheide implizit darüber, was legitimerweise gedacht werden kann und darf. In der Extremform „sozialer Verdichtung“,[1. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 66.] also durch Homogenisierung des Kollektivs, münde er in einen „Denkzwang“. [2. Ebd., S. 85: „Denkstil ist nicht nur diese oder jene Färbung der Begriffe und diese oder jene Art sie zu verbinden. Er ist bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamtheit und noch mehr: die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln.“] Um diesen Hemmschuh des Fortschritts zu dekonstruieren, fragte Fleck nach den Voraussetzungen dessen, was in den jeweiligen Denkkollektiven als „voraussetzungslos“ gesetzt wird. Denn für Fleck galt: „Was wir als Unmöglichkeit empfinden, ist nur Inkongruenz mit dem gewohnten Denkstil. Umwandlung der Elemente und vieles andere aus der modernen Physik, von der Wellentheorie der Materie ganz zu schweigen, galten vor unlängst als vollkommen ‚unmöglich‘.“ [3. Ebd., S. 66.]

Durch die besondere Berücksichtigung dynamischer, wissenschaftsexterner Faktoren, etwa der sozialen Interaktion– man könnte auch sagen: Kollaboration und Kooperation – im Forschungsprozess, sowie der konstitutiven Rolle des Missverstehens und der Regelverletzung in der Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen gelangte er zu einem relationalen, nicht jedoch relativistischen Wissenschafts- und Wahrheitsverständnis, das auch eine „Zick-Zack-Linie … von Zufällen, Irrwegen und Irrtümern“ beinhaltet.[4. Ebd., S. 28.]

Vergleichbar mit ruhenden Körpern in der Physik können sich Wissenschaft, Forschung, Innovation nicht von selbst in Bewegung setzen. Sie benötigen Impulse und Anstöße von außen. Mit einem Begriff der Systemtheorie könnte man hier auch von der Unabdingbarkeit der „Irritation“ sprechen, vom „Rauschen“, das noch undefiniert, noch nicht dem spezifischen Code eines – autopoietischen – Systems angepasst ist.[5. Vgl. Detlef Krause, Luhmann-Lexikon. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S. 169.] Diese dynamisierenden Irritationen und externen – oder exoterischen – Anstöße sind vielfältiger Art, mal komplexer, mal banaler – bei Amy und Sheldon ist es ein letztlich infantiler persönlicher Streit, der einen Riss in der „sozialen Verdichtung“ (hier: Liebe) erzeugt und die festgefahrenen Gedanken in Bewegung versetzt: „Das Wissen ruht eben auf keinem Fundamente; das Getriebe der Ideen und Wahrheiten erhält sich nur durch fortwährende Bewegung und Wechselwirkung“,[6. Fleck, S. 70.] wie Fleck richtig schrieb. Aus naturwissenschaftlicher Perspektive hält Amy fest: „I suppose it’s conceivable that the hormones associated with our fight-or-flight-response could be sharpening our cognitive processes.“

Vor diesem Hintergrund erscheinen blumige Verlautbarungen, die implizit oder explizit eine harmonisch-empathische Welt des Kooperierens-Kollaborierens mit Verheißungen von Fortschritt und Innovation verbinden, reichlich fragwürdig.

Nachdem Streit, Ärger und Irritation Amys und Sheldons kollaborative Forschung endlich auf die richtige Spur gebracht haben, begehen die beiden jedoch einen fatalen Fehler: Sie versuchen, die Irritation zu reglementieren, konventionalisieren und institutionalisieren. So beginnt Sheldon, Amy gezielt zu beleidigen, um zu noch innovativeren Ergebnissen zu gelangen, was anfänglich sogar Erfolge zeitigt. In einem revidierten Kollaborationsregelwerk halten sie zudem fest, welche Beleidigungen legitim sind. Doch wer die Irritation zum Normalfall erklärt und den Ärger zur Regel, der nimmt der Irritation das Irritierende und dem Ärger das Ärgerliche. Das Scheitern innovativer Zusammenarbeit ist damit vorprogrammiert.

Insbesondere für Kunsthochschulen ist das Beispiel Amys und Sheldons von hoher Aussagekraft. Wenn der Geist der Avantgarde, der sich nicht zuletzt an der Kritik an Institutionen, Konventionen und ihren hegemonialen Normen entzündete, seinerseits institutionalisiert und normiert respektive normalisiert wird, verliert er seine Kraft. Aufforderungen wie „seid Renegaten!“, „hinterfragt die Autorität!“ oder „kritisiert die Institution!“ sind sicherlich gut gemeint, können jedoch zum Gegenteil des Beabsichtigten führen. Irritation lässt sich nicht curricularisieren; Streit lässt sich nicht in ECTS-Punkten kanalisieren; Kritik hat als Hausaufgabe einen schweren Stand. Die lehrplankonforme Anforderung „seid rebellisch!“ ist vor allem dann problematisch, wenn sie auf die Ausbildung eines geschlossenen Denkstils und entsprechender sozialer Verdichtung abzielt. Systeme, denen das Rauschen an den Rändern verloren geht, werden träge und selbstgenügsam.

Mit Kooperation und Kollaboration verhält es sich genauso. Nicht in der Konventionalisierung, nicht in der Beschwörung unausweichlicher Segnungen oder in der Verheißung milieuübergreifender Harmonie, sondern in der Bereitschaft dazu, im Zusammenarbeiten emergente Effekte zuzulassen und sie zu reflektieren, wie es Amy und Sheldon im ersten Schritt taten, liegt das eigentliche Potential von Kooperation und Kollaboration. Auf den zweiten Schritt, also auf die Konventionalisierung und Institutionalisierung der Irritation wie auch auf die systemkonforme Kopplung des Exoterischen, kann getrost verzichtet werden.