Du musst nicht performen

Dieser Text ist ein performativer Widerspruch. Denn er argumentiert zur Frage: Was tun als weißer, heterosexueller Mann im mittleren Alter, der im Kulturbetrieb tätig ist? Die Antwort ist eigentlich: zuhören. Auf keinen Fall voreilend gehorsam jenen, die jetzt sprechen, durch Überidentifikation ihre Rede nehmen. Sich nicht als aufgeklärter Feminist bezeichnen und Lob dafür erwarten, sondern zuhören und lernen, was falsch läuft und welches Verhalten ausschließende und abwertende Strukturen stabilisiert. Anschließend versuchen, das eigene Verhalten an den daraus entwickelten Leitlinien zu verändern. Und doch tut dieser Text genau das: Er hört nicht zu, nimmt selbstbewusst einen Platz ein, vertritt vehement seine Ansicht. Deshalb auch überlegen, wo die eigenen Lügen stecken, wo die Heuchelei mitläuft, wo der psychische Selbsterhalt blinde Flecken in der Eigen- und Fremdbewertung schafft. Performative Widersprüche benennen: Vielleicht komme ich so heran, vielleicht geht es darum.

Im Studium habe ich mich viel und kontinuierlich mit feministischer, emanzipativer und geschlechtertheoretischer Literatur beschäftigt. Mein Denken ist stark von dort aufgenommenen Analysen und Thesen geprägt. Und doch verhalte ich mich manchmal in einer Weise, die den von mir vertretenen Zielen einer Befreiung und Diversifikation der Geschlechterbilder und einer Behebung geschlechtsgekoppelter Ungerechtigkeiten entgegensteht.

In Seminaren habe ich manchmal lange und ausschweifend mein kurz vorher angelesenes Wissen und spontane Assoziationen ausgebreitet, ohne daran zu denken, dass anderen sicher auch etwas dazu eingefallen wäre. Das hat mich als Hiwi an einen von einem männlichen Professor geführten Lehrstuhl gebracht, an dem ich dann noch vier andere männliche Hiwi-Kollegen hatte. Bei vielen Gelegenheiten bin ich nach Lesungen und anderen Veranstaltungen lange in die Nacht hinein geblieben und habe bis zum Morgen Biere getrunken, oft ausschließlich mit anderen Männern. Dabei entstanden nicht selten Pläne, wurden Einladungen ausgesprochen oder über die sexuelle Attraktivität von anderen gesprochen, vielfach in einer Weise, die ich nicht in Ordnung fand. Ich habe trotzdem gelächelt und meine Zustimmung signalisiert, anstatt etwas dagegen zu sagen; immer an der Übereinkunft orientiert. Es waren größtenteils schöne, unbeschwerte Abende, über deren fragwürdige Aspekte ich bis vor kurzem kaum nachgedacht habe.

Wenn ich mich durch sexistische Handlungen oder Handlungen, die strukturellen Sexismus begünstigen, schuldig gemacht habe, liegt die Verantwortung selbstverständlich bei mir. Im besten Fall waren sie nur nervig und dumm, nicht verletzend, wie ich sehr hoffe. Die Begründung dafür jedoch will ich wiederum im Durchsetztsein meines Selbstkonzepts mit Bildern von Weiblichkeit, Männlichkeit, Zwischen- und Ungeschlechtlichkeit, die in der Gesellschaft zirkulieren, suchen.

Wenn sich Strukturen von Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen über Generationen hinweg zu ändern beginnen, kann es zu merkwürdigen Gleichzeitigkeiten kommen. In der Geschichte meines Sozialwerdens haben viele, teils konkurrierende Rollenangebote und Identifikationsflächen ineinandergegriffen, so dass ein streckenweise widersprüchlicher Habitus entstanden ist.

Im einen Teil der Familie wurden Unterhaltungen geführt, in denen die Männer abwechselnd halbstündige Monologe über Politik und die Lage der Welt hielten: Es waren Redeflüsse, in denen die völlige Abwesenheit von turn-taking-points beeindruckend war. Die Frauen am Tisch schwiegen. Fast nie habe ich die Meinungen meiner Großmutter und meiner Tanten zu einem aktuellen Thema gehört. Im anderen Teil der Familie indes war die völlige Abwesenheit des Männlichen beeindruckend: der Großvater als gewalttätiger Alkoholiker im Heim (zumindest ist dies das einzige, was ich von ihm weiß), mein Vater als eifersüchtiger und brüllender Kontrollfreak aus dem Haus gebeten (er kann auch ein einfühlsamer und liebesfähiger Kerl sein, das konnte ich erst später erfahren). Zu Hause im auch sonst eher an der linken Bürgerbewegung ausgerichteten Bücherregal stand ein Titel, an den ich mich noch gut erinnere und der mich als Heranwachsender fesselte: „Hilfe! Mein Sohn wird ein Macker“ von Katja Leyrer. Eine Anleitung, wie es sich als Mutter vermeiden lässt, dass das Kind patriarchale Verhaltensweisen erlernt (seitdem ich es gelesen hatte, wollte ich um alles kein Macho, kein Chauvi werden). Was im einen Erfahrungsraum der Familie als mannestypisch bereitlag, stieß mich ab, im anderen habe ich mich nach positiven, vielschichtigen Rollenmodellen gesehnt, die mir eine Identifikation mit meiner eigenen Männlichkeit ermöglicht hätten. So nahmen nach und nach als „normal“ geltende, aber für mich absolut unpassende Männerbilder den Raum dieses Wunsches nach einem komplexen Selbstkonzept ein: Ich glich mich immer mehr mit Klischees ab, die von anderen vertreten wurden. Diese anderen glichen sich wahrscheinlich mit denselben Klischees ab, von denen sie dachten, dass ich sie verträte. Ich weiß, als Teenager habe ich mich für meinen Körper sehr geschämt: klein, nicht raumnehmend, nicht muskulös (aber welcher Teenager tut das nicht?). In etwas reiferer, reflektierterer Form tue ich das auch heute noch (aber welche*r Erwachsene*r tut das nicht?).

Eine Zeit lang bin ich als Kind regelmäßig zum Fußballtraining gegangen, habe aber aufgehört, als es körperlich zur Sache ging, Zweikämpfe geführt wurden, der Trainer bei Spielen über den Platz schrie; als Aggressivität ins Spiel kam also. Die Kritik war nicht ganz offensiv, aber sehr subtil: Es ging in Richtung „Weichei“. Von manchen Unternehmungen habe ich mich abgestoßen gefühlt (auch damals schon bewusst mit dem Ziel der Abgrenzung: Ich wollte kein richtiger Junge sein). Mitgemacht habe ich doch immer wieder: Ich war in einer Bande, bin auf Bäume geklettert, habe mit dem Fahrrad meterlange Spuren auf den Sandweg gebremst und öfters gerauft und gerangelt. Wenn ich allein war, und ich war sehr gerne allein, habe ich mit Puppen gespielt, Kassetten gehört, viel gelesen. Das lag mir eher, aber es war nun mal „komisch“ für die anderen Jungs. Ein bisschen „Schwuchtel“, sagte mal einer.

Es ist zwiegesichtig, ambivalent. Aus dem Bewusstsein einerseits, nicht völlig dazuzugehören, auf irgendeine Weise defizitär zu sein, und andererseits dem Wunsch nach völliger Zugehörigkeit und Anerkennung vom gleichgeschlechtlichen Umfeld („ja, du bist nach unseren Kriterien ein Mann“), könnte mein Hang zum Männerbündeln kommen: Dort fühle ich mich am wohlsten und unwohlsten zugleich; verstanden im Wunsch, dabei zu sein, missverstanden im Wunsch, auf meine Weise zu sein. Ich wollte von meinem Professor, von meinen Hiwi-Kollegen, will von meinen Arbeitskolleg*innen im Literaturbetrieb, anderen Autor*innen akzeptiert werden. Aber warum als Mann, warum nicht als Mensch?

So half und helfe ich tagtäglich Modelle und Strukturen zu festigen, die ich eigentlich nicht reproduzieren will. Vielleicht ist der Hang zur Männerbündelei im Kulturbetrieb ein Zusammenspiel aus Etablierung und Überkompensation: Einige wenige setzen die Regeln, manche sicher unbewusst, manche aber vermutlich auch aus überzeugtem Chauvinismus, und viele andere übererfüllen sie, um teilzuhaben. Vielleicht ist er auch ein Resultat unzureichend komplexer Rollenbilder, aus denen jene doppelgesichtige (ernst und ironisch gemeint zugleich) und vermeintlich reflektierte Affirmation „klassischer“ männlicher Sozialformen (Sport, Kneipe, Arbeit) im Kulturbetrieb erwächst. Die inszenierte Männlichkeit meines urbanen, bildungsbasierten Milieus, zusammengebastelt aus vermeintlich positiv besetzten Tugenden wie Handlungsschnelligkeit, Richtungsgewissheit, Deutungsvormacht, ironischem Witz, Genießertum, Weltläufigkeit, Schlagfertigkeit, Lockerheit, Heiterkeit, Umtriebigkeit, Meinungsstärke, rastlosem Schaffen, aber auch Lehrergläubigkeit und Meisterorientierung hat mich immer angezogen und ich habe mich in meiner Sozialisation stark daran orientiert. Andererseits finde ich die Inszenierung, wenn ich sie sehe, albern und möchte diejenigen, die sie ausführen, immer in den Arm nehmen und sagen: Ihr seid OK, wie ihr seid, ihr müsst gar keine Stärke repräsentieren, das ist ohnehin nicht besonders sympathisch. Anziehend ja, aber nicht unbedingt sympathisch. Auch ich habe mich immer nach Anerkennung gesehnt und für sie abgestrampelt und müde gemacht. Aber Selbstbewusstsein mit Selbstgeilheit zu verwechseln, das passiert leider schnell. Ich bin nun oft ohne Lust, noch solcherart zu performen.

Dieser Text war ein Versuch, darüber nachzudenken, warum ich mich verhalte, wie ich mich verhalte, fühle und denke wie ich fühle und denke. Vielleicht ist es möglich, sich in einigem wiederzuentdecken. Jedenfalls will ich nicht versuchen, meine Meinungen und Erfahrungen als potentiell universell zu sehen. Es mag bei anderen ähnliche Gründe zur Männerbündelei geben oder auch nicht: Jemandem aus einem eingebildeten Vorsprungswissen heraus Motive und unbewusste Prozesse zu unterstellen ist ja auch eine Form des Übergriffs. Ich will deshalb auch keine neue Inszenierung, die aus Betulichkeit und fein kultivierter Fremd- und Selbstsorgsamkeit besteht und bei der die Fähigkeit zur Selbstreflektion und -positionierung als weiteres Anzeichen der eigenen Perfektion gereicht. Ich wünsche mir weniger Gewissheiten bei den Wahrnehmungs-, Deutungs-, Bezeichnungsmustern, weniger Homogenität und glatte Geschliffenheit im Denken. Dass die Leute sich streiten und widersprechen, sich erzählen, warum sie wie geworden sind, sich einfühlsam auseinandersetzen. Wir sollten einander schlicht fragen: Wie verhältst du dich und warum? Wie fühlst du und warum? Und sagen: Es ist okay, beim Überschneiden der Rollenbilder im Brennpunkt der Eigenheit überfordert zu sein; es ist okay, wenn das eigene Geschlecht fragil ist und sich aus vielen Identifikationen zusammensetzt. Der Leitsatz wäre: Du musst nicht performen.

Das würde vielleicht zu passenderen, weil diversifizierten, vielschichtigen und in sich widersprüchlichen Identifikationsangeboten und Vergleichsmöglichkeiten für diejenigen führen, die noch auf der Suche nach ihrem Selbstkonzept sind. Das heißt: Es würde besser. Ich würde uns deshalb allen gerne mehr Mut zur Verstörung wünschen, zur Unsicherheit. Und mehr Empathie, um das Erscheinen der Schwäche im öffentlichen Raum in die Stärke umzuwandeln, darüber zu sprechen.

Felix Schiller (* 1986) schreibt Lyrik und essayistische Prosa und hat als freier Literaturveranstalter für das Haus für Poesie Berlin, das Literaturbüro Freiburg und das Literaturhaus Stuttgart gearbeitet.

 

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