Vielbeachtete Intellektuelle der Gegenwart: Hohe Kultur? (Hohe Kultur 9)

Ein wichtiger historischer Zug der Bestimmung ‚hoher Kultur‘ lag in der genauen Angabe ihres Gegenteils – meist als ‚Massenkultur‘ (seltener als ‚populäre Kultur‘) bezeichnet. ‚Massen‘ können keine oder allenfalls eine mindere Kultur besitzen, das steht für bildungsbürgerliche Anhänger der hohen Kultur lange fest.

Nur Sozialisten und Kommunisten wollen mitunter das ‚bürgerliche Erbe‘ auch den ‚Massen‘ nahebringen, alle anderen Anhänger bildungsbürgerlicher ‚hoher Kultur‘ sehen vielmehr im ‚Volk‘ jene Instanz, die dereinst an die hohe Kultur herangeführt werden oder sie sogar revitalisieren könnte – falls sie nicht grundsätzlich solche volkspädagogischen Bemühungen entweder als illusorisch zurückweisen oder elitär missbilligen.

Bei Intellektuellen von Tocqueville bis Habermas, von Ortega y Gasset bis Clement Greenberg findet man eine Vielzahl solcher Anschauungen wider die kommerzielle, reproduzierte, modische, reizvolle Massenkultur, mit einem bedeutenden, bislang letzten Hochpunkt in den 1950er Jahren. Im Merkur sieht etwa Erich Kahler 1951 die abendländischen „Werte“ durch das Wachstum der Technik, durch „Massenproduktion“, „Standardisierung“, durch die von Kino, Radio, Reklame und Journalismus verbreiteten „Massenklischees“ vom Zerfall bedroht.

Gerade diese versuchte Abwehr der kommerzialisierten, technologisch weit verbreiteten Kultur eint sehr viele Intellektuelle – von Theodor W. Adorno bis Wilhelm Röpke – über eine längere Zeit, wenn sie sich auch sonst nichts zu sagen haben, ihre politischen Vorstellungen weit auseinanderliegen, selbst ihr künstlerischer Kanon sehr unterschiedlich ausfällt und sie mitunter (wie Adorno) die ‚hohe Kultur‘ sogar aufheben möchten.

Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass auch in der Gegenwart zumindest noch Spuren dieser intellektuellen Tradition vorhanden sind. Zwar findet sich unter heutigen Intellektuellen – also Künstlern und Wissenschaftlern, die sich, ausgewiesen durch ihre (renommierte) berufliche Position, zu fachfremden, aktuellen politischen, juristischen und sozioökonomischen Fragen äußern – niemand mehr, der ausdrücklich für die ‚hohe Kultur‘ einträte, vielleicht ist aber zumindest die Konvention der ‚Massenkulturkritik‘ gegenwärtig noch wirksam.

Diese Hypothese verfügt zudem über eine gewisse Stütze durch Anhaltspunkte in der jüngeren Vergangenheit. Mit Michel Foucault und Pierre Bourdieu können immerhin zwei der wichtigsten Stichwortgeber heutiger Intellektueller angeführt werden, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch einschlägig geäußert haben.

Foucault erklärte im historischen Rückblick die „Trivialliteratur“ zum Bestandteil jenes erfolgreichen Versuchs, das subalterne Wissen (das „populäre Gedächtnis“ des Widerstands und der Kämpfe) zu blockieren und aufzulösen („Anti-Rétro“ [Interview], 1974). Die „kommerzielle Massenliteratur“ seiner Zeit hielt er folgerichtig ebenso wie das Fernsehen schlicht und einfach für arm und leer („M. Foucault“ [Interview], 1978).

Bei Bourdieu trifft man in noch mehr intellektuellen ‚Interventionen‘ (sprich: in Interviews; auf Deutsch gesammelt in den Bänden Gegenfeuer) auf die Tradition der Massenkulturkritik: auf die Ablehnung der sentimentalen ‚soap operas‘ und der „einfach gestrickten Popmusik“ als Zeichen einer kommerziellen Macht, als bedrohlich sich ausbreitende, uniformierende Produkte der Kulturindustrie, durch die das mühsam erworbene europäische Erbe künstlerischer Autonomie der Zerstörung preisgegeben werde. Aber auch im Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ findet man stark konnotierte Begriffe wie z.B. „Fließbandprodukte des show business“.

Zweifellos klingt die Ausdrucksweise dieser kritischen Theoretiker einigermaßen antiquiert (zumindest in deutscher Übersetzung), daran kann man gut ablesen, dass solche Aussagen nicht mehr zum Standard heutiger Intellektueller gehören. Diese Feststellung trifft aber nicht uneingeschränkt zu. Eigentümlicherweise gilt sie nicht für viele der besonders bekannten intellektuellen Autoren, denen teils national, teils sogar international die Feuilletonspalten der sog. Leitmedien bzw. der Qualitätspresse stets offenstehen und die also zumindest unter den Redakteuren dieser Organe über viele Anhänger verfügen.

Ich kann hier keine statistische Auswertung als Beleg vorweisen und muss deshalb versuchen, durch die Nennung von Beispielen bzw. mit einer Aufzählung von Eigennamen von dieser These zu überzeugen. In der Tat glaube ich nicht, dass es so viele Gegenbeispiele gibt, dass angesichts ihrer Zahl die Menge der folgenden Namen publizistisch hoch erfolgreicher Intellektueller klein und zufällig erschiene: Botho Strauß, Harald Welzer, Byung-Chul Han, Peter Sloterdijk, Franco Berardi, Alain Badiou, Giorgio Agamben, Judith Butler – sie alle halten die Konsum- und Massenkulturkritik wach, sie geben sich manche Mühe, die Missstände der massenkulturellen Gegenwart einer kulturinteressierten Leserschaft wiederholt zu vermitteln.

Um wenigstens aus einem Beitrag eines dieser Intellektuellen in einem vielgelesenen (massenkulturellen, stark werbefinanzierten) Blatt zu zitieren, nämlich Giorgio Agamben in einem Interview mit dem Spiegel: „Es hat noch nie eine so strenge Kontrolle der Menschen gegeben. Die Kontrollinstrumente reichen von Markenartikeln, die man kauft, um besonders individuell zu erscheinen, über den psychologischen Anpassungsdruck am Arbeitsplatz bis hin zu Scheckkarten, Computer-, TV-, Navigations-, Handy-Geräten und digitalen Ausweisen.“ Zwar ist die Gleichsetzung von Markenartikeln mit digitaler Kontrolle schon bezeichnend genug, aber wer dennoch annimmt, diese Kritik sei einer Zuspitzung im Dienste liberal-demokratischer Einstellung geschuldet und beruhe nicht zentral auf der Massenkulturkritik, sieht sich von Agamben rasch eines Besseren belehrt: „Der Kapitalismus sorgt dafür, dass jede menschliche Tätigkeit verfremdet wird. Ich lebe in Venedig, einer Stadt, die der Massentourismus in ein komplettes Museum verwandelt hat. [D]urch diese totale Musealisierung [werden] die Bewohner einer Stadt zu Fremden in ihrem eigenen Leben“. Und wer nun glaubt, es ginge bloß um eine nachvollziehbare Kritik am speziellen venezianischen Tourismus, liegt abermals falsch. Es geht keineswegs um das besondere Leben des betroffenen Einwohners, die Lage Venedigs ist bei Agamben nur ein Symbol für die entfremdende Massenkultur allgemein: „Wie durch diese totale Musealisierung die Bewohner einer Stadt zu Fremden in ihrem eigenen Leben werden, so trennt der totale Konsumkult die Dinge und die Menschen von ihrem wahren Gebrauch. Das gilt es zu überwinden.“

Das ist ein großes Ziel, welches freilich in sehr weiter Ferne liegt. Überwinden kann man mit Mitteln der Konsum- und Massenkulturkritik aber immerhin schon hier und jetzt die Trennung zwischen einander entfremdeten Intellektuellen. Als Beleg dafür soll eine Äußerung Judith Butlers und ihre anschließende Diskussion dienen: Butler führte in einem Zeitschriften-Interview aus, die Ethnografin Lila Abu-Lughod habe sie einiges über das Tragen der Burka gelehrt: „More recently she [Abu-Lughod] has tried to make clear that the burka signifies lots of different things. It shows that a woman is modest, that she is still connected with her family, that she has not been exploited by popular culture, that she has pride in her family and community. It signifies modes of belonging to a wider network of people. To lose the burka is to undergo some loss of those kinship ties that is not to be underestimated. It can be a very powerful experience of estrangement or indeed of compulsory Westernization that leaves its scars. So we shouldn’t assume that Westernization is always a good thing. Very often it overrides important cultural practices that we don’t have the patience to learn about.“

Butler referiert offenkundig nicht nur diese Anschauung der Ethnografin, sondern macht sie sich zu eigen. Die Kosten der „Verwestlichung“ erscheinen ihr hoch zu sein, ‚nicht westliche‘ „kulturelle Praktiken“ sollten ihrer Ansicht nach darum geschützt werden, zumal wenn sie – wie etwa das Tragen der Burka – bedeuten, vor der ‚Ausbeutung‘ durch die ‚westliche‘ „populare culture“ zu schützen und Teil eines ‚gemeinschaftlichen‘ Zusammenhangs zu sein. Die poststrukturalistische Theoretikerin nähert sich hier also einem Klassiker des Konservatismus des 19. Jahrhunderts an: Sittlich-ständische, religiös-kulturelle Traditionen sollen vor der Zersetzung und Atomisierung durch den liberaldemokratischen Kapitalismus bewahrt werden.

Alice Schwarzer hat diese Aussage jüngst scharf kritisiert. Erst referiert Schwarzer: „So erklärte die in Berkeley lebende und lehrende Butler 2003 in einem Interview zum Beispiel zur Burka: ‚Sie symbolisiert, dass eine Frau bescheiden ist und ihrer Familie verbunden; aber auch, dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und stolz auf ihre Familie und Gemeinschaft ist.‘ Und weiter im O-Ton: ‚Die Burka zu verlieren bedeutet mithin auch, einen gewissen Verlust dieser Verwandtschaftsbande zu erleiden, den man nicht unterstützen sollte. Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen.‘“ Sofort darauf Schwarzers Kommentar: „Das geriert sich einfühlsam und edel, ist aber lebensfern und zynisch. Die algerische Politikerin Khalida Toumi (ehemals Messaoudi) nennt diese Art von Kulturrelativismus die ‚Kulturfalle‘: zweierlei Maß in Sachen Menschen-/Frauen-Rechte im Namen einer kulturellen Differenz.“

In unserem Zusammenhang fällt nun auf, dass in der deutschen Fassung aus Butlers „popular culture“ nun „Massenkultur“ geworden ist (wohl von Schwarzer dem Bändchen Krieg und Affekt entnommen, Übersetzung: Eva Redecker, Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch). Die Übersetzerinnen hätten leichterdings aus „popular culture“ ‚populäre Kultur‘ machen können, sie haben sich aber wohl dagegen entschieden, weil ‚populäre Kultur‘ gegenwärtig mehr positive Konnotationen aufweist und auch gerade als Oberbegriff für die ‚gemeinschaftliche‘, ‚nicht westliche Praktik‘ des Burkatragens stehen könnte (jene „important cultural practices“ aus der Perspektive Butlers). „Massenkultur“ soll das wahrscheinlich verhindern, dieser Begriff fällt hier ‚westlich‘ und negativ genug aus.

Schwarzer erkennt in den Aussagen Butlers folgerichtig nicht bloß eine Beschreibung dessen, was oftmals geschieht, wenn die Burka in bestimmten islamischen Gesellschaften abgelegt wird, sondern eine Kritik an solcher „Verwestlichung“. Diese kritische Haltung wird natürlich nicht nur an Butlers Gebrauch bestimmter negativ konnotierter Wörter („exploited“; „compulsory Westernization“) sichtbar, sondern auch und gerade durch ihre Wertung am Ende der Interviewpassage („So we shouldn’t assume that Westernization is always a good thing“). Schwarzer wiederum teilt Butlers Einschätzung nicht, sie erkennt im Ablegen der Burka keinen Akt der „‚Zwangsverwestlichung‘“, sondern einen Gebrauch „elementarste[r] Menschenrechte“. („Und diese Menschenrechte sind weder okzidental noch orientalisch, sie sind human und universell“, fügt sie an).

Grund genug also für eine tiefgreifende Auseinandersetzung und Abgrenzung. Doch am Ende von Schwarzers Text naht doch noch die Möglichkeit zur Einigung. Schwarzer zählt dort auf, welche Gefahren den „elementarsten Menschenrechten der Frauen“ gegenwärtig drohten. Den Frauen mache „gerade ein gewaltiger Rollback zu schaffen: von Trump bis Erdoğan, vom Konsumwahn bis zur Zwangsverschleierung.“

Auf einer Ebene mit der „Zwangsverschleierung“ befindet sich in Schwarzers Weltanschauung demnach der „Konsumwahn“. Das ist nicht weit von Butlers ‚Ausbeutung‘ der Frau durch die „popular culture“ entfernt. Wieder einmal stiftet die Kritik an der kommerziellen Massenkultur intellektuelle Übereinstimmung – eine Übereinstimmung sogar zwischen zwei sich stark misshellig beurteilenden Parteien.

Doch ist leicht zu erahnen, dass diese Übereinkunft nicht zu einer vollständigen Versöhnung führen wird, sondern höchstens zu Gemeinsamkeiten in bestimmten Konstellationen. Der Grund dafür ist einfach zu benennen: Die Gegnerschaft zur kommerziellen Massenkultur stiftet längst kein geteiltes Ideal hoher Kultur mehr, nicht einmal ein (post-)modernisiertes.

Selbst wenn es bei den hier namentlich angeführten Intellektuellen viele gemeinsame Kanoneinträge geben sollte – vielleicht etwa Platon und Simone de Beauvoir, Dada und Fluxus, Nouvelle Vague und New Wave, Billie Holiday und Madonna, John Coltrane und Velvet Underground, Proust und Woolf –, blieben zu viele von ihnen als wichtig erachtete Kanondifferenzen übrig oder die Idee des Kanons grundsätzlich umstritten. Die Negation der Massenkultur bewirkt kein positives Verständnis ‚hoher Kultur‘ mehr. Trotz der weiterhin stark verbreiteten Kritik an der kommerzialisierten ‚westlichen‘ Kultur unter vielbeachteten Intellektuellen führt dieser Ausschluss massenkultureller Güter zu keinem Kulturverständnis, das etwas größere intellektuelle Kreise vereinen würde.