Zeichenlust. Über Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“

I

Ein Verzeichnis aus Verzeichnissen: Ein Inhaltsverzeichnis, nicht so genannt. Eine Vorbemerkung, dessen erste Seite aus einer Liste von Dingen besteht, die verschwunden sind, während Verzeichnis einiger Verluste, das neue Buch von Judith Schalansky entstanden ist: der Marslander Schiaparelli, der Kopf der Leiche von Friedrich Wilhelm Murnau und die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte. Durch einen Seitenumbruch getrennt von einer weiteren Liste, die Dinge aufzählt, die während der Arbeit am Buch gefunden wurden, wiederaufgetaucht sind, entdeckt wurden: Zeichnungen Piranesis, die Wespenart Deuteragenia ossarium, der Grabhügel von Alexander des Großen Gefährten Hephaistion. Eine Vorbemerkung, die sagt: „Nichts kann im Schreiben zurückgeholt werden, aber alles erfahrbar werden.“ 12 Erzählungen, jede einer verlorenen Sache gewidmet, ein so bezeichnetes Personenverzeichnis ausschließlich toter Personen, ein so bezeichnetes Bild- und Quellenverzeichnis.

Der Titel des Bandes ist eine Irritation. Ein Verzeichnis ließe doch Vollständigkeit erwarten, diese Erwartung wird im zweiten Wort des Titels aufgehoben: Verzeichnis einiger Verluste. Die Logik des Verlustes trifft auch den Band selbst, einige Verluste sind schon verloren gegangen, haben es nicht ins Buch geschafft, wurden nicht bemerkt. Die Kompensation der Verluste im Verzeichnis erzeugt ein Wuchern der Verzeichnisse im Versuch, wenigstens die Verluste vollständig zu erfassen, die beschrieben werden. Die Verluste zeugen Verzeichnisse und zeugen Erzählungen. Es sind nicht die Verluste, die diesen Band treiben, es ist die Lust an der Produktion von Zeichen: Verzeichnis einiger Verluste. Sie zeigt sich im Katalog der Farben, der von einem nature writing-Stück über ein Caspar-David-Friedrich-Bild des Greifswalder Hafens aufgerufen wird, in der Aufzählung von Wissen und Nicht-Wissen über Sappho und in den immer wieder neu ansetzenden Erinnerungen der Erzählerin an das Schloss der von Behr. Die Erzählungen brauchen keinen plot, sie brauchen Gegenstände, die sie zu unablässiger Zeichenproduktion nutzen. Ihr Ende wird jeweils nicht durch die Auflösung eines plots bestimmt, sondern durch ein quantitatives Kriterium. Jede Erzählung ist sechzehn Seiten lang, also genau einen Druckbogen. Diese Limitierung der Länge ist durch die Gestaltung des Buches bestimmt, die alle sechzehn Seiten eine Schmuckseite vorsieht.

II

Verzeichnisse – wie Listen – brauchen Satzzeichen: Spiegelstriche, Kommata, Ellipsen. Man findet die Punkte, die im Inhaltsverzeichnis die Titel der Erzählungen von der Seitenzahl trennen. In der Vorbemerkung sind es Semikola, die die Aufzählung von Verschwundenem und Entdecktem trennen. Das Bild- und Quellenverzeichnis kennt nur den Punkt am Ende. Die Erzählungen und das Personenverzeichnis bedienen sich hingegen noch zwei anderer Zeichen, die keine Buchstaben sind: des Asterisken und des Obelisken, die streng genommen als Schriftzeichen gelten. Sie zeigen Geburt und Tod, Auftauchen und Verschwinden der verlustig gegangenen Gegenstände, Inseln und Tiere an. In den Texten zu „Sapphos Liebesliedern“ und dem „Schloss der von Behr“ sind es auch Leerzeilen, die die einzelnen Elemente trennen. Der Text zu „Sapphos Liebesliedern“ ist als ein Kommentar zum Verfahren des Bandes lesbar. In der Reflexion über die Lücken in der Überlieferung von Sapphos Gedichten klingt immer wieder das Verhältnis von Zeichen und Lust an und die Vollkommenheit des Fragmentarischen wird behauptet: „Unversehrt wären uns Sapphos Gedichte so fremd wie die einst grellbunt bemalten antiken Skulpturen.“ Die drei Punkte der Ellipse zeigen in diesem Fall die Wörter und Verse in den Gedichten an, die fehlen, und markieren damit das Anwesende als Resultat von etwas Abwesendem. Erst im Zusammenspiel von Anwesenheit und Abwesenheit erzielen die Gedichtfragmente ihre Wirkung. Diese Beispiel verweist wieder auf die Lücken im Verzeichnis, darauf, dass nur „einige“ der Verluste hier in der Schrift aufgehoben sind. In Kombination mit Zeilen- und Seitenumbruch punktieren und rhythmisieren die Satzzeichen die Zeichenproduktion, die aus dem Verlust einen Überschuss zu machen sucht. Insofern sind auch die schwarzen Schmuckseiten zwischen den Erzählungen als Satzzeichen zu lesen, als übergroße Kommata, die dem Verzeichnis seine Form geben. Die Erzählung über die Bücher des Religionsstifters Mani endet mit einem Zitat, das zu den wenigen Resten dieser Bücher gehört. Mani schreibt über seine zukünftigen Anhänger*innen: „Du wirst sie dabei antreffen, wie sie laut aus ihnen vorlesen, wie sie den Namen jedes Buches verkünden, den Namen seines Herrn und die Namen derer, die alles dafür gegeben haben, damit es geschrieben werden kann, und den Namen desjenigen, der es aufgeschrieben hat, und auch den Namen desjenigen, der die Satzzeichen gesetzt hat.“

III

Auf den schwarzen Schmuckseiten sind in dunkler Farbe, nur bei gutem Licht und in einem bestimmten Winkel erkennbar, Bilder der verlorenen Dinge gedruckt. Unter anderen: Ein Capriccio der Ruinen der Villa Sacchetti des Ruinenzeichners Hubert Robert, ein Filmstill aus Der Knabe in Blau, Murnaus erstem und verschollenem Film von 1919, eine Selenografie von Gottfried Adolf Kinau aus dem Jahr 1883, Caspar David Friedrichs Hafen von Greifswald, gemalt 1810-1820, zerstört bei einem Brand 1931. Die Bilder nehmen nicht nur in diesen Fällen die Stellung des Anwesenden ein. Die Zeichen der Schrift hingegen, die auf die Bilder folgen, verfehlen ihren Gegenstand systematisch. Meist wird nicht direkt von dem verschwundenen Ding erzählt, sondern knapp an ihm vorbei. Anstelle von Spekulationen über Murnaus Film findet man den Gedankenfluss Greta Garbos während eines Spaziergangs, anstelle einer Ekphrasis von Friedrichs Gemäde findet man die minutiöse Beschreibung der Flora während einer Wanderung am Fluss Ryck und anstelle architektonischer Reflexionen über die Villa Sacchetti findet man sich als Begleiter von Hubert Robert wieder. Die Erzählungen wenden sich nicht der Trauer über den Verlust zu, sondern suchen nach Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen, sie sind eine lustvolle Verfehlung dessen, was man erwarten würde. Sie feiern die Anwesenheit der Zeichen, die, wie man nicht erst seit Derrida weiß, auf einer grundlegenden Abwesenheit beruht. Diese Abwesenheit gerät jedoch aus dem Blick, indem sie allein den Bildern zugeschrieben wird. Als die Protagonistin der Erzählung, die an „Guerickes Einhorn“ vorbeiführt, das Tattoo eines solchen Tiers auf dem Unterarm einer Kassiererin entdeckt, ist sie geradezu verstört: „[E]in Zeichen, ein überdeutlicher Verweis. Nicht zu übersehen und nicht zu überhören. Ich stellte mich taub, lief hinaus, das nervtötende Gebimmel ertönte noch einmal, bevor ich wieder auf dem Vorplatz war und die Hauptgasse nahm, schnellen Schrittes, fast leichtfüßig, ohne Hast, bergauf, zurück oder weg, das war egal. Das Herz auf einmal laut, wie auf der Jagd oder auf der Flucht.“ Man kann die Erzählungen als Symptome einer Abwesenheit – als Flucht – lesen oder als Jagd nach neuen, immerneuen Zeichen.

IV

In ihrer Anlage sind die Erzählungen von selbstreflexiven Momenten durchzogen, besonders augenfällig im Text über „Sapphos Liebeslieder“. Die Überlieferung hat von Sapphos Gedichten nicht viel übrig gelassen, dennoch wurden zuletzt neue Texte entdeckt und andere vervollständigt. Im formelhaften Beginn der meisten Absätze mit „Wir wissen“ beziehungsweise „Wir wissen nicht“ lotet die Erzählung den Raum aus, der die Möglichkeit von Verzeichnis einiger Verluste ist. Erst die Unsicherheit über das, was verloren ist, konstituiert die Möglichkeit zwischen Fakt und Fiktion zu erzählen, die Anwesenheit der Zeichen als Kompensation für die Abwesenheit des Verlorenen zu inszenieren. Dieser Raum wird in der Erzählung über „Sapphos Liebeslieder“, der alle möglichen Fakten und Anekdoten über Sappho und Lesbos zusammenträgt, durch die Leerzeilen symbolisiert, die sich sonst nur in einer weiteren Erzählung befinden, die von der Selektivität der Erinnerung handelt. Der Sappho-Text plädiert für diesen Zustand. Gerade die Unzuverlässigkeit der Überlieferung und das Wissen darüber ermöglicht die Aneignung. Das Eigentliche, so heißt es in der Erzählung, kann wie die Lücken in den Gedichten Sapphos nur durch „die drei aufeinanderfolgenden Punkte“ bezeichnet werden. Im Gegensatz zu den Auslassungen erweisen sich die Schriftzeichen als höchst unzuverlässig, da ihre Bedeutung kontextuell bestimmt und historisch kontingent ist: „Warum sich nun schon eine Weile die Bezeichnung ‚lesbische Liebe‘ hält, wissen wir nicht genau, nur dass dieses Wort und die damit verbundene Ordnung ebenso verblassen wird wie alle vorangegangenen.“ Was wird „lesbisch“ also heißen? Die Erzählung endet mit dem Satz: „In deutschen Wörterbüchern steht ‚lesbisch‘ gleich nach ‚lesbar‘.“ Von der Liebe und der Lust führt der Weg also zum Lesen der Lücken. Die lustvolle Anfüllung der Leerstelle des Verlustes, die produktive Betrachtung von Ruinen firmiert hier als – lesbisches Lesen.

V

Was bleibt? Verzeichnis einiger Verluste präsentiert den Verfall und das Verschwinden als gemeinsames Prinzip von Natur und Kultur, von Evolution und Revolution. Es ist selbst die Ruine eines Werks, das – wie die Liste in der Vorbemerkung zeigt – viel länger hätte sein können. Es ist das, was übrig bleibt von dem, was aus verschiedenen Gründen nicht in dieses Buch gedruckt wurde. Nicht zufällig bilden die versagte Fortpflanzung, das versagte Werk und die traumatische Geburt einen Motivzusammenhang in Verzeichnis einiger Verluste. Tiger und Löwe zeugen im Abschnitt über den Kaspischen Tiger nur unfruchtbare Nachkommen, die erwartete Schwangerschaft der Protagonistin von „Guerickes Einhorn“ bleibt aus, die Erzählerin vom „Schloss der von Behr“ erinnert sich nicht daran, dass ihre Mutter jemals mit ihrem Bruder schwanger war, die Kinder des Selenografen Kinau „lagen auf dem Kirchhof, dahingerafft von Seuchen“, Piranesi ist der Architekt, „der sein Leben lang kein einziges Haus erbauen wird“. Es grenze, so heißt es über ihn, fast „an ein Wunder, dass dieser Mann, der die Gesellschaft von Steinen der menschlichen vorzieht, in seinem 33. Lebensjahr eine Frau findet, die ihn erträgt und ihm fünf Kinder gebiert“.

Der Autor dankt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Greifswalder Forschungskolloquiums von Eckhard Schumacher, in dem einige dieser Punkte diskutiert wurden.