Berechtigte Anklage oder Fake News? Zu Frank Ligtvoets Beitrag „Ein Mann und ein Junge“

Wir haben uns mal geduzt, F.L. und ich. Nachdem er mich neuerdings offensichtlich verachtet, zögere ich, einfach Frank zu sagen. Eigentlich sollte es ein offener Brief an F.L. werden, nun ist es ein Traktat geworden, in dem es vordergründig um F.L.’s „Buchbesprechung“ [1. Frank Ligtvoet: Ein Mann und ein Junge. Zur Edition des Briefwechsels zwischen Wolfgang Frommel und Friedrich W. Buri. Merkur 72 (832), September 2018.] des von mir herausgegebenen Briefwechsels zwischen F. W. Buri und W. Frommel geht. [2. Wolfgang Frommel – Friedrich W. Buri, Briefwechsel 1933-1984. Hrsg. und eingeleitet von Stephan C. Bischoff. Wallstein Verlag, Göttingen, 2017.] Tatsächlich geht es um eine Debatte über Homoerotik und möglichen sexuellen Missbrauch im „George-Kreis“ in Deutschland und im „Frommel-Kreis“ in Holland. Sie wurde 2017 von F.L. mit Beiträgen in der Zeitschrift „Vrij Nederland“ initiiert und 2018 in der deutschen Presse aufgegriffen.

Dass F.L.’s Beitrag im Septemberheft des MERKUR keine Buchbesprechung ist, lässt sich leicht feststellen: die Briefe, die 80 Prozent der Edition ausmachen, werden in keiner Weise besprochen, lediglich ein Foto und einige Sätze aus meinem Einführungstext werden kommentiert. Dass die unhaltbare und absurde Bildanalyse, die F.L. hier offeriert, ebenso wenig mit meiner Edition zu tun hat wie seine Polemiken mir gegenüber, wird jedem Leser schnell klar. Ich verzichte darauf, mich gegen seine Anschuldigungen zu wehren.

Auch wenn es nicht wirklich um das Foto geht, darf ich klarstellen, dass dieses Foto nicht die „Reinheit dieser Freundschaft illustrieren“ soll, wie mir F.L. unterstellt, sondern es soll zeigen, wie Frommel und Buri aussahen, als sie sich in Frankfurt am Main im Jahr 1933 begegneten. Aus dem Foto oder aus den Briefen der Edition herleiten zu wollen, dass es sich hierbei um „pädophile sexuelle Kontakte“ handelte, entbehrt jeden Belegs. Vielmehr konnte ich den Briefen, die in meiner Edition uneingeschränkt präsentiert werden, keinen Beleg für Pädophilie entnehmen. Ich kann sexuelle Kontakte zwischen den Briefkorrespondenten nicht ausschließen, allerdings bleibt offen, ob, in welcher Form und welchem Ausmaß und ab wann diese bestanden. Dabei stellt sich die wichtige Frage, ab welchem Alter man einem jungen Menschen sexuelle Selbstbestimmung zugesteht. Das deutsche Strafrecht legt fest: Sex mit Kindern unter 14 Jahren ist ausnahmslos verboten und strafbar. [3. Strafgesetzbuch §176.] Bei Jugendlichen zwischen 14 und 16 ist einvernehmlicher Sex dann strafbar, wenn der Täter älter als 21 und die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt. [4. Strafgesetzbuch §182.] Bei Jugendlichen zwischen 16 und 18 geht der Gesetzgeber grundsätzlich davon aus, dass sie eigenverantwortlich über sexuelle Kontakte entscheiden können. Nach heutiger Gesetzeslage könnte Frommel eine Anklage drohen, wenn es Sex in den ersten beiden Jahren nach ihrer Begegnung gegeben hat und Buri eine fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung nachgewiesen werden kann. Dies hat F.L. nicht nachgewiesen. Ich befasste mich in den letzten 10 Jahren ausgiebig mit den Briefen und kann keinen Beleg dafür finden. In den 1930er Jahren war die Rechtsprechung anders als heute und jede Form einer gleichgeschlechtlichen Beziehung strafbar. Insofern wäre damals eine sexuelle Handlung zwischen Frommel und Buri unabhängig vom Alter strafbar gewesen. Die Gesellschaft begrüßt inzwischen mit überwiegender Mehrheit, dass Homosexualität nicht mehr strafbar ist. Frommel als Homosexuellen zu diskreditieren, wie es nicht nur F.L., sondern auch Literaturexperten wie Ulrich Raulff und diverse Journalisten getan haben, ist inakzeptabel, sagte zu Recht Kai Kauffmann in seiner Rede am 26. September 2018 in Heidelberg zur Finissage einer George-Ausstellung im Haus Cajeth. Das sollte F.L. wissen, der als Schwuler und gleichgeschlechtlich Verheirateter von der Liberalisierung der Homosexualität profitiert. In der aktuellen Debatte werden die Begriffe Homosexualität, sexuelle Gewalt, Pädophilie sowie Päderastie vermengt, obwohl sie unterschiedliche Dinge bezeichnen.

Die Begriffe Pädophilie und Pädosexualität bezeichnen das sexuelle Interesse bzw. sexuelle Handlungen von Erwachsenen an Kindern vor Erreichen der Pubertät, d.h. unter dem 14. Lebensjahr, und werden als Ausdruck psychischer Störung verstanden. [5. Ahlers CJ, Schaefer GA, Beier KM: Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit im ICD-10 und DSM-IV. Sexuologie 12:120-152, 2005.] Dafür gibt es weder im Briefwechsel noch sonst in der mir bekannten Frommel-Literatur Belege. Das habe ich in meinem Einführungstext festgestellt und es ist durch die aktuelle Debatte in keiner Weise widerlegt worden. Päderastie bzw. Ephebophilie bezeichnet eine Form von Homosexualität zwischen Männern und männlichen Jugendlichen nach dem 14. Lebensjahr. Bei dieser Form der Beziehung, die aus dem antiken Griechenland bekannt ist, nimmt neben der sexuellen Komponente, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann, ein pädagogischer Anspruch eine zentrale Rolle ein. Daraus abgeleitet wurde der Begriff „Pädagogischer Eros“, der in der Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts geprägt wurde und spätestens seit dem Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule umstritten ist. Dabei wird nicht selten übersehen, dass der Missbrauch an Schulen und in der katholischen Kirche vielfach weder Pädagogischer Eros noch Ephebophilie war, sondern Pädophilie bzw. strafbare Pädosexualität, denn er betraf vorwiegend Kinder unter 14 Jahren.

Sexuelle Gewalt ist alters- und geschlechtsunabhängig, impliziert oft einen Machtmissbrauch und bezeichnet sexuelle Handlungen ohne beiderseitige Einwilligung beziehungsweise Einwilligungsfähigkeit. Folgen sind häufig seelische Traumata. Hinweise für sexuelle Gewalt in der Beziehung Frommel-Buri lassen sich meines Erachtens aus dem Briefwechsel nicht ableiten. Um dieser Frage weiter auf den Grund zu gehen, habe ich den Briefwechsel auf Hinweise für seelische Traumata als Folge sexueller Gewalt untersucht. Weder der Briefwechsel noch F.L. liefern derartige Belege. Dass die Beziehung Frommel-Buri solche Schäden offensichtlich nicht hinterlassen hat, spricht gegen ein Vorliegen von sexueller Gewalt. Dass diese Argumentation eine „verblüffende Argumentation“ sein soll, die „zudem den Verdacht keineswegs ausräumt, sondern eher verstärkt“, wie F.L. schreibt,1 kann ich nicht nachvollziehen. Woher ich die Autorität nehme, Buris geistigen Gesundheitszustand zu beurteilen, fragt F.L. im nächsten Satz. Zum Einen ist das keine Frage der Autorität, sondern der Analyse der Briefe und der Biographien der beiden Schreiber. Zum Anderen habe ich Buri über zwanzig Jahre persönlich gekannt und weder als Arzt, der ich bin, noch als Freund, der ich ihm war, konnte ich feststellen, dass sein geistiger Gesundheitszustand eingeschränkt gewesen wäre. Zum Dritten geht es hier gar nicht um den geistigen Gesundheitszustand, sondern um Hinweise für seelische Traumata als Folge sexueller Gewalt. Tatsächlich finden sich diverse Hinweise in Buris Leben für seelische Traumata, die sich auch im Briefwechsel deutlich spiegeln. Allerdings treten sie nicht als Folge sexueller Gewalt auf, sondern als Folge unbeantworteter Liebe zu Frauen, als Folge der Trennung von Familie und Heimatland oder von Gefühlen des Versagens im Berufsleben. Leider lässt F.L. in der Diskussion jegliche Differenziertheit in Wortwahl und Argumentation vermissen.

Im Übrigen ging es mir bei der Herausgabe des Briefwechsels nicht um „schwarze Fähnlein“ und deren vermeintliche Nähe zum Naziregime im Jahr 1933. Deshalb möchte ich nicht in diese Debatte einsteigen, wenngleich F.L.’s Ausführungen zur Historie durch diverse Dokumente und letzte Zeitzeugen wie den 1922 in Hildesheim geborenen amerikanischer Literaturwissenschaftler Guy Stern infrage gestellt werden. Meine Intention war es, den außergewöhnlichen Briefwechsel allgemein zugänglich zu machen, weil er eine grossartige Freundschaft zweier Dichter im 20. Jh. festhält. Wenn F.L. den „historischen und politischen Kontext“ anspricht, sollte er nicht verschweigen, wie Frommel sich für den jungen, aufgrund seiner jüdischen Herkunft bedrohten Buri einsetzte, durchaus nicht ohne Gefahr für sich selbst. Dies unerwähnt lassen und Frommel als „arischen Pädophilen“ bezeichnen, ist eine bösartige Diffamierung, gegen die er sich nicht mehr zur Wehr setzen kann.

Wäre Buri als Junge von Frommel sexuell missbraucht worden, wie F.L. es behauptet, dann  wäre Buri diesem Menschen kaum ein Leben lang gefolgt. Dann hätte er ihm aus dem Weg gehen können, indem er seinen Eltern nach Brasilien gefolgt wäre, wie diese es ihm wiederholt dringend angeraten hatten. Auf ausdrücklichen Wunsch Buris haben seine Eltern schließlich zugestimmt, dass er zunächst in Deutschland unter der Obhut seines Freundes zurück blieb und später nach Holland übersiedelte. Buri hätte Jahrzehnte Gelegenheit gehabt, Missbrauchsvorwürfe zu erheben, wenn ihm danach gewesen wäre. Tatsächlich blieben beide bis zu Frommels Tod freundschaftlich verbunden. Buri hat Frommel in dessen letzten Jahren auf dem Krankenbett sogar regelmäßig gepflegt – das passt nicht zu Missbrauchsvorwürfen, die F.L. in den Raum stellt.

Was bedeuten diese Ausführungen nun für die Bewertung von Frommel und seinen Freundeskreis? Pädosexualität an Kindern unter 14 Jahren und ggf. auch an Kindern unter 16 Jahren ist ebenso wie sexuelle Gewalt an Männern und Frauen jeglichen Alters nicht nur strafbar, sondern auch ethisch uneingeschränkt zu verurteilen. Sie ist kein Kavaliersdelikt, bedarf der Aufdeckung und der Ahndung. Solche schwerwiegenden Beschuldigungen erfordern ein Urteil, das über jeden Zweifel erhaben ist. Dazu sind Belege, nicht nur Bezeugungen, erforderlich. Bezeugungen, wie die von F.L. können eine Ermittlung initiieren, aber den Beleg nicht ersetzen. Andernfalls rückt die Bezeugung erschreckend nah an Verleumdung, mit der ebenso Missbrauch und Trauma induziert werden kann wie durch sexuelle Gewalt. Die aktuelle „me too“-Debatte hat gezeigt, wie schwer es ist, im Einzelfall sexuelle Gewalt zu belegen, v.a. wenn die Tat viele Jahre zurück liegt. Im Zweifel muss die Unschuldsvermutung gelten, auch wenn es schwer fällt. Dabei spielt die Glaubwürdigkeit der Kläger und der Beklagten eine zentrale Rolle. Beide sollten gehört und beurteilt werden. Im Fall Frommels ist das 32 Jahre nach seinem Tod nicht mehr möglich. Allein dieser Umstand wirft die Frage auf, was die aktuelle Debatte um Frommel erreichen soll.

Als F.L. (geb. 1954) mit seinen Berichten zu sexuellem Missbrauch im Freundeskreis um Frommel im Jahr 2017 auftrat, stand der von ihm bezeugte Missbrauch an seiner eigenen Person im Mittelpunkt. In seinem ersten Beitrag spricht er als Betroffener und Mitglied dieses Freundeskreises von einem „Geständnis“. [6. Frank Ligtvoet: In de schaduw van de meester: seksueel misbruik in de kring van Wolfgang Frommel. Vrij Nederland, Amsterdam, 10. 07. 2017.] Er berichtet davon, wie er als 20jähriger Student einem etwa gleichaltrigen Architekten jugoslawischer Herkunft und einem geringfügig älteren Schweizer Anthropologen in Amsterdam begegnete und sich mit diesen beiden anfreundete. Die beiden gehörten dem Freundeskreis um Frommel an und führten ihn in diesen Kreis ein, den F.L. als „Kult“ und als „Sekte“ bezeichnet. Er berichtet von homoerotischen Beziehungen in diesem Freundeskreis, denen ein „poetischer Code“, das ist der „Stern des Bundes“ von Stefan George, zugrunde liegt. Über sich selbst in diesen Jahren schreibt er: „Ich war gerade kein Teenager mehr [also Anfang 20] und hatte schon ein ganzes Leben hinter mir. Ich war ein sonderbares,  einsames Mutterkind aus einer großen katholischen Familie, das ziemlich unbarmherzig von zweien seiner älteren Brüder schikaniert wurde. Ich fühlte mich zu Jungen hingezogen und konnte das zunächst nicht der Außenwelt zeigen. Homosexualität wie ich sie in meinen ersten Studentenjahren erlebt hatte, hatte mir nicht gegeben, was ich mir davon erhofft hatte, nämlich Liebe. Meine Familie war aus meinem Blickfeld verschwunden, und meinen ältesten Freund aus meiner Gymnasialzeit, hatte ich mir entfremdet.“ In dieser offensichtlich emotional höchst schwierigen Situation ist F.L. diesen Menschen begegnet, die er im weiteren Text mit schweren Vorwürfen belastet. F.L. schreibt: „Castrum, Frommel und seine Welt schienen frei zu sein von den mir damals als bedrohlich empfundenen Seiten des gay life der 70er Jahre. Hier ging es um Freundschaft, die in erster Linie „literarisch“ war. Ich machte in gewisser Weise mein Coming Out ungeschehen. / Frommel, damals Mitte 70, war ein eindrucksvoller, gebildeter und geistreicher Mann, der mitreißend erzählen und amüsant lästern konnte. Ich geriet schnell in seinen Bann, sogar so sehr, dass ich die allzu erotischen Abschiedsküsse mit falschen Zähnen und die Altmänner-Erektionen gegen mein Bein geschehen liess.“

Die Sprache in diesem Beitrag zeugt von verunglimpfender Emotionalität statt von sachlicher Berichterstattung. Dies setzt sich im zweiten ausführlicheren Beitrag F.L.’s in derselben Zeitschrift fort. Dort verzichtet er interessanterweise auf unmittelbare Vorwürfe gegen Frommel, stattdessen richtet er sie gegen andere Personen des damaligen Freundeskreises. Allerdings verunglimpft er Frommel weiter auf der emotionalen Ebene, indem er beispielsweise schreibt: „Sein Lieblingstier war ein Elefant, und so war er auch im Bett.“ [7. Frank Ligtvoet: Misbruik in naam van het hogere. De seksuele trukendos van kunstgenootschap Castrum Peregrini. Vrij Nederland, Amsterdam, Nr. 79, Seite 52f. März 2018.] Mit solchen Formulierungen stellt er seine Glaubwürdigkeit in Frage.

Es wird in beiden Beiträgen F.L.’s von Vergewaltigung und sexuellen Traumata in diesem Kreis gesprochen, ohne konkret zu werden, d.h. es werden keine Taten mit Namen der Beteiligten, Zeit und Ort benannt. Stattdessen wiederholen sich vage Beschuldigungen und nicht überprüfbare Berichte unschöner Praktiken. Außer den Genannten fallen drei weitere Namen: W. Hilsley (1911-2003), F. W. Buri (1919-1999) und C. V. Bock (1926-2008), drei jüngere Freunde Frommels. Ob diese nun auch missbraucht worden sein sollen, wird aus dem Artikel nicht deutlich. Hilsley, einem ehemaligen Schullehrer, und zwei seiner Lehrerkollegen wird vorgeworfen, diverse jüngere Menschen missbraucht zu haben. Als Beleg werden zwei Opfer ohne Namen genannt, die F.L. persönlich kannte. Ob diese Beschuldigungen an Hilsely und seinen Kollegen zutreffen, kann ich weder bestätigen noch ausschließen. Wenn sie zutreffen, wären sie ein weiteres schreckliches Beispiel für Missbrauchsfälle nicht nur an deutschen, sondern auch an holländischen Schulen. Frommel die genannten Vorwürfe ebenso anzulasten, nur weil er mit Hisley befreundet war, ist zumindest juristisch nicht haltbar. Und Frommels weitläufigen Freundeskreis deshalb pauschal als eine Art von monströser Sekte zu bezeichnen, wie F.L. dies tut, ist höchst fragwürdig. Diese Vorwürfe im Analogieschluss auch auf den George-Kreis auszuweiten, zeugt von wenig wissenschaftlicher Differenziertheit.

Als Zeugin für F.L.’s Anschuldigungen wird Joke Haverkorn angeführt, die 2013 ihre „Entfernte Erinnerungen an W.“ [Frommel] publizierte und ihm darin sexuellen Missbrauch junger Menschen unterstellt. [8. Haverkorn van Rijsewijk J. Entfernte Erinnerungen an W. Verlag Osthoff, Würzburg 2013.] Deren Glaubwürdigkeit wird allerdings infrage gestellt durch den Umstand, zunächst glühende Verehrerin Frommels und später Ehefrau seines Neffen gewesen zu sein, bis dieser sich von ihr trennte mit der Folge, dass sie sich vom Freundeskreis um Frommel entfernte. Naheliegend ist, dass hier der persönliche Schmerz der Scheidung von ihrem Ehemann und damit letztlich von der gesamten Freundeswelt um Frommel die Einschätzungen in ihren Erinnerungen geprägt haben könnten. Als weiterer Beleg wird Alexander Drescher genannt, der Schüler der Odenwaldschule war und dort nach eigenen Angaben missbraucht worden ist. Angeblich hätten die Eltern diesen Missbrauch gedeckt und, da der Vater ein Freund Frommels war, falle diesem ebenso wie den Eltern Schuld zu. Der Missbrauch eines Schülers ist zweifelsfrei eine furchtbare Sache, und wenn es stimmt, dass die Eltern dies gedeckt haben, ist dies schlimm. Die Argumentation, diesen Missbrauch auch Frommel anzulasten, weil er mit dem Vater befreundet war, erscheint allerdings ziemlich absurd, solange nicht belegt ist, dass Frommel mit dem Schülermissbrauch konfrontiert war und diesen ebenso wie angeblich die Eltern deckte. Kritisch ist auch zu betrachten, wenn George und dessen Weltanschauung oder Dichtung mit den Straftaten in der Odenwaldschule in Verbindung gebracht werden. Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser These steht aus.

Im weiteren Verlauf des Textes kommt F.L. auf seine eigenen Erfahrungen zurück und berichtet, dass er sich dank der Begegnung im Jahr 1982 mit Nanne Dekking (geb. 1960), seinem späteren Ehemann, aus der „Frommelsekte“ befreien konnte. An anderer Stelle in demselben Beitrag spricht er von etwas mehr als 10 Jahren, die er in dieser Sekte gefangen war (1974-1986), und von 30 Jahren (1986-2016), die er benötigte, da herauszukommen und darüber berichten zu können. In den letzten Abschnitten seines Textes spricht F. L. von einem Gefühl der Mitschuld, insbesondere seinem Mann gegenüber, der mit in diese „Sekte“ zu geraten drohte, ihn aber schließlich daraus befreit habe.

Der Bericht klingt zunächst bewegend und bedrückend. Ein junger Mensch, der in eine Sekte gerät, in der sexueller Missbrauch praktiziert wird – wer ist da nicht entsetzt? Solche Traumatisierungen sind ohne Frage furchtbar und rufen ein starkes Gefühl des Mitleids hervor. Bei genauerem Hinsehen treten Fragen auf. Wird die eigene Erfahrung als Missbrauchsopfer geschildert? Wenn ja, wer hat F.L. wann missbraucht? Welche Belege gibt es dafür? Leider wird F.L. diesbezüglich in keinem seiner Beiträge konkret. Oder geht es eher um Missbrauchsfälle im Frommelkreis, die F.L. beobachtet, aber nicht selbst erfahren hat? Dann wäre schwer nachvollziehbar, warum er 30 Jahre benötigte, sich aus den Zwängen der „Sekte“ zu befreien und darüber berichten zu können. Zu respektieren ist es, wenn F.L. den Freundeskreis um Frommel als Sekte empfunden hat. Frommel war ab 1982 schwer krank und verstarb 1986. In diesen Jahren war er keine Leit-Figur dieses Kreises mehr. Der Kreis war eher führungslos und löste sich bald nach Frommels Tod auf, nachdem es zu ergebnislosen Machtkämpfen gekommen war. Die Stiftung Castrum Peregrini bekam eine neue Führung (Michael Defuster, Lars Ebert, Frans Damman), die Frommel nicht bzw. kaum mehr kannte, wie sie selbst bezeugt hat. Nicht nachvollziehbar ist, welche Gewalten F.L. ab 1982 erfassten und ihm eine Befreiung über Jahrzehnte hinweg nicht ermöglichten.

Es stellt sich ebenfalls die Frage, warum F.L. bereit war, als Sargträger bei Frommels Beerdigung teilzunehmen, wenn er so furchtbare Erlebnisse mit dieser Person verband. Rätselhaft ist ferner, warum F.L. noch sieben Jahre später, im Jahr 1993, einen Artikel über Frommel publizierte, in dem er schreibt: „Selbst die, die ihn erst in jener Zeit kennenlernten, als ihn seine körperlichen und geistigen Gebrechen beeinträchtigten, waren von diesem Mann mit den langen grauen Haaren tief beeindruckt: Ein Mann der auch ohne die Worte, die er im Gespräch und Gedicht so gerne gebraucht hatte, einfach da war. Die Wirkung dieses Seins wird mit den Freunden sterben. Vielleicht wird mal einer sich auf die Suche machen nach seinen Gedichten und dem unglaublichen Leben, das am 13. Dezember 1986 endete.“ [9. Frank Ligtvoet: Wolfgang Frommel und Holland. Castrum Peregrini 206:51-60, 1993.]

Was ist passiert, dass ein Mensch seine Meinung, sein Empfinden gegenüber einer Person so radikal ändert? Sind es Traumata, die er durch seine beiden ersten Freunde aus dem Frommel’schen Freundeskreis erfuhr? Ist es der Umstand, dass er nie zum ‚inner circle’ dieses Kreis gehörte? Sind es Traumata in der Familie, in der Kindheit, wie seine Bemerkungen dazu andeuten? Oder ist es einfach ein erwünschtes Drama? Ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit? Liegt die Ursache für den Wandel in seinem heutigen Leben, seinem aktuellen Seelenzustand? Darüber kann nur spekuliert werden. Die Berichte F.L.s geben keinen hinreichenden Aufschluss. Erschreckend ist die Emotionalität, mit der F.L. auftritt und Menschen verurteilt und verunglimpft. Damit verspielt F.L. seine Glaubwürdigkeit. Zunehmend erscheint er selbst als Täter, der sich nicht scheut, Unwahrheiten zu verbreiten und Menschen zu verleumden, ohne triftige Beweise zu beschuldigen.

Die Anklage F.L.’s reicht von George über Frommel bis hin zu namenlosen Gefolgsleuten Frommels und ist so weit und diffus, dass man den Eindruck bekommt, hier wird ein Rundumschlag gegen eine intellektuelle Bewegung geführt, die Teile der Geistesgeschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Als Kronzeugen werden einige wenige Namen genannt, deren Glaubwürdigkeit ebenfalls hinterfragt werden kann: Thomas Karlauf, dem eine Leitungsfunktion im Castrum Peregrini verwehrt wurde, Joke van Haverkorn, die von ihrem Mann Christoph Frommel verlassen wurde, Alexander Drescher, der von seinen Eltern bitter enttäuscht war. Alle diese Menschen haben ihre individuellen Gründe, gegen Frommel und George, die sie einst verehrt haben, heute kritisch eingestellt zu sein.

Mit seiner „Buchbesprechung“ offenbart F.L. seine wahren Intentionen: nicht der Briefwechsel, nicht das Publikmachen seiner Opferrolle und seiner Peiniger, nicht sein persönliches Trauma, sondern die Zerschlagung einer geistigen Strömung und die Verleumdung ihrer Protagonisten, ist das Ziel seiner Publikationen. Kritisches Hinterfragen muss stets erlaubt sein, aber durch diffuse Denunziation und Verleumdung können Menschen und Schicksale zerstört werden. Das wäre dann auch eine Form von Missbrauch, die ebenso wenig rechtfertigbar ist, wie die, welche bekämpft werden soll. Das kann oder will F.L. offensichtlich nicht sehen. Darin liegt die eigentliche Tragik von F.L.

Aus dem Umstand, dass sich Frommel auf Stefan George und dessen Dichtung berief, in dem was er tat oder schrieb, leitet F.L. ab, dass Vorwürfe, die dem Frommel’schen Freundeskreis gelten, auch für den Georgekreis zuträfen. Diese Behauptung muss hinterfragt werden, solang dafür keine wissenschaftliche Begründung vorliegt. In diesem Kontext ist auch der Angriff auf die Edition des Frommel-Buri-Briefwechsels zu sehen, auf die Protagonisten vom Wallstein-Verlag, bei dem der Briefwechsel verlegt wurde, und auf die Herausgeber der akademischen Reihe „Castrum Peregrini Neue Folge“, als deren 10. Band der Briefwechsel erschien. Diesen Angriff führt F.L. nicht auf der Ebene des sachliches Diskurses, sondern auf persönlich verletzende Art, wenn er beispielsweise schreibt: „Bischoff nähert sich dem Thema in der Einführung auch ganz direkt, nur nicht sehr klaren Verstands“ oder „Durch seine inkompetente und vorurteilsbelastende Darstellung provoziert das Buch …“. Zu den Reihenherausgebern schreibt F.L.: „Das George-Establishment hat das alles durchgewunken und auf diese Weise den Mythos der in diesem Umfeld oft schändlichen Praxis bestärkt und dem Verbrechen höhere Weihen erteilt.“ Es zeigt sich, wer hier vorurteilsbelastet ist und wer von „Verbrechen“ redet, ohne diese zu belegen. Es wird Zeit, dass sich die seriöse Literaturwissenschaft und der vorurteilsfreie Journalismus damit befassen, indem sie die Debatte auf eine sachliche Ebene zurückführen und aufarbeiten.