Die Hausschweinfalle

Wie leicht selbst eine so angesehene Intellektuelle wie Aleida Assmann in eine Falle tappt, lässt sich an ihrem Beitrag Let’s Go East im Merkur (April 2019, 73. Jahrgang, Heft 839) studieren. Ich nenne die Falle einmal die „Hausschweinfalle“ und will versuchen zu begründen, warum.

Der Beitrag von Aleida Assmann ist im Wesentlichen eine Replik auf einen Text von Ivan Krastev und Stephen Holmes (Osteuropa erklären. Das Unbehagen an der Nachahmung; in: Merkur, Nr. 836, Januar 2019). Gewiss kann man sich mit vielen ihrer Thesen identifizieren, mit anderen streiten – allerdings unterläuft ihr gegen Mitte ihres Beitrags eine fatale Wertung, die keineswegs unwidersprochen bleiben kann. Sie beginnt mit einem Satz, dem man zunächst sogar uneingeschränkt zustimmen kann: „Der Beitritt der DDR (zur Bundesrepublik Deutschland, d. Verf.) löschte dabei viele Spuren der Geschichte und der Ostbiografien aus.“ Dann fährt sie fort: „Die berechtigte Kritik am Unrechtsregime der DDR und ihrer Gesinnungsdiktatur hat übersehen, woran mich Susan Neiman erinnert: ‚Möglicherweise spielte es auch eine Rolle, dass im Osten ein sozialistischer Begriff von Rechten selbstverständlich war. Denn so problematisch der Staatssozialismus war, hat er auch eine Reihe von Rechten garantiert – auf Wohnen, medizinische Versorgung, Bildung usw. Mag die Qualität dessen niedrig erscheinen, und war die höhere Bildung nur für politisch korrekte Studenten zugänglich – gewisse materielle Rechte waren dort so selbstverständlich wie für uns im Westen die Redefreiheit. Das ist alles mit dem Neoliberalismus weggefallen.’“

Aleida Assmann zitiert hier ausweislich der Quellenangabe aus einem offenbar privaten Schreiben, allerdings erkennbar zustimmend, so dass man die Aussage durchaus ihr selbst zurechnen kann. Die Aussage ist zum einen durch Tatsachen nicht belegbar. Der „Staatssozialismus“ hat kein einziges aus der dort genannten „Reihe von Rechten garantiert“. Sofern man unter einem Recht einen Anspruch versteht, der im Zweifel auch gegen eine dieses „Recht“ gewährende oder auch verweigernde Exekutive bei unabhängigen Gerichten eingeklagt und durchgesetzt werden kann, ist die Behauptung von vornherein falsch – das war in der DDR angesichts der „führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“, wie der quasi-kanonische Text lautete, schlicht undenkbar. Die DDR hat kurz vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in quasi allerletzter historischer Sekunde mit Wirkung zum 1. Juli 1989 die Einführung von Verwaltungsgerichten beschlossen [1. Autorenkollektiv unter der Leitung von Prof. Dr. Günther Rohde: Bodenrecht. Berlin: Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik 1989, S. 5], deren Unabhängigkeit allerdings mit Fug und Recht bezweifelt werden darf. Von „Rechten“ in einem rechtstaatlichen Sinne kann mithin keine Rede sein. Diese „Rechte“ waren vielmehr Gunstbeweise, die das Regime dem Untertanen bei entsprechendem Wohlverhalten zukommen ließ, im gegenteiligen Fall aber ebenso entziehen konnte.

Nehmen wir den Begriff „Recht“ aber in einem Sinne, der gerne von Apologeten des „Staatssozialismus“ gebraucht wurde und wird: subjektive Rechte seien bürgerliche Formalien, entscheidend sei, was der großen Mehrheit der Bevölkerung zugute käme. Nicht einmal das konnte der „Staatssozialismus“ erfüllen. Als Beispiel möge das „Recht auf Wohnen“ dienen – der Verfasser könnte auch über private Erfahrungen aus den anderen Bereichen berichten, bleibt aber beim Thema, von dem er berufsbedingt ein wenig versteht. Als die DDR zusammenbrach, gab es rein quantitativ betrachtet ein beträchtliches – wenn auch schwer bezifferbares – Wohnungsdefizit, von der Qualität ganz zu schweigen. Davon, wie z.B. von nur mühsam verdeckten schweren Wasserschäden und völlig unzureichenden sanitären Einrichtungen in Altbauten kann man sich in vielen Publikationen ein gutes Bild machen – auch ich habe im Architekturstudium im Zuge von Bauaufnahmen im Dresden der 1970er Jahre in Gründerzeitquartieren allerhand selbst gesehen, was mir bis heute die Zornesröte ins Gesicht treibt, waren doch die betroffenen Bewohner Angehörige der Wiederaufbau-Generation, mit denen die angeblich ach so soziale DDR in so schäbiger Manier umging. In Einzelfällen wie z.B. in der Äußeren Neustadt in Dresden wurde sogar eine bewusste soziale Destabilisierung von Quartieren durch eine gezielt überproportionale Ansiedlung von ehemaligen Strafgefangenen in Kauf genommen. [2. Starke, Günter: Offene Türen. Wohnen und Leben in der Dresdner Neustadt 1982 bis 1996 (Bildband mit Textbeiträgen Bernd Lindner und Günter Starke), Halle: Mitteldeutscher Verlag 2016; zum Beleg der Behauptung vgl. S. 32: „bis zu 70 Prozent der in Dresden wiedereinzugliedernden Haftentlassenen wurde Wohnraum in der Äußeren Neustadt zugewiesen“.]

„Etwa 400.000 Wohnungen waren schon 1990 unbewohnbar und verfielen. Inzwischen stieg der Leerstand durch Neubau von knapp 800.000 Wohnungen trotz wachsender Zahl der Haushalte um rund 600.000 an. Nur gut die Hälfte des gesamten Leerstandes wird noch am Markt angeboten. Der Rest ist ‚ausgebucht oder unbewohnbar‘“, stellte die Kommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ im Jahr 2000 fest.  Mit anderen Worten: statt ihren Bürgern ein „Recht auf Wohnen“ in effektiver Manier zu gewährleisten, betrieb die DDR-Führung de facto eine billigende Inkaufnahme des Verfalls eines Großteil der Wohnungsbestände, zum großen Teil in den gründerzeitlichen Stadtteilen. Ursache dafür war u.a., dass die DDR zwar formal auf die Verstaatlichung eines relativ großen Teils der Mietshäuser verzichtet hat, dafür aber durch staatlich vorgeschriebene Mietzinsen, bewusst knappe Zuteilung von Baumaterial und ähnliche Schikanen höchst effizient für das Herunterwirtschaften großer Wohnungsbestände gesorgt hat. „Ruinen schaffen ohne Waffen“, lautete ein bitterer Witz der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Die Kehrseite war eine nicht unbeträchtliche, am Rande der Legalität operierende Hausbesetzer-Szene, die in Privatinitiative erhebliche Eigenleistungen ohne staatliche Unterstützung beim Ausbau von Altbauwohnungen erbracht hat.

Aber vielleicht sollte man nicht zu sehr auf die DDR schauen, daher ein Blick auf einen anderen, ehemals sozialistischen Staat: auf Ungarn, wo bereits kurz nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 eine radikale Verstaatlichung der Mietwohnungsbestände stattgefunden hat. Nachdem die Fluchtwelle 1956 bereits in sich zu einer vorübergehenden Entspannung in der Wohnungsnachfrage geführt hat, befand die kommunistische Staatsführung 1960, dass zur sozialen Befriedung ein „15-Jahres-Wohnungsbauplan“ umgesetzt werden müsse, der den Bau von einer Million Wohnungen zusätzlich zu den vorhandenen 2,7 Millionen Wohnungen (bzw. teils zu deren Ersatz) vorsah. „Der Takt des Wohnungsbaus hat im Jahre 1975 seinen Höhepunkt erreicht, als im Laufe eines einzigen Jahres fast 100 000 Wohnungen fertiggestellt worden sind, wobei 40 % davon rein staatlich finanziert waren. Es ist zu guter Letzt gelungen, die Ziele des 15-Jahres-Wohnungsbauplans zu verwirklichen, obwohl dies zu einem nicht geringen Teil der nur in bescheidenem Maße staatlich geförderten, aber immer dynamischer ansteigenden privat finanzierten Bauen zu verdanken war.“ [3. Kovács, Zoltán / Douglas, Michael: A városépítés idözített bombája – avagy a magyar lakótelep- szindróma társadalomföldrajzi megközelítésben (Die Zeitbombe der Stadtentwicklung – oder das ungarische Wohnsiedlungssyndrom in einer sozialgeographischen Betrachtung). In: Földrajzi Értesítö (Geographischer Anzeiger),  Jg. XLV (1996), Heft 1-2, S. 102-117, Zitat (in eigener Übersetzung) auf S. 102] Im Jahre 1990 – am Ende des „Staatssozialismus“ – betrug der Anteil selbst genutzter Eigentumswohnungen am Wohnungsbestand Ungarns 72 %, der Anteil kommunaler (sozialer) Mietwohnungen 19%, der Rest verteilte sich auf Werkswohnungen, wenige private Mietwohnungen und ähnliches. [1. Hegedüs, József: A magyar (bér)lakásrendszer alakulása az elmúlt 25 évben és átalakulási, fejlesztési lehetöségei (Die Wandlung des ungarischen /Miet-/Wohnungssystems in den vergangenen 25 Jahren und Möglichkeiten zu dessen Umgestaltung, Entwicklung). Vortrags-Präsentation vom 23. November 2016, im Internet: Bérlakás helyzet Magyarországon – https://www.igylakunk.hu]

Soweit die nüchternen Zahlen – wo wir auch hinsehen, hat die private Eigeninitiative die Wohnungssituation verbessert, und nicht etwa irgendein staatssozialistisches „Recht auf Wohnen“. Was mich aber wesentlich mehr stört, als die schlichte sachliche Unkenntnis der realen Verhältnisse im „real existierenden Sozialismus“, ist die Einschätzung der Bürger dieser Länder, die darin zum Ausdruck kommt – und das ist die Falle, in die Aleida Assmann tappt: es ist letztlich das Bild vom Menschen als Hausschwein, das von einer strengen, aber fürsorglichen Obrigkeit mit Futter und einem Koben versorgt wird und das dafür gefälligst auch noch dankbar zu sein hat. Wenn dem Hausschwein der Koben zu eng wurde und es sich gerne in dreckige kapitalistische Suhlen begeben hätte, wurde es in der Post-Breschnew-Ära der „Diktatur gemildert durch Schlamperei“ zwar nicht mehr geschlachtet wie noch unter Stalin, aber gerne schon einmal in ein gestreiftes Kleidungsstück in einem noch engeren Koben gesteckt, so dass es den Frischlingen seiner Verwandten in freier Wildbahn ähnlich war….

Etwas seriöser formuliert: Aleida Assmann identifiziert sich hier in einer Weise mit autoritär-obrigkeitsstaatlichen Positionen vulgärmarxistischer Art, die weit unter ihrem völlig zu Recht hoch angesehenen intellektuellen Niveau bleiben. Sie verkennt dabei, dass all diese vermeintlichen staatssozialistischen Wohltaten auf der Eigenleistung der Gesellschaft beruhten, die Gegenstand eines (wie auch beim Herstellungsprozess) recht ineffizienten, fremdbestimmten und bei politischem Bedarf auch höchst willkürlichen Redistributionssystems waren. Dieses Herangehen ist leider genau die Art intellektueller Arroganz, die vielen Leuten gerade im sogenannten „Osten“ aufstößt. Es wäre viel besser gewesen, wenn sie sich auf den ersten zitierten Satz konzentriert hätte, wo es um die „Ostbiografien“ ging. Nicht nur in der DDR, sondern auch in den anderen, ehemals staatssozialistischen Ländern sind den widrigen Verhältnissen respektable Lebensleistungen abgerungen worden, deren Erbringer sich dann unter den Generalverdacht des Kommunismus gestellt sahen und sich vor mediokren, häufig von der „Buschzulage“ angelockten westlichen Beamten und sonstigen „Zihaloiden“, um mit Heimito von Doderer zu reden, rechtfertigen mussten. Das hat zu Recht viel böses Blut erzeugt, denn viele, die gezwungen waren, unter staatssozialistischen Verhältnissen zu leben, haben eben nicht auf irgendwelche staatssozialistischen Segnungen gewartet, sondern ihr Leben selbst in die Hand genommen, so gut es eben ging. Sie waren eben keine Hausschweine, sondern mündige Bürger – keine Widerstandskämpfer, denn nicht jeder ist zum Helden geboren, aber Menschen, die bestrebt waren, Anstand und Würde zu wahren, um einmal etwas altmodische Begriffe zu bemühen. Ich denke, dieses Potential wird auch früher oder später zur Lösung der aktuellen Konflikte in Mittel- und Osteuropa beitragen.