Verfahren in der Gelehrtenrepublik

Eine der weltweit besten Hochschulen, die Zürcher ETH, will die Situation für den wissenschaftlichen Nachwuchs verbessern. Sie rührt an ein Tabuthema und zieht verantwortliche Professoren zur Rechenschaft. „Fehlverhalten muss Konsequenzen haben“, sagte der Prorektor im Interview mit dem Schweizer Online-Magazin Republik. Das klingt nach einem enormen Erfolg für den wissenschaftlichen Nachwuchs, der in Initiativen und Zusammenschlüssen seit Jahren die prekären Bedingungen kritisiert, die, in den europäischen Ländern auf je unterschiedliche Weise, die Arbeit im Wissenschaftssystem vor der Berufung auf eine Professur bestimmen.

Im Hintergrund steht in Zürich ein langjähriger Mobbing-Vorwurf, den die Universität nun spät, aber hart beantwortet haben will: Erstmals in ihrer Geschichte will die ETH eine Professorin entlassen. Die betroffene Astrophysikerin musste, lange bevor der Fall abgeschlossen war, in der Neuen Zürcher Zeitung lesen, was sie alles falsch gemacht habe. Die Vorwürfe wurden in anderen Print- und Onlinemedien wiederholt – der Schleier der Anonymität war dabei so leicht zu lüften, dass er die Beteiligten nicht schützte. Das war im Herbst 2017: Mittlerweile wurden von verschiedenen Seiten Zweifel an der Regelmäßigkeit und Rechtmäßigkeit des Verfahrens gegen die Professorin geäußert. [1. Vgl. die umstrittene vierteilige Serie der Republik: https://www.republik.ch/2019/03/19/das-versagen-der-eth; vgl. auch: https://nzzas.nzz.ch/schweiz/eth-droht-zweiter-professorin-ursula-keller-mit-entlassung-ld.1481168.]

Die Zürcher Causa ist komplex in den Details: Sie als unglücklichen Einzelfall abzutun, ist gleichwohl keine gute Idee. Nicht nur, weil akademische Skandale dieser Art sich wie Campusromane der schlechteren Sorte lesen und deren serielle Komponenten in sich tragen: verworrener Plot, Intrigen, Niedergänge und manchmal ein Triumph. Sondern auch, weil die Zeit vorbei ist, in der sich das Wiedererkennen von Fall- und Strukturähnlichkeiten politisch noch leugnen ließe. Die Einzelfall-Rhetorik hat lange genug ihre Funktionalität darin erwiesen, die Opfer zu marginalisieren und systematische Reflexion zu blockieren.

Kaum zeitversetzt zum Zürcher Geschehen liegt der Vorfall am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften: Eine der Direktorinnen verlor Ende des vergangenen Jahres ihren Leitungsposten, nachdem auch sie, so die Berichterstattung, ihren wissenschaftlichen Nachwuchs gemobbt haben soll. [2. Vgl. https://www.buzzfeed.com/de/pascalemueller/max-planck-direktorin-tania-singer-ruecktritt; vgl. auch: https://www.buzzfeed.com/de/pascalemueller/mobbing-max-planck-leipzig.] Die ursprüngliche Lösung sah offenbar vor, dass sie nach einem Sabbatical schrittweise ans Institut zurückkommen sollte, während die befristeten Stellen der betroffenen Nachwuchswissenschaftler auslaufen würden.

Der Nachwuchs als „Bauernopfer“ [3. Vgl. Thomas Thiel, Exzellenz und Exzess. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. August 2018.], ärgerte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit Blick auf Leipzig; wie schnell eine Nachwuchsstelle unter falscher Leitung zum „Karrieregrab“ werde, zitierte die Neue Zürcher Zeitung den Wissenschaftshistoriker Caspar Hirschi, der selbst an der ETH arbeitete. Die Tücke liegt in den Strukturen. Wer an europäischen Hochschulen in den vergangenen Jahren gelernt, geforscht und gelehrt hat, weiß: Zürich und Leipzig sind keine Ausnahmen, sondern allenfalls die Spitze eines „Eisbergs“, den die Universitäten und Forschungseinrichtungen nicht mehr lange unvermessen unter Wasser halten können.

Neben Mobbing-Probleme treten Fragen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, so aktuell in der Heidelberger Medizin und in der Tübinger Hirnforschung, Fragen der mangelnden Aufsicht und Prüfung nicht nur an der Schnittstelle zur Privatwirtschaft, sondern auch in den Qualifikationsprozessen, in der Betreuung und Bewertung von Qualifikationsschriften, schließlich die akademischen Kapitel des #MeToo-Komplexes. So heikel wie das Erfahrungswissen, das jedem Zeitungsbericht noch einen Casus aus dem eigenen Umfeld hinzufügen kann, ist die reflexhafte Forderung nach schonungsloser Ausleuchtung: Wie kann garantiert werden, dass sie den In-dubio-Grundsatz achtet, Vorverurteilungen wie Opferstereotype meidet? Wiegt der Nutzen für die Öffentlichkeit den Schaden auf, den sie für beteiligte Personen anrichten kann?

1. Tribut an die Transparenz

Im April 2019 gab die Zürcher ETH bekannt, dass sie sich „aus Gründen der Transparenz sowie der Fairness“ entschlossen habe, den Abschlussbericht ihrer „Administrativuntersuchung“, wenngleich in anonymisierter Form, publik zu machen. „Transparenz“ forderte im Interview mit der Republik auch Ursula Keller, Professorin für Physik an der Zürcher ETH, die ihrer eigenen Institution heftige Vorwürfe machte. Die Rüge, mit einem männlichen Professor wäre die ETH anders umgegangen, stammt von ihr. Auch das Doktoranden-Netzwerk der Max-Planck-Gesellschaft, eine Plattform für die über 5.000 Doktorandinnen und Doktoranden, die gegenwärtig mit der Max-Planck-Gesellschaft assoziiert sind, forderte, dass Fälle wie der Leipziger „souveräner, transparenter und zügiger gehandhabt werden“ sollten. Ist Transparenz das Zauberwort? Und: Um welche Transparenz geht es dabei eigentlich?

Die Schulleitung der ETH, die Zürcher Professorin, die ihrer umstrittenen Kollegin öffentlich beistand, und die Doktoranden der Max-Planck-Institute verwenden unterschiedliche Konzepte von „Transparenz“. In der Pressemitteilung der ETH versteckt sich hinter dem Label ganz offensichtlich eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit, die nach den öffentlichen Auseinandersetzungen die umstrittenen Entscheidungen der Hochschulleitung bis in die arbeitsrechtlichen und personalpolitischen Details kommunizieren sollte – auch dort, wo sie zu Lasten einzelner beteiligter Mitarbeiter gingen. Statt von Transparenz und Fairness wäre in solcher Hinsicht wohl treffender von kommunikationsstrategischer Schadensbegrenzung zu sprechen. Dass die Schulleitung damit nach eigener Auskunft auf das „gestiegene öffentliche Interesse“ reagierte, bestätigt diesen Verdacht, gerade weil die Schulleitung im Konflikt nicht neutral, sondern Partei war: In der öffentlichen Debatte war und ist sie mit dem Vorwurf konfrontiert, auf Mobbingvorwürfe zu lange gar nicht, dann zu schnell und unter unklaren Bedingungen reagiert zu haben. Mehrfach ist ihr das Verfahren offenbar entglitten: Jedenfalls beauftragte sie zuletzt externe Anwälte, die in einer eigenen, internen Untersuchung die Vorwürfe prüfen sollten.

Von Transparenz wäre aber auch dann nicht sinnvoll zu sprechen, wenn die ETH keinen Ruf zu verlieren und keine eigenen Aktien hätte. Denn auf die Details der Dokumente, Vorfälle, Thesen, Gegenthesen hat die Öffentlichkeit nicht zwingend einen Anspruch, der schwerer wiegen würde als die zu schützenden Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und Beteiligten. Transparenzforderungen provozieren auch praktische Zweifel: Wäre es nicht eine schlichte Überforderung, die komplexe Dokumentenlage so umfassend aufzubereiten, dass die Darstellung fachlich angemessen, trotzdem nachvollziehbar bliebe und die öffentliche Beurteilung fair ausfallen könnte?

Erst recht hilft es nicht, den hyperbolischen Ausdruck von der „vollständigen Transparenz“ durch die Forderung nach „mehr Transparenz“ zu ersetzen. Transparenz lässt sich nicht halb haben: Es gäbe sie ganz oder gar nicht – das liegt im Begriff, wenn er auf das Durchsichtige, nicht auf das bloß Durchscheinende zielt. Teiltransparenz ist, unter asymmetrischen Verfügungsbedingungen zumal, eine geläufige Manipulationsstrategie, mit der faktenhungrige, unaufmerksame Schaulustige gefüttert und von Strukturproblemen abgelenkt werden. Wird ein Teil offengelegt, bleibt immer die Frage nach dem, was verschwiegen wird. Die Urteile über die Fälle lassen sich durch den gewählten Ausschnitt steuern. Im Zürcher Fall zeigen die Chronologien der Vorfälle, die Pressemitteilungen, Reportagen und Kommentare genau das.

Entsprechend widersprüchlich fallen die Urteile aus. Mittlerweile, so berichtet die NZZ, prüfe die ETH offenbar auch ein Kündigungsverfahren gegen Ursula Keller aufgrund der zum Fall abgegebenen Kommentare – und bekommt gleichzeitig Gegendruck von 80 Professoren der ETH Lausanne, die in einer Petition die sorgfältige Prüfung der Verfahren auf ein mögliches Gender-Bias fordern. Auch dieser Beitrag kann sich nur auf das stützen, was publik gemacht wurde. Der ernsthafte Tribut an die Transparenz wäre zuerst grammatischer und rhetorischer Natur: die Wahl des Konjunktiv I bei notgedrungen lückenhafter Nachrichtenlage, um vorschnelle Schlüsse zu vermeiden; zugleich die Vermeidung der skeptischen Rede von bloßen „Narrativen“ und „Versionen“, die aus der eigenen Überprüfungsunlust auf die Unbelegbarkeit von Missständen fehlschließt. Es kommt einer Verhöhnung der Opfer gleich, allein von Wahrnehmungsdifferenzen zu sprechen.

Im Zürcher und Leipziger Fall besteht anscheinend kein ernsthafter Zweifel daran, dass wissenschaftliches Leitungspersonal erhebliche Fehler gemacht hat. Vor allem aber, und das ist der entscheidende Punkt, mangelte es an Verfahren, die nach den ersten Hinweisen eine zügige Untersuchung in Gang gebracht, die Beteiligten geschützt und zu einer umsichtigen Beschlusslage geführt hätten, die öffentlichem Druck und kritischen Nachfragen hätte standhalten können. Bislang kochen die Universitäten und Forschungsinstitute ihre internen Probleme in Kesseln ohne Überdruckventil, kappen die Außenkommunikation, dichten sich ab, solange es geht. „Viele Fachkollegen kritisierten ihn, aber kaum jemand wagte den Schritt in die Öffentlichkeit“, schrieb die Süddeutsche Zeitung über den Tübinger Fall um den Hirnforscher Niels Birbaumer, dem die Arbeit mit frisierten Studien vorgeworfen wird. Ist immer wieder ein Knall nötig, um Fehler aufzudecken? Haben Explosionen je für Transparenz gesorgt – oder eher für einen großen Scherbenhaufen und hohe Kollateralschäden?

2. Verfahrenstransparenz

Eine ganz andere Wendung bekommt die Forderung nach Transparenz, wenn sie sich nicht auf die Fakten, sondern auf die Verfahren bezieht. Die Zürcher Professorin und das MPI-Doktorandennetzwerk brachten diese Dimension jeweils ins Spiel – in beiden Fällen gab eine Missbrauchsdiagnose den Ausschlag. Ursula Keller behandelte im Interview die Gremien- und Entscheidungsprozesse auf Fakultäts- bzw. Departement-Ebene und berührte damit Fragen der wissenschaftlichen Selbstverwaltung. Das Positionspapier des MPI-Doktorandennetzwerks zu „Machtmissbrauch und Konfliktlösung“ setzt grundlegender an: Es geht davon aus, dass der „Missbrauch von Macht in der Wissenschaft“ ein „strukturelles Problem des aktuellen Wissenschaftssystems“ sei. Insbesondere das „Fehlen zuverlässiger und vertrauenswürdiger Mechanismen, Konflikte zu melden und zu lösen“, erschwere es, die Opfer zu schützen.

Deutliche Worte finden sich auch in der Pressemitteilung des Deutschen Hochschulverbandes vom April 2019 zum Thema Sexuelle Belästigung und Mobbing an Hochschulen: Der DHV fordert darin „rechtsstaatliche Verfahren und zentrale Anlaufstellen“. [4. Vgl. auch: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/forderung-von-hochschulverband-ohne-bashing-oder-gewalt-16134669.html.] Zwar existierten, heißt es in der Pressemitteilung weiter, bereits zahlreiche Anlaufstellen, von Ombudspersonen über Konfliktberater bis zu psychosozialen Beratungsstellen. Ein „ungeordnetes Nebeneinander von Zuständigkeiten“ wird aber als „unprofessionell und rechtsstaatswidrig“ kritisiert. An die Stelle überlappender und unklarer Zuständigkeiten solle nach Vorschlag des DHV eine Clearingstelle treten, der zumindest ein Mitglied angehört, das die Befähigung zum Richteramt nachweisen könne. Dies sei notwendig, da zu den Aufgaben der Clearingstelle die zeitnahe Entscheidung darüber gehöre, welches Verfahren das geeignete sei. Konkret geht es dabei um eine juristische Einschätzung: Ist die Universität für die Prüfung erhobener Vorwürfe überhaupt zuständig, oder ist der Fall an die Justiz abzugeben? Ist die Universität zuständig, muss geprüft werden, welcher Verfahrensweg zur internen Prüfung eingeleitet wird, wie sorgfältige Ermittlung sich mit zügiger Klärung und mit dem Schutz aller Betroffenen verbinden lässt, welche arbeitsrechtlich relevanten, welche disziplinarrechtlichen Maßnahmen in den einzelnen Schritten zur Entscheidung anstehen, wie sie dokumentiert und wie sie kommuniziert werden.

Universitäten tendieren zu internen Lösungen – aus guten Gründen der Wahrung ihrer modernen Autonomie, aus schlechten Gründen institutioneller Selbstimmunisierung in der Tradition des kanonischen Rechts, mit dem sich der Klerus vor dem Zugriff weltlicher Justiz schützte. Die universitären Verfahren, in denen Fehlverhalten verhandelt wird, müssen, so der Deutsche Hochschulverband, auch dann geordnet verlaufen, wenn der jeweilige Fall unterhalb der Strafbarkeit bzw. der arbeits- oder disziplinarrechtlichen Verfolgbarkeit liegt. In dieser Situation sei eine Verfahrensordnung zu beschließen, die rechtsstaatlichen Anforderungen genüge. Dazu zählt der Hochschulverband u. a., 1. dass über den Gang des Verfahrens und seine wesentliche Ergebnisse Protokoll zu führen sei, 2. dass beschuldigte Beteiligte zu den Vorwürfen Stellung nehmen können, 3. dass Fristenregelungen für die Aufbewahrung und Löschung der Akten geschaffen werden, 4. dass gegen die Entscheidungen der Rechtsweg offenstehe. Diese und weitere verfahrensrechtliche Grundsätze lassen sich in jedem juristischen Lehrbuch nachschlagen: Dass sie als Forderungen an Universitäten formuliert werden, ist eigentlich ein starkes Stück. Versteht sich das nicht von selbst? Haben Hochschulen wie die Kirche immer noch ihre eigene Form der Rechtsprechung?

Die Fülle der Verfahrensunsicherheiten an Universitäten, über die mittlerweile öffentlich diskutiert wird, ist erschreckend – nicht nur auf der Ebene der nachträglichen Aufarbeitung. Der Heidelberger „Blutskandal“, der es bis in die Boulevard-Presse schaffte, ist noch nicht ausgestanden [5. Vgl. Frederik Obermaier / Kathrin Zinkat, Chefarztbehandlung. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. Mai 2019.], die Staatsanwaltschaft ist eingeschaltet, eine Expertenkommission zur Aufklärung der Details ist eingesetzt, zudem wird offenbar erwogen, zusätzlich eine externe Anwaltskanzlei mit den Verfahren zu betrauen. [6. Vgl. https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/mannheim/Streit-um-Bluttest-zur-Erkennung-von-Brustkrebs-Expertenkommission-der-Uniklinik-Heidelberg-startet,expertenkommission-startet-100.html.] Zu fragen wäre nicht allein retrospektiv nach den Gremienentscheidungen und Aufsichtspflichten. Während das herausgedrängte Forscherinnenteam offenbar für einen vorsichtigen Umgang mit den ersten Ergebnissen plädiert hatte, sei der Dekan der medizinischen Fakultät nach Berichten der Süddeutschen Zeitung an der schnellen Lancierung des Tests in der Presse beteiligt gewesen und sei über notwendige, vorgeschaltete Prüfschritte hinweggegangen. Rücktrittsforderungen werden laut, aber auch mit dem Hinweis auf die destabilisierende Wirkung pariert, wie die FAZ berichtete: „Wenn wir uns zerfleischen, fallen wir zurück.“

Diese Verteidigungsstrategie erinnert an den Vorwurf, dass Professoren in Plagiatsverfahren dazu neigten, „den betroffenen Doktorvater in falscher kollegialer Rücksichtnahme zu schonen und ihn wie einen nahezu Unbeteiligten zu behandeln, der keine Verantwortung trägt“. [7. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/forderung-von-hochschulverband-ohne-bashing-oder-gewalt-16134669.html.] Die Aberkennung von Doktortiteln verschaffte in den vergangenen Jahren nicht nur den beteiligten prominenten Personen, sondern zusehends auch den Hochschulen schlechte Presse. Harsch ist die Anklage eines emeritierten Lehrstuhlinhabers aus den Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin nicht nur gegen sein eigenes Institut: Schlamperei, veraltete Promotionsordnungen und, auch hier, deutliche Verfahrensmängel. Aus der „Erfahrung von etwa 100 Promotionen“, die er als „Erst- und Zweitgutachter sowie Mitglied der Promotionskommission begleitet“ habe, kritisiert er Intransparenz und Willkür im Betreuungsverfahren und empfiehlt, was in den Mobbingfällen auch gefordert wird: die Schwächung der Stellung des Erstbetreuers. Denn, so die Diagnose, je mächtiger und angesehener der Erstbetreuer, desto leichter könne er einen Zweitbetreuer „auf Linie“ vorschlagen; die anderen beteiligten Hochschullehrer hätten die Dissertation dann meist nur noch „angelesen“.

3. Die Logik des Skandals

„Allzu lauter Ton bei Beschwerden“, ist einer der Aphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches überschrieben. Friedrich Nietzsche beschreibt eine Dialektik des öffentlichen Skandals: Wer einen „Nothstand (zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften)“ stark übertrieben darstelle, mag das Ohr und die Sympathie der „Einsichtigen“ verlieren, wirke dafür aber umso stärker auf die „Nichteinsichtigen“, die sich in der Mehrzahl befänden. „Insofern ist es nützlich“, schließt Nietzsche seinen Aphorismus, „Nothstände übertrieben darzustellen.“ [8. Friedrich Nietzsche, 448. Allzu lauter Ton bei Beschwerden. In: Ders. Menschliches, Allzumenschliches. Hrsg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari. München: DTV 1999.]

Allzu laut wirkt manche Beschwerde in den skizzierten universitären Fällen: Kann man das nicht diskreter, schonender regeln, den Ruhebedürfnissen der Gelehrtenrepublik Rechnung tragen, deren institutionelles Gehäuse Nietzsche, zur Leisetreterei nicht aufgelegt, frühzeitig verlassen hatte? „Silentium“ sei einzuhalten, steht nicht nur über den Lesesälen vieler Bibliotheken, sondern auch über den Türen vieler Institute. Aus Rücksichtsgemeinschaften werden manchmal Schweigekartelle. Wenn Universitäten und Forschungsinstitutionen für Missbrauchsfälle, für die Aufarbeitung, Ahndung und Prävention von Fehlverhalten bis heute keine verlässlichen, geordneten Verfahren haben, zwingen sie den Opfern zwei gleichermaßen untragbare Verhaltensweisen auf: bedrückte Selbstzensur oder die überlaute Beschwerde, die über die Mauern der Institute hinweg trägt und die Universität über öffentlichen Druck in die Defensive bringt.

Dass sie sich an die Öffentlichkeit gewandt haben, mag die Leipziger Nachwuchswissenschaftler geschützt haben. Plötzlich konnte eine MPI-Leitung nicht mehr unbeobachtet agieren, war unter Rechtfertigungszwang geraten. Geholfen hat in diesem Fall zweifellos auch die Pointe, dass die betroffene Direktorin als Expertin für Empathie galt, die ihr im eigenen Arbeitsumfeld offenbar fehlte. Die stakes waren in Zürich vielleicht höher, der Konflikt in Leipzig interessanter. Die Presse kann im Einzelfall eine Korrekturfunktion haben – der Preis ist jedoch hoch, wenn Details aus dem Berufs- und Privatleben der beteiligten Personen öffentlich verhandelt werden. War die Leipziger Wirkung anderen Fällen vergleichbar? Vor Leipzig war Garching [9. Vgl. Sven Grünewald, Rituale des Wegschauens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. August 2018; Kristin Haug, Machtmissbrauch an Hochschulen: „Ihr Verhalten war unvorhersehbar, und ich hatte Angst und Stress.“ In: Der Spiegel vom 27. Februar 2018.], vor Garching war … Was passiert, wenn zwei „Nothstände“ ineinandergreifen? Was, wenn Profiteure auf den Plan treten, die harte Konsequenzen nicht um des Rechtes, sondern um der eigenen Vorteile willen einfordern? Was, wenn die Öffentlichkeit der „Skandale“ müde wird?

Als „Skandale“ sind die Vorfälle in Zürich und Leipzig tatsächlich unzureichend beschrieben. Wenn der akademische Skandal den spektakulären Ausnahmefall, den Aufsehen erregenden Bruch einer durchgesetzten Norm darzustellen scheint, dann besteht seine Funktionalität bestenfalls darin, auf ähnlich gelagerte Fälle so weit aufmerksam zu machen, dass sein eigener Ausnahmecharakter fragwürdig wird. Schutz vor Missbrauch verspricht die Forderung nach „maximaler Transparenz“ nicht. Schutz bieten allein klare, transparent geregelte und überprüfbare Verfahren: schon im Vorfeld, nicht erst retrospektiv. Bei ihrer Kodifizierung, ihrer Implementierung, ihrer Evaluation verlangen drei entscheidende Punkte Beachtung:

(1.) Universitäten und Forschungsinstitute stehen nicht außerhalb rechtlicher und verfahrensbezogener Grundanforderungen. Sie müssen den Privilegien, die sie genießen, und den rechtsstaatlichen Standards, die an ihren juristischen Fakultäten gelehrt werden, in ihren eigenen Verfahren, ihrer eigenen Praxis in besonderer Weise und ohne Abstriche gerecht werden. Sie dürfen sich weder hinter autoritärem Dezisionismus noch hinter weichen Konfliktmanagement-Angeboten, nicht hinter zahnlosen, parallel agierenden Pro-Forma-Gremien ohne Sanktionsfähigkeit, erst recht nicht hinter kommerziellen Lösungen, hinter einem Outsourcing von Problemen an externe Kanzleien oder Agenturen, verstecken, wenn es darum geht, die eigenen Verfahren transparent und rechtsstaatskonform zu definieren, nach denen Fehler identifiziert, Vorfälle überprüft, Konsequenzen gezogen werden.

(2.) Verfahrenstransparenz wird die starken Asymmetrien, denen das Handeln innerhalb von Hochschulen und Forschungsinstituten unterworfen ist, nicht abschaffen – weder mit Blick auf die Befugnisse, die materiellen und zeitlichen Ressourcen noch mit Blick auf Erfahrung, Reputation und Netzwerk. Transparente Verfahren wären solche, die diese Asymmetrie nicht ignorieren, sondern ihr gewichtend Rechnung tragen, indem sie checks and balances einbauen. Das gilt gerade im Nachwuchsverhältnis, in der die Verfahrenstempi die Bedingungen der schwächeren Partei berücksichtigen müssen, die nicht über entfristete Verträge verfügt und sich jahrelange, unstrukturierte Untersuchungen und Untersuchungen von Untersuchungen nicht leisten kann.

(3.) Die Mauern, die die Gelehrtenrepubliken vor externen Übergriffen aus der Exekutive oder aus der Wirtschaft schützen, dürfen nicht die Sicht zu Lasten der schwächeren Mitglieder abriegeln. Universitäten und Forschungsinstitute bedürfen nicht allein in ihren Projekterfolgen, sondern auch in ihren Strukturschwächen einer verfahrensförmig regulierten Außenperspektive – nicht allein fachspezifisch, sondern auch arbeits- und beamtenrechtlich. Damit der Außenblick nicht neue Willkür mit sich bringt, braucht er keine wohlklingenden Beteuerungen und Absichtserklärungen, sondern durchsetzbare Standards – auf nationaler, auch auf europäischer Ebene. Es ist weder rechtlich plausibel noch organisatorisch effizient, wenn jede Hochschule, jede zuständige Aufsichtsbehörde die präferierten Verfahren je nach Stärke und Interessen der jeweiligen Organe und Gremien erst generiert, wenn die Detonationswellen bereits die Boulevardpresse erreicht haben.

Auch wenn dabei Strukturen der universitären Selbstverwaltung reformiert und professionalisiert werden müssen, bedeutet das keinen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit, die Hochschulautonomie oder das föderale Prinzip. Der Eingriff droht gegenwärtig von ganz anderer Seite und zeigt sich in parlamentarischen Anfragen der rechten Fraktionen, die im Namen vorgeblicher Transparenz an die Universitäten herangetragen werden – zu Gender-Forschung und postkolonialer Theorie, zu Provenienzfragen und Klimaforschung. Hochschulen, die es investigativen Plattformen überlassen, Entscheidungen zu prüfen, müssen an der Stelle nicht eingeschüchtert oder gesprächig reagieren. Gremien-Energie sollte stattdessen in die Ausarbeitung verlässlicher, transparenter Verfahren fließen, die entgleisende Ermittlungen und Schadensabwicklungen wie in Leipzig, Heidelberg, Tübingen oder Zürich künftig verhindern. Eine allzu selbstzufriedene Verfahrensbilanz der Universitäten und Forschungseinrichtungen würde der Vertrauenserosion, die öffentliche Institutionen derzeit beobachten, nur gefährlichen Vorschub leisten.