Der Körper als Feind. Eine Antwort auf die Frage: „Was ist Musik?“

„Im Allgemeinen werden Musikwissenschaftler ja nicht mit Musik identifiziert“, wusste der 2010 verstorbene Musikwissenschaftler Reinhard Brinkmann (Harvard-University) zu berichten, „das hat mich schon immer gestört. Der Komponist Wolfgang Rihm, mit dem ich unlängst sprach, fing auch so an. Wir wissen, sagte er, was Musiker tun: Sie spielen Geige oder Klarinette oder sonst ein Instrument. Und wir wissen, was Komponisten tun: Sie schreiben Musik. Aber was machen Musikwissenschaftler?“ [1. Reinhold Brinkmann im Gespräch: Warum muss man über Musik reden, in: Der Tagesspiegel vom 29.05.2001 .] Als Musikwissenschaftler von Profession lautet meine Antwort: Sie erklären Musik oder mit Worten des Züricher Ordinarius Laurenz Lütteken: Das „Kerngeschäft“ der Musikwissenschaft ist „die denkende Auseinandersetzung mit dem wunderlichen Phänomen der Musik“. Die Musikhistoriker, -systematiker und -ethnologen erforschen, was das Erklingende in unserer Welt, sofern es von Menschen in irgend einer Weise geformt ist, als Phänomen in allen uns bekannten medialen Ausprägungen ist, und – so zumindest die Historiker dieser Profession – leiten aus dieser Erkenntnis ab, was sie zu sein habe; also, was ihrer Meinung nach „gute“ Musik ist. Im sogenannten „klassischen“ Genre ist es das, was sich als editionswürdig erweist; also letztlich das, was sich im Repertoire behauptet hat. Und in der Pop- und Filmmusik ist es zwangsläufig das, was erfolgreich ist. Wäre es anders, hätte der Musikwissenschaftler ja die ewige gültige Formel für Hits entdeckt, was dieser nachweislich aber nicht hat.

Insofern ist die Frage von eminent gesellschaftlicher und kulturpolitischer Brisanz, was denn das „wunderliche Phänomen“ Musik eigentlich sei, und ob unser wissenschaftliches Erklären für ein Verstehen tatsächlich ausreicht? Der eingangs zitierte Musikwissenschaftler Brinkmann hatte eine Antwort auf Rihms Frage parat: „Am liebsten wäre ich an das nächste Klavier gesprungen und hätte Rihm etwas vorgespielt“. Das beantwortet nun freilich die Frage nicht, verweist aber auf das Grundproblem: Musik ist eine Vortragskunst, und es bleibt nach wie unentschieden, ob und wenn ja, in welcher Weise diese zur wissenschaftlichen Analyse taugt. Selbst Arnold Schönberg zweifelte und verzweifelte: „Die Reihe meines Streichquartetts hast Du richtig […] herausgefunden“, schrieb er seinem Schüler Rudolf Kolisch. „Das muß eine sehr große Mühe gewesen sein, und ich glaube nicht, daß ich die Geduld dazu aufbrächte. Glaubst Du denn, daß man einen Nutzen davon hat, wenn man das weiß? […] Die ästhetischen Qualitäten erschließen sich von da aus nicht, oder höchsten nebenbei“. Solche Analysen, so Schönberg weiter, führten „ja doch nur zu dem, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist!“ [1. Arnold Schönberg an Rudolf Kolisch, Brief vom 27.7.1932, in: A. Schönberg: Ausgewählte Briefe, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 178f.]

Musik ist etwas Universelles und, jenseits wissenschaftlicher Befragung, etwas, das jeder Musikliebhaber zu verstehen meint. Musik als das Phänomen „Musik“ zu identifizieren (gegenüber bloßem Lärm, Stille, Sprechen, Laut), egal ob es Pfeifen, Trommeln, Kunstmusik oder tönendes Geräusch, Pop oder Volksmusik ist, gelingt in der Regel mühelos. Es muss also der „Musik“ etwas eigen sein, was wir tatsächlich erkennen oder als solches verstehen können. Was die Musikwissenschaft uns als Erkenntnis „des Musikalischen“ anbietet – und die Rede ist hier von Musik, nicht von mit Musik zusammenhängenden soziologischen, belletristischen oder anderen kulturgeschichtlichen Phänomenen wie Musikleben usf. – taugt freilich hierzu nicht, weil es nur auf einen abgezirkelten, elitären Bereich zutrifft: der Beschreibung von Notationen oder Höranalysen. Letztere werden aber  gleichfalls auf der Basis von Kompositionstechniken geleistet, nach wie vor dem adornitisches Erbe verpflichtet. Doch Kompositionstechniken und ihre Niederschrift sind eben – und das ist das fundamentale Missverständnis – nicht die Musik selbst. Sie sind das Spiel ermöglichende Bausteine, dem genetischen Code des Lebens  vergleichbar. Und wie bei diesem ist der Sinn des Lebens so wenig aus dieser Codierung abzulesen wie der Sinn des „Musikalischen“ aus der Niederschrift.

So gesehen steht die Musikwissenschaft methodisch eher den Naturwissenschaften nahe, und nicht den Geisteswissenschaften. Denn Musik ist ein Phänomen der Realität, der Tatsachenwelt. Musik ist schiere Evidenz, sei sie nun komponiert, improvisiert oder Teil einer rituellen Handlung indigener Gemeinschaften.

Mit Wirklichkeit der Musik – und damit mit dem, was Musik „wirklich“ ist – ist eine physikalisch Realität gemeint ist, die zusätzlich dahingehend eingeschränkt ist, dass sie stets auf Wirkung angelegt ist und eine solche auch ausübt. Mit physiologisch messbarer Wirkkraft: Sie stimuliert nachweislich das körpereigene Belohnungssystem und regt die Ausschüttung von Dopamin und endogenen Opioiden an. „Musik geht wirklich ins Blut“– wie die Fachmedizin bestätigt. [1. H. Holzgreve: Musik geht wirklich ins Blut, in: MMW – Fortschritte der Medizin 43 (2005), Jan. 13, 147 (1-2).] Ihre Wirkung ist nicht auf soziale Interaktion angewiesen. Sie ist auch dann real, wenn ich mit dem Kopfhörer von der Außenwelt isoliert alleine in einem Raum sitze.

Zudem umfasst Wirklichkeit stets auch Kontingentes. Unmögliches kann niemals wirklich werden. Diese Bedingung bezeichnet zugleich die Differenz zu einem beispielsweise kubistischen oder surrealistischen Bild oder zur Sprache und den durch sie generierten fiktiven Welten. Auch ist Musik im linguistischen Sinne keine Sprache. „Prekär an der Metapher von einer tonalen Sprache der Musik ist nicht, dass der Vergleich zwischen Musik- und Wortsprache – wie nicht anders zu erwarten ist – an gewisse Grenzen stößt; prekär ist vielmehr, dass sie suggeriert, man könne musikalischen Zusammenhang zureichend von Begriffen wie ‚Sagen‘, ‚Darstellung‘ oder ‚Kommunikation‘ her verstehen“ (Albrecht Wellmer). [1. Albrecht Wellmer: Versuch über Musik und Sprache, München 2009, S. 37.]

Der Sündenfall der Musikwissenschaft im Verstehenwollen von Musik war deren Vergeistigung und konsequente Entkörperlichung durch die Wissenschaft, insbesondere hinsichtlich des erkenntnisleitenden Interesses. Und der Sündenfall hat ein konkretes Datum. Arne Stollberg, Professor für Musikwissenschaft an der Humbold-Universität Berlin, identifiziert als Schlüsseltext die 1854 publizierte Habilitationsschrift  Eduard Hanslicks: „Vom Musikalisch-Schönen“: Wer Musik – nach Hanslicks Terminologie – nicht „ästhetisch“ höre, das heißt in „reiner Anschauung“ der „tönend bewegten Formen“, sondern „pathologisch“, genussvoll hingegeben an den schieren Effekt der Klänge, der werde nicht „durch geistige Überlegenheit oder ethische Schönheit“ bezwungen, sondern nur „infolge befördernder Nervenreize. Die Musik löst ihm die Füße oder das Herz, geradeso wie der Wein die Zunge. […] Das Erleiden unmotivierter ziel- und stoffloser Affekte durch die Macht, die in keinem Rapport zu unserem Wollen und Denken steht, ist des Menschengeistes unwürdig“. [1. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1854. Arne Stollberg: „Dionysischer Histrionismus“ und „angewandte Physiologie“: Nietzsche, Wagner und die Frage des performative turn in der Musikwissenschaft, in: AfM 73 (2016), 91-115.] Zugleich markiert dieses Programm die historische Spaltung von E- und U-Musik im ästhetischen Ranking, das noch heute für die Tantiemenverteilung der GEMA maßgeblich ist. Kurz nach Veröffentlichung dieser Schrift wurde mit dem ersten musikwissenschaftlichen Lehrstuhl in Wien jene Hybris einer gedachten gegenüber einer gemachten Musik auch akademisch legitimiert. Wer Musikwissenschaft ihrem auch heute noch gültigen Selbstverständnis nach verstehen will, sollte diesen Text lesen.

Hanslick wurde 1861 zum Ordinarius für „Geschichte der Musik“ in Wien ernannt und war somit der erste universitäre Musikwissenschaftler auf deutschem Sprachgebiet überhaupt, und Guido Adler, Hanslicks Student und ein weiterer der richtungsweisenden Gründungsväter, wurde schließlich sein Nachfolger auf dem Wiener Lehrstuhl.

Der Musikwissenschaftler Martin Geck forderte anlässlich einer Analyse von Beethovens op. 31,2 schon eineinhalb Jahrzehnte vor Stollberg mit Blick auf die Musikanalyse nachdrücklich eine „Wiedergewinnung von Quellen, die durch musikästhetisches Denken in der Nachfolge Eduard Hanslicks weithin verschüttet worden sind“ und gibt zugleich resigniert und zutreffend zu Protokoll, dass er selbstverständlich „als einzelner kein neues Diskurs-Modell einführen“ könne. [1. Martin Geck: Das wilde Denken. Ein strukturalistischer Blick auf Beethovens Op. 31,2, in: Archiv für Musikwissenschaft 57 (2000), S. 76.]  Sein Appell blieb folgenlos. Gleichwohl gibt es von Friedrich Nietzsche („Ästhetik ist nichts als eine angewandte Physiologie“) bis Roland Barthes mit seinen „figures du corps“, die er an der Musik Robert Schumanns explizierte, prominente Zeugen und Zeugnisse für die These, dass ästhetische Wirkung und Wahrnehmung vorzugsweise einer biologischen Erklärung bedarf, jenseits von „Geist“ oder „Seele“. Doch der Körper, so Arne Stolberg, „mutierte“ in der Nachfolge Hanslicks „nachgerade zum Anathema des Faches“.

Eine grundlegende Kritik der tradierten erkenntnisleitenden Interessen und Methodologien wäre deshalb nicht nur gesellschaftspolitisch zwingend, um Wolfgang Rihms einleitend zitierte Frage beantworten zu können, sondern wäre im interdisziplinären Kontext mit Blick auf die zunehmende Transformation des Faches in die Digital Humanities von nicht geringerer Relevanz.

Angesichts der Tatsache, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung aktuell eine Förderlinie ausgeschrieben hat, die dazu beitragen soll, die digitalen Geisteswissenschaften in theore­tischer, methodischer und technischer Hinsicht weiterzuentwickeln, weil „die Vorstellung, dass der Einsatz digitaler Werkzeuge und Algorithmen nur die Bearbeitung größerer Datenmengen erleichtern würde, ohne dass dies epistemologische Implikationen hätte … zu kurz“ [1. BMBF: Richtlinie zur Förderung von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur theoretischen, methodischen und technischen Weiterentwicklung der digitalen Geisteswissenschaften, Bundesanzeiger vom 22.07.2019] greife, zeigt, dass hier in den Fachdisziplinen ein deutliches Defizit erkennbar ist, nicht nur, aber eben auch in der Musikwissenschaft.