High Time to Leave

März, 12. April, 31. Oktober. Derzeit sieht es nicht danach aus, als sei die Liste der Daten, für die – jetzt aber wirklich! – der Brexit angekündigt war oder ist, damit abgeschlossen. Die Geschichte des versuchten EU-Austritts Großbritanniens ist für alle Beteiligten ein Albtraum, egal auf welcher Seite sie stehen: für die Leave-Anhänger, weil sie selbst über drei Jahre nach dem Votum ihren geliebten Brexit noch immer nicht „delivered“ bekommen haben; und für die Remainer, weil sich die Regierung des Landes nach einer Kaskade filmreifer Irrungen und Wirrungen inzwischen in der Hand einer demokratisch höchst unzureichend legitimierten Gruppe von Austrittsfanatikern befindet, die allen Einwänden und dem Benn-Gesetz zum Trotz versucht, die EU „hart“, also ohne irgendein Abkommen, zu verlassen. Insofern hat der Brexit das Land nicht gespalten, sondern geeint, indem er alle zu Verlieren macht. Das „Brexit Anxiety Syndrome“, neuester Sammelbegriff für allerlei ob des Zustands des Landes durchlebten Stress- und Angstzustände, befällt jedenfalls Leave-Anhänger und Remainer etwa gleichhäufig.

Die liberaldemokratische Partei hat im September auf ihrem Parteitag beschlossen, im Falle eines Wahlsieges (ein zugebenermaßen großes „if“) den Brexit kurzerhand widerrufen zu wollen. In diesem Vorhaben manifestiert sich die Traumvorstellung des liberalen, europafreundlichen Milieus: dass der Schmarrn um den Brexit abgeblasen und die ganze leidige Geschichte um ihn einfach vergessen werden könnte. Referendum? Welches Referendum?

Die Kritik an diesem Ansatz war sowohl heftig als auch berechtigt. Natürlich ist er naiv. Die Uhren lassen sich nicht zurückdrehen, die Abnutzungskämpfe der letzten drei Jahre nicht ungeschehen machen. Der Brexit besitzt längst das Kernmerkmal eines Dilemmas: Es gibt keinen schmerzfreien Ausweg, alle Handlungsoptionen werden weh tun. Die Frage ist nur wem, wann, und in welchem Ausmaß. Ein Absagen des Brexits ist wohl kaum der Weg, der den unvermeidlichen Schaden minimiert. Zu verbissen beharren seine Anhänger auf dem Ergebnis des Referendums, und so viel sich gegen dessen prozedurale Umsetzung im Nachhinein auch einwenden lässt: In diesem Punkt haben sie Recht. Den Brexit handstreichartig zu widerrufen hieße, die Grundregeln der Demokratie in einem Ausmaß zu verletzten, von dem selbst Boris Johnson und seine Gang noch weit entfernt sind.

Selbst durch einen Mehrheitsbeschluss in einem zweiten Referendum, wie es inzwischen die Labour-Partei anstrebt, ließe sich der Brexit nicht mehr einwandfrei ad acta legen. Zum einen ergäbe sich sofort die Frage, weshalb das zweite Referendum nun bindender sein sollte als das erste. Würde ein Sieg für Remain in einem zweiten Referendum nicht bestenfalls bedeuten, dass es jetzt unentschieden steht und folglich eine Entscheidungsschlacht notwendig ist? (Die martialische Wortwahl ist beabsichtigt.) Zum anderen könnte eine Niederlage im zweiten Durchgang auf Seiten der Leave-Wähler Frustration, Verschwörungstheorien und Rachegelüste in einem demokratiegefährdenden Ausmaß schüren. Schließlich war der Clou am Referendum von 2016, wir haben es oft gehört, dass die liberalen Eliten des Landes einmal nicht ihren Willen bekommen haben. Wiederholt man das Referendum nun und sagt den Brexit daraufhin ab, ist klar, welchen Spin Britanniens Populisten den Ereignissen sofort geben werden: Wenn „das Volk“ einmal gegen die Elite gewinnt, bietet diese alle Hinhaltetaktiken und unlauteren Mittel auf, um am Ende doch irgendwie die Oberhand zu behalten. Aber wenn die Elite ihre Niederlage im ersten Referendum nicht akzeptiert, warum sollte „das Volk“ seine Niederlage im zweiten akzeptieren? Es ist eine bedrückende Vorstellung, welch destruktive Kräfte in einem solchen Szenario freigesetzt werden könnten.

Ärgerlicherweise ist auch durch keine andere der denkbaren Optionen eine Lösung für das Brexit-Dilemma in Sicht. Austritt mit Deal? Egal, wie er ausfällt – die EU-Gegner werden mit Leidenschaft dagegen zu Felde ziehen, wie der „Wille des Volkes“ dadurch verzerrt, entfremdet, verwässert worden sei. Austritt ohne Deal? Abgesehen davon, dass diese Option jetzt illegal ist, ist zu den haarsträubenden Konsequenzen dieses Schrittes nicht erst seit Yellowhammer alles gesagt. Neuwahl? Ergäbe nur dann Sinn, wenn alle Parteien sich zuvor eindeutig in der Brexit-Frage positionieren würden – und davon sind sowohl Tories als auch Labour weiter entfernt als je.

Alle diese Varianten sind in den letzten Monaten endlos durchleuchtet und erörtert worden. Ein anderer Vorschlag wurde, meines Wissens, bisher aber noch gar nicht erwogen: ein zweites Referendum. Aber die Option eines Verbleibs in der EU sollte dabei nicht zur Wahl stehen.

Für diesen Ansatz lässt sich eine schlüssige Begründung geben: Das Ergebnis des ersten Referendums war knapp, aber eindeutig: Die Briten haben entschieden, die EU zu verlassen. War diese Entscheidung nicht zuletzt das Ergebnis einer gezielten Desinformationskampagne der Leave-Seite? Allerdings. Und bestehen profunde Zweifel daran, dass dieses Ergebnis tatsächlich jemals den genuinen „Willen des Volkes“ widergespiegelt hat? Und ob. Aber all das sind, so bedauerlich das aus der Sicht der EU-Befürworter auch sein mag, keine triftigen Gründe, die Legitimität des Referendums selbst zu bestreiten. Wenn in Demokratien künftig das Ergebnis einer Abstimmung immer dann übergangen werden darf, wenn das Elektorat offenbar unzulänglich über das Thema der Abstimmung informiert war, ist die Büchse der Pandora offen. Es ist, wie es ist: they voted leave.

Allerdings – und das ist der entscheidende Punkt – war das Ergebnis vom 23. Juni 2016 immer so vage, dass es niemals als Mandat im eigentlichen Sinne taugen konnte. Wenn die letzten drei Jahre irgendetwas verdeutlicht haben, dann, wie kompliziert eine Scheidung ist. There must be 50 ways to leave the EU. Mindestens. Und auch wenn Boris Johnson und die Seinen diese Tatsache nach Kräften ignorieren: Es ist vollkommen unklar, welchen Weg die britischen Wählerinnen und Wähler seiner Zeit im Sinn hatten. Tatsächlich steht zu befürchten, dass sich viele von ihnen nicht darüber im Klaren waren, dass raus nicht einfach raus ist. Und die Anführer der Leave-Kampagne haben nicht gerade proaktive Aufklärung darüber betrieben, dass nach ihrem Erfolg die eigentlichen Fragen erst beginnen.

Diese Fragen zu beantworten, ist der britischen Politik eindrucksvoll nicht gelungen. „Nein“ lautete die mehrheitliche Antwort der Parlamentarier zu jedem der acht Vorschläge, über die im März probehalber im Unterhaus abgestimmt worden war, nachdem dort bereits das von Theresa May ausgehandelte Abkommen dreifach mit ebenjener Antwort beschieden worden war. Auf der Suche nach dem richtigen Kurs haben die Abgeordneten das Land in eine Sackgasse manövriert. Der Ball muss zurück zum Souverän. Nachdem die Wählerinnen und Wähler bereits 2016 kundgetan haben, was sie nicht wollen, nämlich in der EU bleiben, ist es jetzt an der Zeit, dass sie ihren Wunsch präzisieren. Das bedeutet allerdings auch, dass die von ihnen bereits getroffene Grundsatzentscheidung jetzt nicht wieder zur Disposition stehen sollte. Es geht nicht mehr um das ob, sondern nur noch um das wie.

Mitnichten heißt das, so ein Vorgehen würde keine verzwickten Anschlussprobleme schaffen. Selbst, wenn sich das Menü der denkbaren Brexit-Optionen eingrenzen ließe – und ohne Willkür wird das nicht gehen, schließlich sind diese theoretisch unbegrenzt – wäre es höchst bedenklich, eine derart komplexe Entscheidung auf die Wählerinnen und Wähler abzuwälzen: Mays Vertrag oder No Deal? Zollunion oder Binnenmarkt? Backstop oder dezentrale Zollkontrollen? Schwer zu sagen, wie jemand das beurteilen soll, der neben seiner Funktion als Wahlberechtigter auch noch ein Privat- und Berufsleben am Hals hat. Allerdings geht es an dieser Stelle längst um mehr, als „nur“ die dem Gemeinwohl zuträglichste Art des Austritts zu bestimmen. Die Stabilität der britischen Demokratie selbst steht auf dem Spiel. Konsolidieren kann sie sich nur, wenn in dieser Schicksalsfrage nicht ein wild gewordener Premier, ein zerrissenes Parlament oder gar ein Gericht das letzte Wort spricht. Nur das Elektorat kann eine Antwort geben, deren Legitimität hinterher nicht von der Verliererseite bekämpft und womöglich untergraben werden wird.

Ein zweites Referendum ohne Option of EU-Verbleib ist ein Vorschlag, der auf pro-europäischer Seite vermutlich wenig Begeisterung entfachen wird. Zu groß ist immer noch die Hoffnung, den Brexit noch stoppen und danach den Mantel des Schweigens über die ganze Angelegenheit breiten zu können. Aber diese Hoffnung zeugt selbst nicht von einem untadeligem Demokratieverständnis. Es wird oft von „Spielregeln“ der Demokratie gesprochen. Zu den wichtigsten zählt, ein guter Verlierer zu sein. Der Brexit muss jetzt über die Bühne, sonst kommt das Königreich nicht mehr zur Ruhe. Was den Verlierern von heute Hoffnung geben sollte, ist, dass in der Demokratie keine Niederlage endgültig ist. Vielleicht entscheiden sich die Briten eines Tages wieder für die Europäische Union. Diese Wiedergutmachung kann aber nicht mehr von der alten Remain-, sie muss dann von einer neuen Rejoin-Kampagne errungen werden.