All nice people, like Us: Handke und die Nobel-Gesellschaft

Klar, ausschlaggebend für den Literaturnobelpreis ist nicht nur die ästhetische Qualität eines Werkes, sondern auch dessen idealistisch-humanistische Ausrichtung. Aber der Vergleich von Handke und Knut Hamsun, der jetzt gelegentlich bemüht wird, hinkt doch nicht nur in chronologischer Hinsicht. Der Vorwurf, den Saša Stanišić mit seinem eigenen Überleben verbürgt, lautet Komplizenschaft durch Beschönigen, Unterschlagen, Verfälschen des Stattgefundenen.

Legt man diese einleuchtenden Maßstäbe an, tanzt Handke aber nicht aus der Reihe, sondern befindet sich in guter Nobel-Gesellschaft. Henri Bergson wurde 1928 als stilistisch glänzender Philosoph geehrt, so als ob es sein vitalistisches Abfeiern des Ersten Weltkrieges nie gegeben hätte. In „Die Bedeutung des Krieges“ hatte Bergson 1915 eine rhetorische Frage an seine französischen Landsleute gerichtet:

„Mit diesem Volk, mit diesen Soldaten, bewegen wir uns im Wirklichen; aber wir bewegen uns ebenso im Ideal, einem Ideal, das alles übersteigt, was wir bislang durchlebt haben. Wenn jemand uns vor sechs Monaten gefragt hätte, wie wir uns im Idealfall eine bis zum Äußersten gedrängte Energie vorstellen, hätten wir dann etwas in seiner Einfachheit so Großes im Sinn gehabt, wie das, was vor uns liegt: die unerschütterliche Gelassenheit einer Bevölkerung, der nichts etwas auszumachen scheint, weil sie von Vornherein bereit ist, alle Opfer zu bringen?“

Dass im Gegenzug das Abschlachten von Franzosen Thomas Mann erregende Gänsehautmomente bescherte und ihm als Vorlage einer gewaltigen Auseinandersetzung zwischen Kultur und Zivilisation diente, ist bekannt. Man könnte einwenden, ihm wurde der Preis vor allem für die Buddenbrooks verliehen – und außerdem habe Mann mit seiner 1922 gehaltenen Rede Von Deutscher Republik Buße getan für seinen literarisch veredelten Kriegsnationalismus.

Schon vorher hatte mit Kipling jemand gewonnen, der eine durchaus eigene Sicht auf die Wirklichkeit des britischen Imperialismus in die Waagschale warf. Überhaupt wünscht Kipling, der sich seine Trophäe 1907 in Stockholm abholen durfte, erstaunlich vielen den Tod: Die Zeit von 1905-1914 beschrieb sein Biograph als Kiplings „Jahrzehnt des Hassens“. Das Nobelkomitee wusste in seiner Begründung die „männliche Stärke in Auffassung und Schilderungskunst“ zu schätzen, die nicht zuletzt in Gedichten wie „The White Man‘s Burden“ zum Ausdruck kommt. Obwohl in den letzten Jahren eine andere Facette in Kiplings Texten wieder stärker betont wird: seine Prosa und Poesie seien „imperial gothic“, der auch dem Horror der europäischen Überseeexpansion eine Stimme verleiht.

Dass Chesterton ihn als wurzellosen Kosmopoliten verachtete, ließ ihn plötzlich in einem schmeichelhafteren Licht erscheinen. Vom Apologeten des Kolonialismus zum Inbegriff des Weltbürgers – auch so kann’s gehen. Und dann wird aus seinem Gedicht „We and They“ zitiert:

„All good people agree,
And all good people say,
All nice people, like Us, are We,
And everyone else is They:
But if you cross over the sea,
Instead of over the way,
You may end by (think of it) looking on
We
As only a sort of They!“

Was soll man über Winston Churchill sagen, von dem es in der Preisbegründung 1953 hieß, er habe sich in seinen historischen Darstellungen als ein „Verteidiger von höchsten menschlichen Werten“ hervorgetan? Das ist derselbe Mann, der sich über die „unheilvolle Konföderation“ des internationalen Judentums ereifern konnte. Sich wegen der europäischen Eroberungsfeldzüge schuldig zu fühlen, gar zu entschuldigen, kam für ihn ohnehin nicht in Frage: „Ich sehe nicht ein, dass den Indianern in Amerika oder den Schwarzen in Australien dadurch ein großes Unrecht getan wurde, dass eine stärkere, höherwertigere Rasse eintraf und ihren Platz einnahm.“

Als verantwortungsethischer Politiker – das unterscheidet ihn von zahlreichen anderen Preisträgern – hatte der zeitweilige Mussolinibewunderer Churchill kein Problem damit, sich die Hände schmutzig zu machen. So empfahl er zur Aufstandsbekämpfung im Irak, damals ein britisches Mandatsgebiet, die Verwendung von Massenvernichtungswaffen: „Ich bin entschieden für den Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Stämme. […] Die moralische Wirkung dürfte so stark sein, dass der Verlust von Menschenleben auf ein Minimum reduziert wird.“

Albert Camusʼ 1957 gehaltene Dankesrede wiederum löste in Frankreich einen Skandal aus, weil er sich weder auf die Seite der algerischen Unabhängigkeitsbewegung schlagen noch den Fürsprechern des französischen Kolonialreiches uneingeschränkt Recht geben wollte. Es war die Ambivalenz des in Algerien Geborenen, die ihn in den Augen vieler Linker zum Komplizen des Unrechts machte. War es nicht die Aufgabe jedes engagierten Intellektuellen, den Befreiungskampf zu unterstützen? Im Gedächtnis geblieben ist vor allem eine missverständliche Formulierung von Camus, die sich auf die Gewalt der algerischen Befreiungsfront bezog: „Ich muss auch einen Terrorismus verurteilen, der beispielsweise in den Straßen Algiers blind wütet und eines Tages auch meine Mutter oder meine Familie treffen kann. Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber bevor ich die Gerechtigkeit verteidige, werde ich meine Mutter verteidigen.“

Camusʼ Bruch mit Sartre, der den Preis 1964 nicht annahm, war schon vorher vollzogen. Die Aussagen seines einstigen Weggefährten über den Algerienkrieg bestätigten Sartre lediglich in seiner Haltung. Sartre selbst sollte für den „freiheitlichen Geist“ seiner Schriften geehrt werden. Frantz Fanons faszinierendem Essay Die Verdammten dieser Erde stellte er ein in seiner Gewaltverherrlichung bemerkenswert stumpfsinniges Vorwort voran. „Denn in der ersten Phase des Aufstands muss getötet werden. Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch“. Wenn Sie das im 5. Arrondissement so sagen, muss es wohl stimmen.

Nicht erst seit Sartre stellt sich allerdings die Frage, ob das literarische Mitwirken an Gewalt und Unrecht durch Verschweigen oder Rechtfertigen nicht nur einen Gegensatz zum Humanismus darstellt, sondern in dessen Namen geschieht. Ähnliche Vorwürfe wurden auch gegenüber Garcia Marquez (der 1982 gewann) laut, dem seine Parteinahme für die Machthaber in Kuba vorgehalten wurde. Diese Problematik sollte sich später noch verschärfen, als Kriegseinsätze plötzlich „humanitäre Interventionen“ hießen – und Menschenfreunde wie Habermas sie guthießen.

Dann gibt es aber auch Leute wie Romain Rolland, einen Autor und Aktivisten von bewundernswerter Integrität: Pazifist im Ersten Weltkrieg, Engagement für das Rote Kreuz und die Kriegsgefangenen – es schien wirklich im Sinne der Stifter, dass er 1915 den Preis erhielt. Leider habe ich noch keinen seiner Texte zu Ende lesen können. So etwas Geschwollenes und Verstiegenes wie das zehnbändige Romanwerk Jean-Christophe – getragen von der Hoffnung, die künstlerischen Genies werden dereinst die Menschheit mit sich selbst versöhnen – ist mir noch nie untergekommen. Ein scheußlicher Fall von Kunstreligion.

Auf die versteht sich auch Handke. Ich finde es bezeichnend, dass sowohl Verehrer als auch Kritiker ihn als singuläre, herausgehobene Figur behandeln. Ich gehe auch gern in den Wald und nehme Pilze, aber das macht mich doch nicht zum Solitär. Handkes Aussagen zum Jugoslawienkrieg entstanden nicht in einem Vakuum und sind längst nicht so leicht auf dem politischen Spektrum zu verorten, wie einige das gern hätten. Auf Twitter belächelten Kommentatoren wie Patrick Bahners die Ausflüchte von Handke-Liebhabern, man könne gar nicht verstehen, wie der Meister zu diesen kruden Ansichten gelangt sei. Wenn man Handkes literarische Politik ernstnimmt – und das muss man doch, um sie zu kritisieren –, erschließt sie sich nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten. Es geht ja nicht nur um Handkes Reiseberichte aus dem Jahr 1996. Die Verbrechen der Jugoslawienkriege beschäftigten die deutsche Politik mehr als ein Jahrzehnt.

Stefan-Ludwig Hoffman hat in einem brillanten Aufsatz (hier kurzfristig freigeschaltet), der auf Deutsch im Januar 2017 im Merkur erschien, die Ideengeschichte der Menschenrechte seit den neunziger Jahren nachgezeichnet. Gerade den deutschsprachigen Debatten über den Kriegseinsatz gegen Milošević kommt darin einen nationale und internationale Schlüsselstellung zu, denn sie konfrontierten die BRD mit einem Dilemma: Frieden oder Pazifismus (wie Carl Schmitt fragen würde)? Um den Auslandseinsatz deutscher Soldaten zu begründen, genügte nicht der Hinweis auf Gewalt, Kriegsverbrechen, Genozid. „Nie wieder Auschwitz!“ wurde unter dem grünen Außenminister Joschka Fischer nicht nur zu einer moralischen Pflicht, sondern zum konkreten Leitfaden deutscher Sicherheitspolitik.

Ich fing damals an, mich für Politik zu interessieren und fand die Auseinandersetzung extrem unübersichtlich. Warum schlugen sich anti-imperialistische Linke auf die Seite der serbischen Regierung und wieso wurden die Kriege im ehemaligen Jugoslawien einmal mehr als Schauplatz des Kräftemessens mit dem US-amerikanischen Hegemon gedeutet? Weshalb verorteten einige die Partei Miloševićs in einer multiethnischen sozialistischen Traditionslinie? Diese weltanschauliche Wirrnis, die vielleicht nur meine eigene war, finde ich in der aktuellen Kontroverse überhaupt nicht mehr wieder.