Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit (Aus Anlass einer Siegener Kontroverse)

Vor einem Jahr hat mein Kollege, der Philosoph Dieter Schönecker, im Wintersemester 2018/19 an der Universität Siegen ein Proseminar unter dem Titel „Denken und denken lassen. Zur Theorie und Praxis der Meinungsfreiheit“ angekündigt und veranstaltet, mitsamt einer Vortragsreihe, in deren Rahmen ausschließlich rechtspopulistisch argumentierende Akademiker und Politiker als externe Gäste aufgetreten sind, darunter der Publizist und Politiker Thilo Sarrazin und der AfD-Politiker und ehemalige Kunsthochschuldozent Marc Jongen.

Die Ankündigung des Seminars lautete:

Denken und Denken lassen. Zur Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit

Organisationseinheit: Philosophisches Seminar (Verantwortlicher)

Kommentar: In diesem Seminar geht es um die Philosophie und Praxis der Redefreiheit. Genauer gesagt geht es um die Frage, wie groß die Redefreiheit bei Veranstaltungen sein sollte, die an Universitäten stattfinden. (Es geht nicht um Islamismus, die Flüchtlingskrise usw.) Sollte es Grenzen geben, und wenn, wo liegen diese? Darf man Personen wie Thilo Sarrazin einladen oder wie Marc Jongen (MdB, AfD)? Nach einem Vorgespräch treffen wir uns zu einem ganztägigen Blockseminar, bei dem wir uns mit Auszügen aus Mills ‚Über die Freiheit‘ beschäftigen werden. Ein wesentlicher Teil des Seminars ist eine Vorlesungsreihe, in der auch dezidiert konservative oder rechte Denker teilnehmen werden (u.a. Sarrazin und Jongen).“

Diese Seminarankündigung war erklärungsbedürftig, und das wurde bereits vor Beginn der Veranstaltung im Kollegenkreis heftig diskutiert. Ich selbst schrieb einen offenen Brief, in dem ich Dieter Schönecker, mit dem ich aus alten Studienzeiten in Bonn bekannt war, zur Rede zu stellen versuchte:

„Ich bin über diese Ankündigung bestürzt, und zwar nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch aus formalen. Ich habe noch nie einen derartig zirkulären Ankündigungstext gelesen, und ich finde diesen Text eines Philosophen unwürdig.

 Es werden ausdrücklich politische Kategorien bemüht, um die Einladungen eines philosophischen Seminars zu rechtfertigen: ‚dezidiert konservative oder rechte Denker‘. Dezidiert liberale oder linke Denker sind allem Anschein nach nicht vorgesehen oder werden zumindest nicht genannt. Das Thema des Seminars, so wird ausgeführt, besteht in der Frage, ‚wie groß die Redefreiheit bei Veranstaltungen sein sollte, die an Universitäten stattfinden‘; diese ‚Redefreiheit‘ wird dann wiederum durch die Frage spezifiziert: ‚Darf man Personen wie Thilo Sarrazin einladen‘? Aus der ‚Meinungsfreiheit‘ des Titels wird eine ‚Redefreiheit‘, und aus der ‚Redefreiheit‘ wird eine Einladung von ‚Thilo Sarrazin‘. Soweit die Erläuterungen, die auf eine Gedankenflucht hinauslaufen, die ohne festen Boden zu sein scheint. Dann stellt sich heraus: Das Philosophische Seminar hat die entsprechenden Personen bereits eingeladen, und damit ist die Fragestellung bereits beantwortet. Das Ziel des Seminars ist laut Ankündigung ein selbstreferentieller Akt: die bereits geschehene Einladung als Antwort auf die eigene Frage. Diese Form der Seminarankündigung, wenn sie keine Provokation durch eine Unterbietung bisheriger Begründungsformen sein soll, stürzt jede Interpretation in Ratlosigkeit: Was ist eigentlich der Diskussionsgegenstand des Seminars, insbesondere der Diskussionen mit den eingeladenen Gästen? John Stuart Mill ist Thema des Blockseminars, aber nicht der Vorlesungsreihe. Wird im Rahmen des Seminars mit den Eingeladenen vor allem darüber diskutiert, dass man sie eingeladen hat? Philosophische Fachliteratur zur Redefreiheit an Universitäten ist bei diesem Seminar allem Anschein nach nicht vorgesehen. Absicht und Thema des Seminars erschöpfen sich laut Ankündigug in einem einzigen performativen Akt: der politisch begründeten und allem Anschein nach politisch motivierten Einladung von dezidiert konservativen oder rechten Denkern, Publizisten und Politikern.

[…] Wenn dies das Ziel des Seminars war, dann hast Du es bereits erreicht, aber der Effekt ist weder erhellend noch ruhmreich, weder für Dich noch für die Instanzen und Gremien, die sich mit der Angelegenheit beschäftigen. Daher möchte ich Dich bitten, das Seminar abzusagen.“ (11.10.2018)

Genauso wie es angekündigt wurde, ist das Seminar auch durchgeführt worden. Eigentlich geschah wenig mehr, als zu beweisen, als dass man die Seminarankündigung auch durchführen kann, denn zumindest in den öffentlichen Sitzungen, also bei den Vorträgen der eingeladenen Gäste, wurde keine Philosophie diskutiert und kein philosophisches Thema besprochen, und erst recht nicht John Stuart Mill, dessen Diskussion anscheinend hinter den Kulissen im Proseminar stattgefunden hatte, ohne dass wir davon etwas zu hören oder zu lesen oder zu diskutieren bekamen. Bei den öffentlichen Vorträgen fand auch keine philosophische Diskussion statt, und der Seminarleiter hat sich darum auch nicht wirklich bemüht. Es geschah daher eigentlich nicht mehr, als die Selbstbezüglichkeit der Ankündigung auch tatsächlich durchzuführen und in eine bundesweite Kontroverse darüber zu verwandeln, was Dieter Schönecker zum performativ ausgetragenen Diskussionsgegenstand seiner Ankündigung gemacht hatte: die „Redefreiheit an Universitäten“ zu identifizieren mit der Frage: „Darf man Sarrazin und Jongen an eine Universität einladen?“ Und die Antwort war ohnehin schon klar, denn er hatte sie eingeladen.

Wie viele andere auch habe ich diese Frage zu ernst genommen und darüber die Klärung dessen versäumt, was eigentlich das Thema der Diskussion hätte sein sollen: Worin besteht die „Redefreiheit an Universitäten“? Und worauf beruhte Dieter Schöneckers Einladungsrecht, philosophisch gesehen, juristisch gesehen, wissenschaftlich gesehen?

Heute widme ich mich daher in erster Linie nicht der Kritik, sondern der Selbstkritik. Wie viele andere auch, die sich damals der Sache widmeten, war ich Tag für Tag damit beschäftigt zu verstehen, was der nächste Schritt sein konnte, was in den Medien ablief, welche Motive dahinter steckten, und wie man die Kontroverse gewinnen kann. Und eine Quelle des Irrtums bestand darin, dass die Aufregung der Kontroverse mich und andere daran gehindert hat, das Thema wissenschaftlich zu Ende zu denken, und es auf diesem Wege überhaupt erst einmal in eine wissenschaftliche Kontroverse zu verwandeln. Wir sind in einer moralischen Krise steckengeblieben, in die wir als Universitätsangehörige durch Dieter Schöneckers Strategie gestürzt wurden. Er setzte seine individuelle Professorenfreiheit mit der Verteidigung der Meinungsfreiheit und Redefreiheit, und seine individuelle Einladungsfreiheit mit der Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit gleich. In diesen Gleichsetzungen sind wir ihm gefolgt und haben die Fragen seines individuellen Rechts in den Mittelpunkt gestellt und an unseren moralischen Maßstäben geprüft. Dadurch hat das Thema nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch gelitten. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass wir durch die Vernachlässigung des wissenschaftlichen Themas auch das für uns als Universitätsangehörige wichtigste politische Thema verfehlt haben. Dieses Thema finden Sie in meinem Titel: Es ist die Wissenschaftsfreiheit, und es ist die Einheit und der Unterschied von Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit.

Zur Ehrenrettung unserer Universität und zu meiner Schande muss ich allerdings hinzufügen, dass es unter den Siegener Wortbeiträgen zur Kontroverse um das besagte Seminar einen gab, der uns auf diesen Unterschied hingewiesen hat. Die Chance war also da, wir haben sie nur versäumt. Für das damalige Wintersemester kam sie ein wenig spät, aber nicht zu spät. Am 21. Januar 2019 stellte Clemens Knobloch folgende Einschätzung zur Diskussion:

Clemens Knobloch, Thesenpapier (Podium, 21. Januar 2019)

„Der ganze Sarrazin/Jongen-Zirkus lebt davon, dass unsere Medienöffentlichkeit nicht in der Lage ist, zwischen Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit zu unterscheiden. Dass muss man freilich gleich wieder relativieren: Die Herren von der FAZ sind natürlich intellektuell in der Lage, diese Unterscheidung zu treffen, ziehen es aber aus strategischen Gründen vor, sie nicht zu artikulieren.

Sichtbar wird in diesem Denkexperiment die Selbstreflexivität der Wissenschaft. Was heißt das? Der Soziologe Pierre Bourdieu hat einmal den schönen Satz formuliert: Ein guter Historiker ist jemand, den gute Historiker für einen guten Historiker halten. Anders gesagt: die Kriterien für Zugehörigkeit zum wissenschaftlichen Diskurs lassen sich nicht objektivieren. Sie repräsentieren einen historisch relativen Konsens in der scientific community. Aus der Erkenntnis dieser selbstbezüglichen Definitionsmacht folgt aber nicht, dass fortan jede Meinung wissenschaftlich zugelassen werden muss. Bei Meinungsfreiheit sind wir in der Politik, bei Wissenschaftsfreiheit sind wir in einem auf Erkenntnis spezialisierten Funktionssystem. Es gibt ein strategisches Interesse, die Grenzen zwischen diesen beiden Systemen zu verwischen. Die Folgen für die Wissenschaft sind offenkundig fatal. Und die Uni Siegen hat dem organisierten Rechtspopulismus aktiv dabei geholfen, die Schwelle zur ‚Wissenschaft‘ zu überspringen.

Selbstverständlich ist die Universität auch ein Ort der politischen Debatte und des politischen Streits. Es wäre aber sinnvoll und ehrlich, politische Veranstaltungen auch als solche auszuflaggen. Dann gelten die Regeln der politischen Debatte, nicht die Regeln des Seminar- oder Vorlesungsbetriebs. Das Ärgernis sind politische Vorträge, deren Publikum gefesselt (und gewissermassen als Geisel genommen) wird, weil es eben nicht am politischen Meinungsstreit teilnimmt, sondern nach den Regeln der akademischen Lehre (bis hin zum Erwerb von Kreditpunkten) eingebunden ist.“

Das ist eine klare Position, die das entscheidende Thema aufgeworfen hat, das wir in unserer Diskussion versäumt haben. Nicht umsonst skandierten einige Studierende bei ihrer Demonstration am Rande der Veranstaltung mit Marc Jongen die Frage: „Ist das prüfungsrelevant?“ Damit hatten sie den Kern des Problems klarer erfasst als alle öffentlichen und sozialen Medien der Bundesrepublik, die sich mit dem Fall befassten. „Ist das prüfungsrelevant?“, das war die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Lehre, die sich in ihrer Relevanz für das Prüfungswissen niederschlägt. Hätten wir bereits zum Anfang des damaligen Wintersemsters die gleiche Frage gestellt, wer weiß, vielleicht wäre alles anders verlaufen. Zumindest hätten wir Dieter Schönecker bitten können, uns zu erläutern, ob Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit wirklich dasselbe sind, und ob sein existentialistisch betriebener Kampf für eine individuelle Einladungsfreiheit überhaupt irgendetwas mit einer Diskusssion über Wissenschaftsfreiheit zu tun hat. Oder ob es sich um Prüfungswissen handelt. Die von Clemens Knobloch kurz umrissene Position verdient allerdings einige Nachfragen.

Eine Schwierigkeit liegt in der Unterscheidung:

„Bei Meinungsfreiheit sind wir in der Politik, bei Wissenschaftsfreiheit sind wir in einem auf Erkenntnis spezialisierten Funktionssystem.“

Selbstverständlich kann man sagen: „Bei politischer Meinungsfreiheit sind wir in der Politik, bei Forschungsfragen, in ihrer Zielsetzung, ihrer Methodenwahl und der Verbreitung ihrer Ergebnisse, inklusive der Lehre, sind wir in der Wissenschaft.“ Und in der Tat ist das einer der großen Unterschiede: In der Politik geht es nicht um Forschung, es geht um die Vorbereitung und Deliberation politischer Entscheidungen, die wie politische Programme und Forderungen per se nicht „wahr“ oder „falsch“ genannt werden können, sondern nur „legitim“ oder „illegitim“, „falsch“ oder „richtig“, „fruchtbar“ oder „schädlich“. Die Forschungsfreiheit fällt nicht mit dem allgemeinen Begriff der politischen „Meinungsfreiheit“ und ihrer „Redefreiheit“ zusammen, denn es geht in der wissenschaftlichen Forschung, egal wie abgeschwächt oder modalisiert man sie betrachten möchte, um Ziele und Methoden der Wahrheitsfindung, die von anderen Methoden und Ergebnissen der Wahrheitsfindung bestritten oder übertroffen werden können.

Und für die Politik kann man festhalten, dass es für Politiker und Bürger gleichermaßen gefährlich wird, wenn das Ziel der Politik in der Einlösung einer Wahrheit liegen soll, einer religiösen, einer heilsgeschichtlichen oder einer geschichtsphilosophischen Wahrheit, und ebenso gefährlich, wenn diese Wahrheit als wissenschaftliche Wahrheit verstanden wird, egal ob von rechter, linker oder liberaler Seite. Das ist in der Geschichte der Neuzeit mehrmals vorgekommen, in Gestalt des Sozialdarwinismus, als wissenschaftlich zu organisierende Menschheitsgeschichte des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus, und zu Beginn der Neuzeit durch die Verwissenschaftlichung der Inquisition. Die Geschichte lehrt uns, dass weder die Wissenschaft noch die Politik sich vornehmen sollten, eine solche Fusion zwischen politischer Deliberation und wissenschaftlicher Wahrheitssuche anzustreben, egal wie sehr wir eine wissenschaftliche Gestaltung politischer Programme wünschen mögen, oder, wie im Falle der Klimaforschung, sogar für unabdingbar erachten können.

Clemens Knoblochs Darstellung ließe sich daher mithilfe dieser nicht allzu schwierigen Differenzierungen beipflichten: Wissenschaft ist keine Politik, Politik keine Wissenschaft; und Meinungsfreiheit noch keine Wissenschaftsfreiheit. Jetzt bin ich aber Wissenschaftler, und für Wissenschaftler ist es typisch, dass sie ihren Kolleginnen und Kollegen niemals ganz recht geben. Clemens Knobloch würde ohnehin argumentieren, dass die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit und ihrer Forschungsautonomie durch wirtschaftliche Interessen sehr viel tiefgreifender ist als der leichter erkennbare politische Angriff von rechts. Und darin stimme ich ihm zu, denke aber, dass es sich lohnt, diesen prinzipiell leichteren Fall zu Ende zu denken, solange er keine klare Formulierung gefunden hat.

Wissenschaft und Politik sind zwei Bereiche unserer Gesellschaften, und vielleicht sogar zwei „Funktionssysteme“, aber sie überschneiden sich auch, schließlich gibt es Forschungspolitik und Hochschulpolitik, es gibt die staatliche und somit politische Verantwortung für die Finanzierung und rechtliche Stellung der Universitäten und ihrer Angehörigen. Ja, sogar die Garantie der Unabhängigkeit der universitären Wissenschaft von Eingriffen des Staates und anderen Eingriffen von außen ist eine staatliche Aufgabe. Das sagt unsere Verfassung, zumindest in ihren von Verfassungsjuristen festgestellten Konsequenzen zum Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes. Wissenschaft und Politik sind daher getrennt, aber dafür müssen auch die Politik und der Staat selbst sorgen. Um es noch einmal zuzuspitzen: Der Staat muss dafür sorgen, dass der Staat die Wissenschaft vor nicht-wissenschaftlichen Abhängigkeiten und vor sich selbst, also vor dem Staat und vor anderen politischen Bestrebungen schützt. Das scheint Herr Lindner nicht verstanden zu haben, wenn er sich vor ein Gebäude der Universität Hamburg stellt und dort Rederecht fordert, nur weil er Politiker ist und glaubt, als Politiker dürfe er überall politische Ansprachen halten. Er sollte lieber einsehen, dass es seine Aufgabe, und gerade die Aufgabe eines Liberalen ist, die Universität vor genau solchen Forderungen zu schützen, und anderen klarzumachen, dass es keinen nicht-wissenschaftlichen Anspruch auf Repräsentation an einer Universität geben kann. Das wäre zumindest die klassische liberale Position. Politische Forderungen nach einer politischen Repräsentation, die an der Universität genauso ausfallen müsse wie außerhalb, sind mit der Wissenschaftsfreiheit nicht vereinbar, und zwar deshalb, weil sie auf eine Abhängigkeit wissenschaftlicher Veranstaltungen von außerwissenschaftlichen Forderungen hinauslaufen würden, also genau jener Zerstörung der Autonomie vorarbeiten, vor der unser Staat laut Verfassung die Wissenschaft schützen soll.

Unsere Verfassung garantiert die Freiheit der Forschung, also die freie Wahl der Forschungsthemen, der Forschungsmethoden, und damit auch die freie Bildung neuer wissenschaftlicher Denominationen und Disziplinen und ihrer Lehre. Zwar wird immer wieder gesagt, Wissenschaft sei keine Demokratie, aber was damit gemeint sein sollte, ist vielmehr, dass Wissenschaft kein Plebiszit ist, und vor allem kein Plebiszit, über das Nicht-Wissenschaftler bestimmen könnten. Wissenschaft ist eine Demokratie, und zwar die Demokratie von Wissenschaftlern für Wissenschaftler. Forschung wird nicht aristokratisch organisiert, nicht monarchisch, sondern meritokratisch. Und selbst diese Meritokratie wird in engen Grenzen gehalten, denn es gibt keinen Menschenschlag, der so radikale Egalisierungswünsche an sich selbst und seinesgleichen anlegt wie die Experten in einem gemeinsamen Forschungsgebiet.

Ludwik Fleck schrieb 1936:

„Das heutige wissenschaftliche Denkkollektiv der Wissenschaft muß man demokratisch nennen: Das Wahrheitskriterium liegt – zumindest im Grundsatz – bei der ‚Allgemeinheit‘, d.h. bei der Masse (‚allgemeine Überprüfbarkeit‘) und nicht bei der Elite …

Die demokratische Verfassung des wissenschaftlichen Denkstils drückt sich … nach außen in wirklich demokratischen Einrichtungen, wie Kongressen, der wissenschaftlichen Presse, der wissenschaftlichen Diskussion aus, und im demokratischen Feststellen der Anschauungen der ‚Mehrheit der Forscher‘, d.h. im Entstehen der öffentlichen Meinung. …

Das esoterische Zentrum des wissenschaftlichen Kollektivs teilt sich heute in Fachleute im engeren Sinne (Spezialisten), d.h. Fachleute eines bestimmten Problems, z.B. ein Fachmann für Anilinverbindungen, und in allgemeinere Fachleute, z.B. Chemiker. … Die Spezialisten rekrutieren sich fast immer aus den Reihen der allgemeineren Fachleute, ihre Stellung als Spezialisten ist oft eine vorübergehende: Sie wechseln ihre Spezialität oft, und wenn sie die Untersuchungen in einer bestimmten Richtung beendet haben, kehren sie in den Kreis der allgemeinen Fachleute zurück, mit dem sie sich im ständigen Kontakt befinden. …

Den Schichten des wissenschaftlichen Kollektivs entsprechen besondere Formen wissenschaftlichen Denkens. Der Spezialist äußert sich in der wissenschaftlichen Zeitschrift, die allgemeinen Fachleute im wissenschaftliche Lehrbuch, den Laien dagegen entspricht das populäre Buch.

Im Zeitschriftenstadium trägt die Wissenschaft deutliche persönliche und vorläufige Merkmale: Das sind die Ansichten des Autors X, noch nicht ‚allgemein angenommen‘. Sie geben noch kein Bild, haben verschiedene Vorbehalte, sind gewissermaßen noch ein Steinchen, das darauf wartet, in ein Mosaik eingesetzt zu werden. … Hierher gehört auch die charakteristische Vorsicht der Zeitschrift: Ein disziplinierter Autor schreibt, daß er ‚versucht habe zu beweisen, daß…‘ oder daß ‚es Tatsache zu sein scheint, daß…‘. Erst im Lehrbuch lesen wir Sätze wie: ‚Es ist bewiesen, daß…‘, ‚Tatsache ist, daß…‘, denn ein Urteil über das Bestehen oder das Nichtbestehen irgendeines Phänomens kommt in einem demokratischen Kollektiv dem vielgliedrigen Kollegium, nicht dem Individuum zu.

Das Lehrbuch verwandelt das subjektive Urteil des Autors in eine bewiesene Tatsache. Es vereinigt sie mit dem ganzen System der Wissenschaft, sie wird von nun an anerkannt und gelehrt, sie wird zur Grundlage weiterer Tatsachen, zur Leitlinie für das, was man sehen und verwenden wird, solange eine neue Entwicklungswelle sie nicht wegspült.“

(Also wiederum unter dem Vorbehalt, dass das, was zwischenzeitlich als Tatsache oder als objektiv erscheint, späteren Generationen in seiner Subjektivität und Vorläufigkeit ansichtig wird.)

Diese Demokratietheorie der Wissenschaft ist zweifelsohne nicht vollständig. Ich habe sie aus zwei Gründen zitiert: zum einen, weil sie die Subjektivität der Forschung betont, die alle Wissenschaftler, ob Geistes-, Sozial- oder Naturwissenschaftler gemeinsam haben. „Objektive Tatsachen“ entstehen nicht in der Forschung, sondern in der Umwandlung von Forschungen in Lehrbuchwissen und Popularisierungen. Daher bleibt die Forschungsfreiheit auf die Meinungsfreiheit und Redefreiheit der Forschenden nicht nur angewiesen, sie besteht aus dieser wechselseitigen, aber bereits extrem spezialisierten Redefreiheit und ihrer überall wirksamen Subjektivität. Wissenschaft wird nicht aus Fakten gemacht, Fakten werden aus der Umwandlung von Forschungen in Lehrbücher in Einführungskurse gemacht. Dass Wissenschaft durch einen Slogan wie „nothing but the facts“ – „Nichts als (die) Tatsachen“ – verteidigt werden sollte, ist eine der grösßten Gedankenlosigkeiten, die ich in den letzten Jahren auf der Straße gesehen habe. Wenn das die Freunde der Wissenschaft sein sollen, die allen Ernstes mit einem solchen Slogan die Wissenschaft verteidigen wollen, dann können wir nur hoffen, dass sie allein aus Gründen der Popularisierung so getextet haben. In jedem Fall führt dieser Slogan in die Irre. Bleiben wir lieber bei Ludwik Fleck:

Wissenschaft ist eine Demokratie von Fachleuten und Spezialisten, die über ihre Fachpublikationen und über den Wechsel zwischen Zeitschriftenwissen und Lehrbuchwissen selbständig entscheiden. Über die Anerkennung wissenschaftlicher Tatsachen entscheiden keine Popularisierungen und keine andere öffentliche Meinung als die öffentliche Meinung dieser Demokratie. Und der Sinn der Wissenschaftsfreiheit besteht darin, diese Demokratie, so wie sie funktioniert, zu schützen. Zum Funktionieren dieser Demokratie gehören: die freie Publikation der Forschungsergebnisse, die freie Wahl der Forschungsthemen, der Forschungsmethoden und der Forschungszusammenhänge, darunter die Bildung wissenschaftlicher Verbünde, interdisziplinärer Fachgebiete und wissenschaftlicher Disziplinen, und deren Lehre.

Wenn die AfD, beispielsweise, etwa bestimmte Studienfächer abschaffen will und das in ihre Parteiprogramme schreibt, dann ist das nicht verfassungsgemäß; und es ist Teil der von unserer Verfassung garantierten Wissenschaftsfreiheit, dass eine solche Maßnahme an einer deutschen Universität nicht durchgeführt werden kann, auch nicht von einer AfD-geführten Landesregierung. Es wäre schlicht und ergreifend undemokratisch, und zwar in mehrfacher Hinsicht: gegen die Grundlagen unserer Verfassung, und gegen die Grundlagen der wissenschaftlichen Demokratie. Für die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Klimaschutz gilt dasselbe. Wenn in den USA von Staats wegen Ergebnisse der Klimaforschung verzerrt oder unterdrückt werden, oder in der Türkei empirische Forschungen zur Evolution des Menschen nicht mehr finanziert werden dürfen, dann sind das nicht nur politische Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit, sondern der Beweis, dass für die Entwicklung der Wissenschaft unverzichtbare Aufgaben der politischen Gewaltenteilung, also der Exekutive, Legislative und der Rechtsprechung nicht mehr wahrgenommen werden.

Wissenschaft und Politik sind daher keineswegs so getrennt, wie das auf Anhieb der Fall zu sein scheint, denn die Unabhängigkeit der Wissenschaft, ihre Wissenschaftsfreiheit, ist eine politische Gestaltungsaufgabe, und Wissenschaftlichkeit hat selbst eine politische Konstitution. Und aus eben diesem Grund ist die Meinungsfreiheit von Wissenschaftlern eine prinzipiell unbegrenzte, denn kein Wissenschaftler kann einem anderen Wissenschaftler oder einer Gruppe von Wissenschaftlern eine Definition darüber vorschreiben, was Wissenschaft ist und was nicht. Der ehemalige Chefredakteur der Siegener Zeitung, Eberhard Winterhager, schrieb am 29.12. 2018 anlässlich der Siegener Kontroverse in einem Leitartikel über das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit:

„Dieses Grundrecht […] kommt im Prinzip sogar der Narrenfreiheit nahe, weil Wissenschaft frei sein muss ihre Erkenntnisse selbst immer neu infrage stellen zu können.“

Und so sehr ich mich damals über den Rest des Leitartikels geärgert habe, so sehr musste ich Herrn Winterhager in dieser Formulierung beipflichten: Ja, zur Wissenschaftsfreiheit gehört die Narrenfreiheit bereits anerkannter und akkreditierter Wissenschaftler, die durch nichts eingeschränkt werden kann, solange keine anderen Gesetze und Verfassungsgrundsätze verletzt werden, also eine radikale Meinungsfreiheit der Forschung und ihrer Lehre. Schließlich gehört zur Wissenschaftsfreiheit auch die Freiheit der Lehre und ihrer Durchführung, die durchaus beinhalten kann, Randgruppen jeder Art, oder Wahrsager, Politiker und Propagandisten in ein Proseminar einzuladen und mit ihnen ihre jeweilige Expertise als Forschungsthema zu besprechen, oder auch nur zur Illustration heranzuziehen. Ob und wie sie dafür bezahlt werden sollten, das liegt nicht ganz in der Hand jedes Dozenten, schließlich müssen die Abrechnungen auch durch die Verwaltung; aber geben wir Winterhager auch darin recht: selbst eine angemessene Bezahlung sollte in dieser Freiheit enthalten sein. Offen gestanden wäre mir auch Dieter Schönecker wieder sehr viel sympathischer geworden, oder noch sehr viel sympathischer, wenn er sich auf diese Art von „Narrenfreiheit“ berufen hätte, und nicht immer wieder davon sprechen würde, an der Universität gebe es eine linke Meinungsdiktatur, die durch seine liberalen Einladungen rechtspopulistischer Politiker durchbrochen werden müssten. Denn diese Rede ist ganz offensichtlich ein politisches Argument, und befördert eine politische und damit wissenschaftlich unbegründete Zielsetzung, wie in seiner Seminarankündigung auch.

Bleiben wir lieber bei der von Winterhager angesprochenen Wissenschaftsfreiheit, die auch eine Narrenfreiheit genannt werden kann. Selbstverständlich sind über der radikalen Wissenschafts-, Meinungs- und Narrenfreiheit in jeder Generation und an jeder Universität immer wieder einige Leute wirklich zu Narren geworden, man weiß nur nicht immer welche, oder man weiß es erst Generationen später, und kann sich im Einzelfall auch immer irren. Diese Kollateralschäden müssen wir in Kauf nehmen, denn die Folgen der möglichen Maßnahmen, wenn wir die Meinungsfreiheit an Universitäten aufgeben würden, wären ungeheuer, sie gingen an die Substanz dessen, was Wissenschaftsfreiheit ausmacht. Mit anderen Worten: die von der Siegener Zeitung festgestellte „Narrenfreiheit“ ist die individuelle politische Garantie der Wissenschaftsfreiheit. Und hier kann man durchaus von „Meinungsfreiheit“ sprechen, auch im Sinne von Ludwik Fleck, denn es geht in den Einzelfällen tatsächlich sehr oft nur noch um die wissenschaftlich begründeten oder wissenschaftlich unbegründeten „Meinungen“ von Individuen, die wir aber als Teil der kollektiven Forschung und Lehre akzeptieren, einfach deshalb, weil jede Unterscheidung von „Narrenfreiheit“ und „Wissenschaftsfreiheit“ erfahrungsgemäß zu Lasten der Wissenschaftsfreiheit ausfallen würde, und schon deshalb nicht durchgeführt werden darf, weil die spekulativen Hypothesen neuer Forschungsgebiete von möglichen Narreteien nicht trennscharf unterschieden werden können.

Aus diesen Kollateralschäden entsteht allerdings kein größerer Schaden, denn Wissenschaft ist in der Lage, sich selbst zu rekrutieren, sich selbst zu beurteilen und die Fäden selbst zu verknüpfen. Wissenschaft ist ein kollektives und kooperatives Unternehmen, wie von Ludwik Fleck beschrieben. Daher lassen sich Wissenschaftler auch ziemlich leicht an ihren Publikationen erkennen, oder es lässt sich zumindest sehr leicht erkennen, wenn jemand zwar so tut, als sei er ein Wissenschaftler, und wenn er vielleicht von der Öffentlichkeit sogar für einen solchen gehalten wird, aber nichts dergleichen ist. Thilo Sarrazin zum Beispiel. Thilo Sarrazin ist kein Wissenschaftler, denn er bemüht sich nicht einmal, die wissenschaftlichen Einwände gegen seine Schriften, die von anerkannten Experten in den von ihm berührten Fachgebieten aufgebracht worden sind, zu entkräften, zu diskutieren und argumentativ zu bewältigen. Thilo Sarrazin ist, egal wie man seine politischen Forderungen bewerten will, wissenschaftlich gesehen ein Scharlatan. Das Kriterium liegt nicht darin, dass Wissenschaftler ihn als Nicht-Wissenschaftler behandeln – das tun sie durchaus, aber das ist nicht mein Punkt. Das Kriterium liegt darin, wie er Wissenschaftler behandelt, und zwar darin, dass er zwar glaubt, wissenschaftliche Ergebnisse auszuwerten und tatsächlich immer wieder wissenschaftliche Ergebnisse konsultiert, aber nicht in der Lage ist, wissenschaftlichen Einwänden gegen seine Schriften argumentativ zu begegnen. Er nimmt an der Demokratie der von ihm zitierten Wissenschaften nicht teil, und daher haben ihn diese Wissenschaften demokratisch hinauskomplimentiert.

Erich von Däniken war in dieser Hinsicht etwa sehr viel kooperativer und damit wissenschaftsfreundlicher. Er wollte wirklich beweisen, dass er ein Archäologe des Sternenzeitalters war. Thilo Sarrazin ist gar nicht willens, die gegen ihn von Seiten der Experten in der Genetik, in der Islamwissenschaft, der Psychologie oder der Soziologie vorgebrachten Einwände zu entkräften, er begnügt sich mit der Rezeption von Leuten, die ihm beipflichten. Es gibt daher gute Gründe, ihn von der Universität und von jeder Universität fernzuhalten, solange er nicht willens ist, sich dem Urteil anderer Wissenschaftler zu stellen und deren Argumente zu beantworten.

Und wie ich bereits kurz erwähnt habe, gilt dies auch für die AfD als Ganzes, und für ihre Vertreter wie Marc Jongen. Für die Wissenschaftsfreiheit und deren Zukunft kann es nicht entscheidend sein, dass diese Partei nicht oder noch nicht als verfassungswidrig verboten ist, oder ob dies und wann das der Fall sein wird. Entscheidend ist für mich als Wissenschaftler, und entscheidend sollte für ihren Status an Universitäten sein, dass diese Partei sich explizit gegen die Wissenschaftsfreiheit ausspricht, und dass es daher in die Hoheit der Universitäten fällt und fallen muss, sie aus Gründen der Wissenschaftsfreiheit von jeder Universität ausschließen zu können. Dieter Schönecker hat sich in der Siegener Kontroverse wiederholt auf Karl Poppers „Feinde der offenen Gesellschaft“ bezogen, und zwar auf eine, wie ich finde, unzivilisierte Weise, nämlich um seine Gegner als eben solche Feinde zu identifizieren. Daraufhin haben wir Karl Popper notgedrungen nachgelesen, und siehe da, Popper und Schönecker lagen in politischer und philosophischer Hinsicht doch ziemlich weit auseinander. Für mich persönlich war das eine der großen Überraschungen dieser Kontroverse, nämlich dass man sich auf eine gemeinsame Textgrundlage, und sogar auf eine gemeinsame liberale Position beziehen kann, um zu diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen zu gelangen.

Popper schrieb bekanntlich zur Frage der Toleranz:

„Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

Und Popper war hier sogar noch einen Schritt militanter als ich jemals dachte, denn er schrieb sogar:

„Wir sollten geltend machen, daß sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.“

Wenn wir Popper folgen, dann sollten wir die Vertreter einer Partei, die massive Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit befürwortet, etwa durch eine politische motivierte Abschaffung ganzer Disziplinen und Studiengänge (Gender Studies), unter Bezugnahme auf eben diese Wissenschaftsfreiheit vom Campus fernhalten. Denn warum sollte es Teil der Wissenschaftsfreiheit sein, an der Universität politische Veranstaltungen zuzulassen, deren Ziel es ist, die Wissenschaftsfreiheit an eben diesem Ort und in eben dieser Institution abzuschaffen oder so einzuschränken, dass die freie Bildung wissenschaftlicher Disziplinen, oder die von Wissenschaftlern organisierte Bildung von Forschungsinstituten, etwa zum Klimaschutz, vom Erfolg politischer Parteiprogramme abhängt?

Der Deutsche Hochschulverband hat in einer Resolution am Anfang dieses Jahres postuliert, es gebe aus seiner Sicht

„nur zwei Haltungen: Entweder die Universitäten verstehen und verhalten sich partei- und gesellschaftspolitisch weitgehend avers. Das hält der DHV für nicht richtig: Die Universität muss Teil und Forum des gesellschaftlichen Diskurses sein. Ein Rückzug in den ‚Elfenbeinturm‘ schadet ihr selbst. Oder die Universität lässt alle vom Bundesverfassungsgericht (bislang) nicht als verfassungswidrig eingestuften Parteien zu Wort kommen. Das bedeutet in einem freiheitlichen Rechtsstaat, dass die Äußerung einer nicht verfassungswidrigen, aber politisch unerwünschten Meinung nicht nur geschützt, sondern notfalls auch erst ermöglicht werden muss.“

(Resolution des 69. DHV-Tages „Zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten“ vom 9. April 2019)

Nun könnte ich bequemlichkeitshalber sagen: Wir haben die Äußerung einer (noch) nicht als verfassungswidrig eingestuften, aber politisch unerwünschten Meinung nicht nur geschützt, sondern sogar erst ermöglicht. Worüber sollte sich der DHV und sein Präsident im Falle Siegen eigentlich aufregen? Über die kollegiale Kritik, über die Prüfung von Abwehrmaßnahmen, über studentische Demonstrationen? Das kann ja nun nicht wirklich ins Gewicht fallen, denn wer eine politische Kultur an der Universität haben will, muss auch mit den Manifestationen einer politischen Kultur rechnen.

Aber das ist nicht mein Punkt. Mein Punkt ist schlicht und ergreifend, dass sowohl die Forderung des DHV als auch ihre Begründung undurchdacht sind. Die Begründung und die Forderung, dass politische Veranstaltungen an einer Universität in der gleichen Form stattzufinden haben wie außerhalb, weil und wie sie außerhalb der Universität kodifiziert worden sind, geht an der Wissenschaftsfreiheit vorbei. Wissenschaftler entscheiden darüber, welche Umgangsformen für das Abhalten wissenschaftlicher Diskussionen und Veranstaltungen angemessen sind.

Die Resolution des Deutschen Hochschulverbands führt daher in die Irre, und sie führt juristisch, politisch und wissenschaftlich in die Irre. Schließlich sollte der DHV die Wissenschaftsfreiheit und die Autonomie der Wissenschaftler schützen, und nicht das Recht von Politikern, die unsere in der Verfassung verbürgten Rechte aushebeln wollen, und die darauf pochen, jederzeit und überall sagen zu dürfen, dass sie unsere in der Verfassung verbürgten Rechte aushebeln wollen, überall und damit auch an dem Ort, an dem sie diese Rechte aushebeln wollen, nämlich an der Universität.

Im Wahlprogramm der AfD von 2017 steht: „Bund und Länder dürfen keine Mittel für die Gender-Forschung mehr bereitstellen und keine Gender-Professuren mehr besetzen. Bestehende Förderlinien sollen beendet werden, die der ‚Gender-Ideologie‘ verpflichteten ‚Gleichstellungsbeauftragten‘ an den Universitäten sind abzuschaffen.“

Unmissverständlicher kann ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit und die Hochschulautonomie nicht formuliert werden. Ist diese Tatsache dem DHV bei der Abfassung seiner Resolution unbekannt gewesen? Sind das die politischen Äußerungen, die an einer Universität „nicht nur geschützt, sondern notfalls auch erst ermöglicht werden“ müssen?

Ich glaube, unter Berufung auf Poppers Toleranz-Paradox steht eine andere Schlußfolgerung an:

Es gibt keinen Grund, an einer Universität die Parteiveranstaltungen einer Partei zuzulassen, die ihre verfassungsmäßig garantierten Grundlagen, also die Wissenschaftsfreiheit und die Meinungsfreiheit und Redefreiheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, beschneiden möchte. Das ist keine Frage unserer individuellen Moral oder des Nachweises einer individuellen Unmoral der Vertreter dieser Partei, sondern es ist ein klassischer Fall für das kollektive Abwehrrecht von Wissenschaftlern in Gestalt der sie tragenden Institutionen und ihrer institutionellen Ordnung.

Wissenschaftsfreiheit schließt das Abwehrrecht ein, sich keine wissenschaftsexternen Spielregeln aufoktroyieren zu lassen; und dieses Abwehrrecht gilt gegenüber allen nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeiten. Wissenschaftsfreiheit schließt das Abwehrrecht ein, keine Politiker an eine Universität einladen zu müssen – oder in Gestalt ihrer Einladungen bezahlen zu müssen -, die anderswo dafür plädieren, die Wissenschaftsfreiheit abzuschaffen, oder unfähig sind, gegenüber Wissenschaftlern wissenschaftlich zu argumentieren.

Ich komme damit zu einem vorläufigen Fazit und einem Rückblick auf die Siegener Kontroverse:

(1.) Die Siegener Kontroverse war alles in allem eine Skandalisierung ohne Skandal. Wenn man die Einheit und den Unterschied von Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit berücksichtigt, dann ist alles korrekt abgelaufen, und zwar bei größtmöglicher Toleranz gegenüber einem Professor, der die Grenzen seiner Meinungsfreiheit als „Narrenfreiheit“ (das ist, wie gesagt, nicht meine Formulierung, sondern die der Siegener Zeitung) austesten wollte. Der einzige Skandal, der nach dem ganzen öffentlichen Lärm übrigbleibt, war der Wille zur Skandalisierung, der dem Geschehen vorauseilte, bevor überhaupt etwas geschehen war, und dann auf Gerüchtebasis einfach weiterlief. Denn alles in allem hat in Siegen niemand etwas getan, was an einer Universität nicht geschehen sollte, und die Bewältigung der Kontroverse durch die Universitätsleitung, die Statusgruppen und die Universitätsgremien war improvisiert, aber dennoch vorbildlich. Wenn Siegen jetzt in einer Reihe mit anderen Städten und Universitäten als Beispiel für die Gefährdung der Meinungsfreiheit oder Wissenschaftsfreiheit aufgelistet wird, geschieht das ohne sachlichen Grund, auf Gerüchtebasis. Das kann frustrierend sein, fällt aber in historischer Betrachtung auf die Urheber und Nutznießer dieses Gerüchts zurück.

(2.) Wir haben damals versäumt, über den Unterschied von Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit zu sprechen. Damit haben wir den Gegenstand unserer Debatte verfehlt, und wir haben es versäumt, aus der Kontroverse eine wissenschaftliche Kontroverse zu machen. Wissenschaftsfreiheit beruht auf der Meinungsfreiheit von Wissenschaftlern, aber geht über die Meinungsfreiheit noch hinaus. Sie ist ein individuelles und kollektives Abwehrrecht von Wissenschaftler_innen. Das individuelle Abwehrrecht von Herrn Schönecker wurde nicht bestritten; denn niemand hat ihm das Recht abgestritten, die Einladungen in sein Proseminar auszusprechen. Allerdings haben seine Veranstaltungen durch die Öffnung für eine universitätsexterne Öffentlichkeit auch das kollektive Abwehrrecht anderer Wissenschaftler berührt, die zu Recht eine wissenschaftsfremde Intervention bemängelten und in diesem Sinne die Wissenschaftsfreiheit verteidigen mussten. In diesem Sinne hat auch die Gesellschaft für Philosophie argumentiert und Herrn Schönecker nach einem ausführlichen Workshop über das philosophische Thema und den realexistierenden Verlauf seines Seminars ihre Unterstützung verweigert. Die von Anfang an bestehende Skepsis gegenüber Dieter Schöneckers Seminar-Regie hat daher in jedem Punkt recht behalten.

(3.) Aber wir hätten weiter gehen sollen, und wir können auch jetzt weiter gehen. Wir sollten geltend machen, dass wir unsere Wissenschaftsfreiheit vor allen Bestrebungen schützen müssen, die unsere Wissenschaftsfreiheit untergraben wollen; wir sollten geltend machen, dass es kein Recht des Staates, der politischen Parteien, kommerzieller Organisationen und unserer eigenen Interessenverbände gibt, dieses Recht zu unterminieren; und wir sollten geltend machen, dass Wissenschaft auch deshalb demokratisch verfasst ist, damit Wissenschaftler Wissenschaftler von Nicht-Wissenschaftlern unterscheiden können, und damit Wissenschaftler nicht gezwungen werden können, alle jene Veranstaltungen an einer Universität abhalten zu müssen, die es außerhalb der Universität ohnehin schon gibt. Und in dieser Hinsicht hat der Deutsche Hochschulverband versagt, indem er eine solche Verdoppelung befürwortete, die Hochschulrektorenkonferenz hingegen Klarheit gezeigt, und die Deutsche Gesellschaft für Philosophie durch ihre sorgfältige Beurteilung des Siegener Falles ebenfalls.

(4.) Die Zivilisiertheit einer Universität beruht auf dem freundschaftlichen Umgang mit und von Fremden. Wenn man diese Basis verlässt, zerstört man die Universität. Der Grund wird allerdings in der Öffentlichkeit nicht immer verstanden und insbesondere von Anhängern einer amerikanischen „Free Speech“-Auffassung falsch diagnostiziert. Bekanntlich haben Rechtspopulisten das Wort der „Schneeflocke“ erfunden, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass die ihrer Meinung nach Linksliberalen ihrer Meinung nach „nichts aushalten“ und wie Schneeflocken in der Wärme zerfließen, sobald man sie allzu hart anfasst. Daher muss man diese Schwächlinge und Sensibelchen durch Beleidigungen und Zumutungen aus ihrem Schneeflocken-Dasein erlösen, oder ihnen klarmachen, dass sie sich an die Härten des Umgangs – und des Daseins – gewöhnen müssen. Wie abstrus die Folgen dieser Konzeption sind, kann man sich dadurch ausmalen, wenn man sich vorstellt, dass Leute, die aufgrund ihrer Herkunft niemals diskriminiert worden sind, andere Leute, die herabsetzende Titulierungen seit ihrer Kindheit kennengelernt haben, im ersten und vielleicht auch einzigen sozialen und sprachlichen Schutzraum, den sie kennenlernen werden, mit eben jenen Titulierungen traktieren wollen, denen sie gerade erst entkommen sind. Was soll bei diesem Sprachspiel anderes herauskommen als eine schlecht begründete öffentliche Schikanierung?

Aber die ganze Vorstellung, die Universität bestehe aus Schneeflocken und Sensibelchen, die es aufzurütteln gelte, ist absurd. Die Pazifizierung der Universität ist nicht deshalb vonnöten, weil die Universität aus Schneeflocken, sondern weil sie aus Drachenzähnen besteht. Die Grundlage der Zivilisiertheit einer Universität liegt nicht im Schutz vor Mächten, die von außen kommen, sondern im Schutz vor den Kräften, die sie im Inneren zerreißen würden und die in ihrer Entfesselung stärker sind als die umgebende Welt, ja als die Welt selbst. Das hat mir auf drastische Weise einmal ein Bibliothekar an der Columbia University in New York nahegebracht, der aus der russischen Nomenklatura kam und den ich vor einem Vierteljahrhundert fast jeden Tag in der Bibliothek traf. Einmal sprachen wir davon, daß das Atombombenprogramm der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg, das „Manhattan Project“ in eben jener Bibliothek, in der wir uns befanden, und zwar in ihren Kellergewölben, in den „Stacks“ seinen Anfang genommen hatte, und ob man diese Räume identifizieren könnte. Daraufhin sagte er zu mir: „You know… Die Bombe ist noch da… oder glaubst Du, eine solche Bibliothek sei weniger gefährlich als die Bombe?“

Alle militanten Ideen der Moderne sind in Universitäten vorhanden oder gingen, historisch gesehen, von ihr aus. Die Führungsriege jeder Guerillabewegung dieser Welt besteht aus Universitätsabsolventen. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat einmal die guten Manieren in unserer Gesellschaft mit den guten Manieren in Indianerkulturen verglichen. Er schrieb:

„Wenn man heute … Eltern fragte, warum sie ihren Kindern verbieten, Wein zu trinken, würden wohl alle in gleicher Weise antworten: der Wein ist ein zu starkes Getränk; und man darf ihn nicht ohne Gefahren schwachen Organismen verabreichen, die nur Nahrungsmittel vertragen, deren Zartheit der ihren entspricht. Doch nichts ist jüngeren Datums als diese Erklärung, denn vom Altertum bis zur Renaissance und selbst darüber hinaus verbot man den Kindern den Wein aus genau den entgegengesetzten Gründen: indem man sich nicht auf die Verletzbarkeit eines jungen Organismus durch eine äußere Aggression berief, sondern auf die Heftigkeit, mit der die Lebenserscheinungen sich darin kundtun: daher die Gefahr, explosive Kräfte miteinander zu verbinden, die beide eher ein mäßigendes Mittel erfordern. Statt also den Wein für zu stark für das Kind zu erklären, erklärte man das Kind für zu stark für den Wein, oder zumindest für ebenso stark wie er“ – und damit in seiner Stärke für multiplizierbar.

Wie Claude Lévi-Strauss ausführt, gilt für die indianischen Gesellschaften, dass sie nicht von Sartres bekanntem Diktum ausgehen: „Die Hölle, das sind die anderen“, sondern von der entgegengesetzten Prämisse: „Die Hölle, das sind wir selbst.“ Kinder und Jugendliche, aber auch die Erwachsenen als ehemalige Kinder müssen dazu gebracht werden, sich gut zu benehmen, damit ihre übermächtigen Kräfte nicht mit denen der Außenwelt fusionieren und den gesamten Kosmos in Schutt und Asche legen, während ihr Körper darauf wie in einem Zeitraffer beschleunigt reagiert und schneller altert als andere. Ich denke, diese entgegengesetzte Perspektive gilt für unsere Erziehungsanstalten weiterhin und erst recht für die Universität. Man kann sich vorstellen, sie müsse vor Kräften der Außenwelt beschützt werden, aber das ist nur ein Fassadenargument. Wir können nur die Außenwelt und die Heranwachsenden davor beschützen, Kräfte der Verwüstung freizusetzen und mit denen der Außenwelt zu multiplizieren, deren Kombination wir beim besten Willen nicht mehr kontrollieren könnten. Die freundschaftlichen Umgangsformen an einer Universität beruhen auf dieser Prämisse.

Der größte Schock, den ich im Laufe der Siegener Kontroverse erlebte, geschah am 6.12. letzten Jahres, also an Nikolaus vor einem Jahr. Wir besuchten Dieter Schöneckers Seminar, das an diesem Tag der Rechtfertigung und Diskussion seiner eigenen Seminarkonzeption gewidmet war, und stellten im Laufe der Sitzung fest, dass der Sinn der Veranstaltung von Seiten des Seminarleiters darin bestand, von ihm als „Feinde der Freiheit“ bezeichnet zu werden. Die anderen Teilnehmer waren in dieses Manöver allem Anschein nach bereits eingeweiht, als wir den Vorlesungssaal betraten. Es handelte sich daher allem Anschein nach um ein „fait accompli“ und um eine sorgfältig herbeigeführte Finte. Ich fiel aus allen Wolken, und erst durch diesen Fall merkte ich, dass ich allen Ernstes damit gerechnet hatte, niemals – oder zumindest nicht in einer wissenschaftlichen Diskussion – an einer Universität als „Feind“ von Grundwerten, und vor allem nicht als Feind von Grundwerten der Universität angesprochen zu werden. Ich musste mein Weltbild noch einmal ganz neu sortieren, und offensichtlich bereitete es auch Dieter Schönecker eine gewisse Überwindung, Leute in der Universität als „Feinde“ anzureden, zumindest wich er dieser Frage ungefähr eine Stunde lang aus und dozierte erst einmal über die Existenz dieser Feinde und die Notwendigkeit ihrer Identifizierung. Erst am Ende der Sitzung wurde er direkt und bezeichnete uns ganz offen als „Feinde der Freiheit“, und das auch noch unter Berufung auf Karl Popper, dessen Position er zu Unrecht bemühte, wie sich beim Nachlesen unschwer feststellen ließ.

Diese Feindschaftserklärung blieb einseitig, und dabei ist es auch geblieben. „Feindschaft“, das gehört sich in der wissenschaftlichen Diskussion eben nicht. Dort gilt bei der Erörterung übler Machenschaften: „present people always excepted“, die Annahme, die Anwesenden seien zu solchen Missetaten nicht in der Lage. Denn sobald man dort jemanden zum Feind erklärt, statt zum Gegner oder zum Gegenspieler oder zum Dialogpartner, hat man an Wissenschaftlichkeit schon verloren. Oder man müsste erst einmal nachweisen, dass der wissenschaftliche Feind auch tatsächlich ein „Feind der Wissenschaft“ ist, und das ist für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung erst einmal eine ungünstige Prämisse. Denn wenn man so unhöflich mit seinem Gesprächspartner oder seinem Gegner umgehen wollte, müsste man ja damit rechnen, selbst als Feind behandelt zu werden, und das heißt, mit Lug und Trug, mit Heimtücke und Täuschungsmanövern. Bekanntlich ist das erste Opfer des Krieges die Wahrheit, und das erste Opfer der Feindschaft auch. Wie soll dabei wieder etwas wissenschaftlich Tragfähiges entstehen?

Egal wie ich diesen Ausdruck verstehen wollte oder an Beispielen überprüfte: Mir schien es immer klarer zu werden, dass Wissenschaft und Feindschaft einander aussschließen, dass die Wissenschaft dort aussetzt, wo die Feindschaft einsetzt. Ich kann hier nicht die gesammelte Wissenschaftsgeschichte aufrufen, die vonnöten wäre, um diese Inkompatibilität zu demonstrieren, daher gebe ich nur zwei Beispiele von den Rändern der Philosophiegeschichte:

Erstes Beispiel. Als Newton sich mit Leibniz in einen Streit über die Priorität der Infinitesimalrechnung verwickelte, behandelte er Leibniz mehr und mehr als seinen Feind, und in gleichem Maße ging auch sein Wahrheitsanspruch in dieser Angelegenheit zu Bruch, bis zu Fälschungen von Chronologien und zur Herstellung von Plagiaten. Ich denke einmal, das geschieht in jedem Prioritätsstreit dieser Art. Persönliche Feindschaften führen vielleicht am Anfang dazu, dass man sich in wissenschaftlicher Konkurrenz bewähren will, aber dann führen sie in wissenschaftsferne und für die Wahrheit und die Forschung zerstörerische Konsequenzen.

Zweites Beispiel. Analytische Philosophie und kontinentale Philosophie lagen mehrere Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg mit einander in einem Kalten Krieg, der zwischendurch so weit ging, dass die jeweiligen Vertreter so gut wie nichts von den Korpora der Gegenseite gelesen hatten, so dass sie beim geringsten Berührungsversuch umstandslos zur Polemik übergingen, die aber nicht sehr weit reichte, weil sie ja nicht weiterlesen wollten und keine gemeinsame Textgrundlage hatten. Erst als die Analytische Philosophie dazu überging, die kontinentalen Korpora analytisch zu lesen, entspannte sich die Lage, aber leider nur einseitig. Das Resultat bestand darin, dass die Analytische Philosophie mithilfe der kontinentalen Korpora zur weltweit beherrschenden Schulphilosophie aufstieg, und zwar deshalb, weil sie es schaffte, den Zustand der Feindschaft durch einen wissenschaftlichen Anspruch und wissenschaftliche Methodik zu überwinden, während ein großer Teil der kontinentalen Philosophie zu diesem Schritt nicht mehr fähig war.

Ich müsste die Beispiele vermehren, aber mir ging es nur um diese elementare Anschaulichkeit:

Wissenschaft und Feindschaft schließen einander aus; wo die Feindschaft überhand nimmt, setzt die Wissenschaft aus und wird zur unwissenschaftlichen Animosität; und wo Wissenschaft die Regie übernimmt, setzt auch die Feindschaft wieder aus, und wird wieder zur Wissenschaft.

Diese Inkompatibilität gibt mir Mut, einen solchen Vorgang auch für unsere Kontroverse zu postulieren, sobald wir es schaffen, die Kontroverse als wissenschaftliche Kontroverse auszutragen, und zwar über genau dieses Thema: Wissenschaftsfreiheit ohne Feindschaft. Die Wissenschaft verlangt von uns, dass wir in jeder wissenschaftlichen Auseinandersetzung auf die typischen Mittel der Feindschaft, auf Gewalt, Betrug, Lüge, Heuchelei, verzichten und unsere Gegner niemals als „Feinde der Wissenschaft“, „Feinde der Freiheit“ oder „Feinde der Wissenschaftsfreiheit“ behandeln. Wer in der Wissenschaft zur Feindschaft übergeht, kann von sich selbst für den Fall eines solchen Übergangs keine Wissenschaftlichkeit mehr erwarten. Die Hölle, das sind nicht die anderen, das sind wir selbst.

Das heißt nicht, dass Feindschaft an Universitäten nicht vorkommt – das wäre ein wenig unrealistisch, denn sie ist dort genauso verbreitet wie in anderen Betrieben -, es heißt nur, dass eine solche Verhaltensweise die entsprechenden Sozialbeziehungen aus der Wissenschaft hinauskatapultiert, und wenn sie nicht mehr punktuell bleibt, sondern sich gegen ganze Personengruppen, Fächer oder Institutionen richtet, die Axt an die Universität selbst legt. Die Universität ist als Ort der Wissenschaftsfreiheit seit ihrer Gründung im Mittelalter auf das freundschaftliche Zusammenleben von Fremden angewiesen, und kann weder in der Wissenschaftskommunikation noch im Zusammenleben der Wissenschaftler offene Feindschaft zulassen. Die einzige Feindschaft, die eine Universität pflegen und kultivieren kann, richtet sich gegen Gruppen und Organisationen, die das freundschaftliche Zusammenleben und Debattieren von Fremden in Frage stellen oder beschränken wollen. Denn hier greifen die von Popper und in unserer Verfassung vorgesehenen Abwehrrechte, und wir sollten sie uns nicht nehmen lassen.

Ich komme zum Ende. Wie ich versucht habe zu zeigen, können wir Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit gut mit einander vereinbaren, und wir können sie in ihren individuellen und kollektiven Abwehrrechten gut begründet handhaben, auch wo Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit einander punktuell widersprechen. Für diese Begründungen brauchen wir uns nicht auf individuelle Moralvorstellungen zu beziehen, sondern besitzen eine gemeinsame Grundlage in den Prinzipien der Wissenschaftsfreiheit und den demokratischen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens. Das wissenschaftliche Arbeiten, Forschen und Lehren verlangt einen zivilisierten Umgang, ohne den diese Grundlage brüchig wird, wie dies auf deutschem Boden bis zur Selbstzerstörung der Wissenschaftsfreiheit und dieses Landes bereits einmal geschehen ist. Daß es dieselben Leute waren, die unser Land zerstört haben und deren erster Angriffspunkt das universitäre Zusammenleben mitsamt der Wissenschaftsfreiheit war, lange vor der Machtergreifung, läßt sich in den Akten nachlesen. Daß die Wissenschaftsfreiheit heute von Leuten angegriffen wird, die auch die Legitimität der gewählten Vertreter des Parlaments, der Regierung und unserer Rechtsprechung wiederholt anzweifeln, macht die Parallelen um so leichter erkennbar. Die Abwehrrechte einer Demokratie gelten auch für die Institutionen der Wissenschaftsfreiheit. Denn wie sollten sie sich sonst schützen?—

(Vortrag im Forum Siegen am 28.11. 2019)

Im Merkur-Blog hatte sich Erhard Schüttpelz bereits hier und hier zur Siegener Kontroverse geäußert.