Massenerziehung zum solidarischen Handeln

In vielen Ländern, die von der Corona-Pandemie stark betroffen sind, haben die Behörden Ausgangssperren verhängt: In Norditalien durfte vom 8.3.2020 bis zum 3.5.2020 niemand mehr seine Wohnung verlassen, der keinen triftigen Grund vorzuweisen hatte. In Spanien wurde am 13.3.2020 eine bis 2.5.2020 währende Ausgangssperre ausgerufen. In der Türkei wurde am 22.3. allen Bürger*innen unter 20 bzw. über 65 Jahren bis auf weiteres verboten, die Straße zu betreten, zudem wurden immer wieder komplette Ausgangssperren für die bevölkerungsreichsten Provinzen verhängt, die – aus wirtschaftlichen Erwägungen – auf (lange) Wochenenden begrenzt waren. All diese Maßnahmen ließen sich leicht polizeilich kontrollieren. Wenn überhaupt jemand aus dem Haus gehen wollte oder musste, benötigte diese Person, wie etwa in Norditalien, eine schriftliche Erlaubnis der Behörden.

Als sich in Deutschland die Landesregierungen unter der Koordination der Bundeskanzlerin gegen eine Ausgangssperre und für das Kontaktverbot entschieden, haben sie hingegen die Weichen für eine konzertierte Version der Massenerziehung gestellt. Eine Ausgangssperre hätte sich, wie in den anderen Staaten, mit Polizeigewalt weitgehend erzwingen lassen – gleich ob die Betroffenen einsichtig sind oder nicht. Das Verbot physischer Nähe aber ließ sich kaum alleine mit Strafen und ihrer Androhung durchsetzen.

Kontaktverbot und Massenerziehung

Die Regierungen der Länder waren vielmehr darauf angewiesen, dass die Menschen selbst bereit sind, auf Abstand voneinander zu gehen. Die politischen Entscheidungen, Appelle und Maßnahmen in den folgenden Wochen haben gezeigt, dass Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsident/innen dies aber nicht dem Zufall oder der spontanen Einsicht des Einzelnen überließen. Sie setzten auf die politische Erziehung der Bevölkerung. Denn Handlungsbereitschaften, die sich nicht von selbst einstellen, muss man – das ist das Credo jedes Erziehers und jeder Erzieherin – aktiv herbeiführen.

Auch wenn die führenden Politiker und Politikerinnen ihr Tun selbst möglicherweise nicht als Erziehung begreifen, trägt ihr Handeln ohne Zweifel Züge des Erziehens. Unter Erziehung verstehe ich die nachhaltige Zumutung von Orientierungen. Zugemutet werden Orientierungen erstens in dem Sinne, dass Erziehung dort greift, wo Menschen nicht selbstläufig – etwa über Bildungs- oder Sozialisationsprozesse – neue Orientierungen entfalten, sondern dazu angeleitet werden müssen. Zweitens insofern, als die neue Orientierung seitens der zu Erziehenden (zunächst) als den eigenen, momentanen Interessen und Befindlichkeiten durchaus entgegengesetzt erfahren wird. Und drittens Zumutung als Zusprechung von Mut, denn der Erziehende mutet aus der Überzeugung heraus zu, dass der zu Erziehende prinzipiell in der Lage sei, die ihm zugemutete Orientierung zu übernehmen. Dabei verweist der Orientierungsbegriff weniger auf eine bewusste Meinung oder Überzeugung als auf eine Art und Weise zu handeln und zu leben, die zur Gewohnheit werden soll. [1. Vgl. Nohl, Arnd-Michael (2020): Politische Erziehung – Ein blinder Fleck der Diskussion zur politischen Bildung. In: Isabell van Ackeren, Helmut Bremer, Fabian Kessl, Hans Christoph Koller, Nicolle Pfaff, Caroline Rotter, Dominique Klein, Ulrich Salaschek (Hg.): Bewegungen. Beiträge zum 26. Kongress der DGfE. Opladen: Budrich, S. 161-171] Der Kontrastbegriff zu Erziehung ist derjenige der Bildung. „Erziehung ist eine Zumutung, Bildung ein Angebot,“ schreiben Lenzen und Luhmann, [2. Lenzen, Dieter, & Luhmann, Niklas (1997): Vorwort. In: Dies. (Hg.): Weiterbildung im Erziehungssystem. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-9.] und bringen damit die Sache auf den Punkt. In Bildungsprozessen finden Menschen ihre eigenen Orientierungen oder verändern diese; hierzu werden sie bisweilen von der Situation oder auch von Pädagog/innen angeregt, nie aber gedrängt. Nicht so in der „Massenerziehung“, bei der die Mitglieder einer Gesellschaft „pädagogisch traktiert“ werden, wie es bei Prange und Strobel-Eisele [3. Prange, Klaus/Strobel-Eisele, Gabriele (2015): Die Formen des pädagogischen Handelns. Stuttgart: Kohlhammer, S. 201.] heißt.

Merkels Rede

Im Zentrum der deutschen Corona-Erziehungskampagne steht sicherlich die Rede der Bundeskanzlerin vom 18. März. Sie diente ausschließlich dazu, die Bürger/innen des Landes nicht nur auf körperliche Distanz zu verpflichten, sondern diese davon zu überzeugen, dass es „IHRE Aufgabe“ (so großgeschrieben in Merkels Redemanuskript) und in ihrer Macht sei, die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus zu drosseln. Damit wird den Bürger/innen nicht nur eine Orientierung zugemutet, nämlich der Expertise der Virologie zu vertrauen und das Sozialleben massiv einzuschränken. Es wird ihnen auch der Mut zugesprochen, die Krise selbst bewältigen zu können, weil – so Merkel wörtlich – „alle zählen“.

Indem die Kanzlerin an Einsicht appellierte, geht dieser Erziehungsversuch von einem spezifischen zu erziehenden Subjekt aus, das souverän ist (prinzipielle Handlungsfreiheit), rational denkt (Fähigkeit zur Einsicht in die Faktenlage) und solidarisch handeln kann (gegenseitiges aufeinander angewiesen Sein). [4. Ganz ähnlich liest sich im Übrigen auch die zwei Tage zuvor von Bundespräsident Steinmeier gehaltene Videoansprache, die allerdings weniger beachtet wurde. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/03/200316-Corona-Videobotschaft.html ] Merkel verzichtete zugleich – das ist für Erziehung ungewöhnlich – ganz auf Sanktionsandrohungen. Aber die waren wohl auch gar nicht mehr nötig. Die Medien hatten bereits allen Menschen deutlich gemacht, wie scharf Ausgangssperren (etwa in China) gehandhabt werden können und wie schrecklich es ist, wenn der Epidemie (wie in Italien, wo das Militär die Toten in Lkws abtransportierte) nicht rechtzeitig Einhalt geboten wurde. Vor dem Hintergrund dieser abschreckenden Szenarien erschienen das Kontaktverbot und die mit ihm verknüpften erzieherischen Zumutungen unweigerlich als die erträglichste Alternative. Die Verhaltensökonomik – von der Bundesregierung gerne genutzt – hatte sicherlich ihre Freude an dieser naturwüchsigen Konstellation unterschiedlich attraktiver Optionen. Der mögliche Tod vieler Menschen (an den auch die Politiker/innen immer wieder erinnerten) war eine unannehmbare Option; die in anderen Ländern zuvor verhängten Ausgangssperren wurden damit zum Anker der Aufmerksamkeit, vor dessen Hintergrund das Kontaktverbot als die einzig akzeptable Möglichkeit erschien. [5. Ariely, Dan (2008): Denken hilft zwar, nützt aber nichts: Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen. München: Droemer, S. 61.]

Meistens versuchen Erzieher/innen, den Einzelnen zu überzeugen, dass es zu seinem Besten ist, wenn er ‚pariert‘. In der Coronakrise funktioniert das nur bedingt. Ein Großteil der Bevölkerung muss den Virus, da jung und gesund, kaum fürchten. Diese Menschen sollen nicht zu ihren eigenen Gunsten, sondern – so Merkel – „solidarisch handeln“. Gerade auf dieses solidarische Handeln – und nicht darauf, wie man sich selbst am besten schützt – zielten die in dieser und anderen politischen Reden implizierten Erziehungsanstrengungen.

Erzieherische Strafen

In einem ersten Schritt setzte Merkel noch auf Einsicht – und hat wohl viele Menschen überzeugt. Aber wie das in Erziehungsprozessen gang und gäbe ist: Nicht jede und jeder ist willig. In einem zweiten Schritt wurden daher von den Ministerpräsident/innen der Länder Strafen angedroht. Solche Strafen, aber auch schon ihre Ankündigung, wirken „im Sinne der Generalprävention erzieherisch“, wie Prange und Strobel-Eisele betonen. Weshalb auch immer die Presse in den folgenden Tagen laufend von Polizeikontrollen und verhängten Geldbußen berichtete – sie verstärkten auf diese Weise die Sanktionsandrohungen und halfen so, dass alle die ihnen zugemutete Orientierung ernst nahmen und vollzogen.

Wie sehr die Medien zum Resonanzraum für die Massenerziehung wurden, lässt sich anhand zweier Presseartikel deutlich machen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. April 2020 wird ausführlich über die Beerdigung einer alten Frau berichtet. Beerdigungen in Corona-Zeiten sind ohnehin schwierig, dürfen doch nur wenige Trauergäste teilnehmen. Bei der Verstorbenen handelte es sich aber um die Mutter eines Mannes, der als Patriarch einer als arabischer „Clan“ in Berlin berüchtigten „Großfamilie“ gilt. Dass deren Mitglieder sich unmittelbar nach dem Tod der alten Dame und auch zu ihrer Beerdigung nicht nur zu Hunderten versammelten, sondern auch noch die Abstandsregeln nicht einhielten, wird von der Zeitung in einem Atemzug mit den kriminellen Vergehen genannt, derer diese Menschen bezichtigt werden. Auf diese Weise gerät die Missachtung des Kontaktverbots unmittelbar in den Kontext der Bandenkriminalität. Ohne der Zeitung absichtliches Handeln unterstellen zu wollen, wird hier der „Appell an die Einsicht … unterfüttert mit drastischen Darstellungen des Fehlverhaltens“ (Prange/Strobel-Eisele).

Die Zumutung von präventiven Orientierungen kann auch noch direkter mit (fiktiven) Gegenmodellen kontrastiert werden. Im Tagesspiegel vom 7. April 2020 erschien ein Gastbeitrag, dessen Autor dafür plädierte, dass ein jeder Maske tragen und eine Corona-App auf sein Smartphone herunterladen möge. Er beließ es aber nicht dabei, sondern forderte, die Freizeit- und beruflichen Aktivitäten all jener, die sich diesem Gebot nicht unterwerfen möchten, weiterhin einzuschränken, da sie eine „besondere Gefahr“ darstellten. Die Zeitung titelte folgerichtig: „Lockdown ja – aber nur für Gefährder!“, und rückte auf diese Weise alle masken- und app-aversen Mitbürger/innen in die Nähe von islamistischen Terroristen, für die bisher die Wortschöpfung „Gefährder“ reserviert gewesen ist.

Uneinigkeit der Erzieher/innen

Das Gelingen von Massenerziehung ist aber nicht nur von Sanktionsandrohungen und ihrer metaphorischen Übersteigerung abhängig. Es kommt auch darauf an, dass die Erziehenden selbst sich nicht widersprechen. Man kennt das von ‚Mama‘ und ‚Papa‘, die sich bisweilen gegeneinander ausspielen ließen, wenn sie ihre eigene Uneinigkeit den Kindern zu erkennen gaben. Am Anfang der Corona-Krise gab es einen kleinen Überbietungswettbewerb der Alphamännchen unter den Ministerpräsidenten, wer denn die schärfsten Verbote am schnellsten einführe. Als die Kontaktsperre dann griff, den Menschen und der Wirtschaft aber zunehmend zu schaffen machte, versuchten sich einige Länderchefs darin, einander in Lockerungsvorschlägen zu übertreffen. Als Angela Merkel daraufhin – eigentlich hinter den verschlossenen Türen des CDU-Vorstands, also dem exklusiven Gespräch unter Eltern gleich – vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ warnte, mag dies auch mit einer TINA-Attitüde zu tun gehabt haben, die ihr bisweilen vorgeworfen wird. Jenseits dieser politischen Dimension lässt sich diese Warnung aber als Appell an die Geschlossenheit der Erziehenden verstehen. Denn sobald die Zöglinge – also in diesem Fall die ganze Bevölkerung – wittern, dass sich die Erziehenden ihrer eigenen Sache nicht (mehr) sicher sind, suchen sie nicht nur nach weiteren Lücken – sie verlieren auch das Vertrauen in die Erzieher/innen und die von ihnen zugemuteten Orientierungen.

Wege aus der Massenerziehung

Pädagogische Fachkräfte und Eltern wissen, dass sie sich nicht im selbst gesponnenen Netz von Zumutungen und angedrohten Strafen verfangen dürfen. Gerade gegenüber Erwachsenen – den mündigen Bürger/innen – sollte man es mit den Orientierungszumutungen nicht überziehen. Die Geschichte der jüngeren Bundesrepublik ist voll von Fällen, in denen dies zum Aufblühen systemkritischer Opposition geführt hat. [6. Erinnert sei hier die Kehrtwenden, die die Grünen in Bezug auf die (Militarisierung der) Außenpolitik, die SPD hinsichtlich des Wohlfahrtsstaats und die CDU bezüglich der Flüchtlingspolitik vollzogen haben und die – so meine These – von Erziehungskampagnen begleitet wurden, letztlich aber auch zu mehr oder weniger großen Abspaltungen von der jeweiligen Partei führten (hierzu: Nohl 2020).] Man hat dann zwei Möglichkeiten: Entweder man versucht, die Übernahme der zugemuteten Orientierungen schmackhafter zu machen, oder man beendet die Massenerziehung.

Doch irgendwann muss die politische Führungsspitze nicht nur die Sorgen der Menschen, sondern auch ihre Einwände aufgreifen, will sie nicht autoritär werden. Dann sind die Einwände, die gegen die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen, aber auch gegen die Einschränkung der bürgerlichen Rechte geäußert werden, zu diskutieren. Das ist das Ende der Massenerziehung, kann aber zum Startschuss politischer Bildung werden. Denn so sehr die politische Erziehung erwachsener Menschen in Krisensituationen geboten erscheinen mag, so klar muss sie also auf diesen Moment begrenzt bleiben. Politische Erziehung ist in demokratischen Gesellschaften bisweilen ein notwendiges Übel mit Ausnahmecharakter. Politische Bildung aber ist ihre Normalität, ob alt oder neu.