Wirecard und die FAZ

In Frankfurt wird im Sitzen gearbeitet, und zwar auf dem hohen Ross. Derart gesattelt versteht sich die FAZ auf die seltene Kunst des Ausmistens von oben herab, gleichsam ohne Bodenkontakt. Genug zu tun gab es in den letzten Wochen: Das Unternehmen Wirecard hat sich als Saustall erwiesen. In ihrem Leitartikel vom 19. Juni 2020 forderte Inken Schönauer daher drastische Konsequenzen: „Wirecard gehört nicht in den Dax. Das Unternehmen gehört nicht an die Börse, und ob es überhaupt noch eine Berechtigung am Markt hat, darüber werden Kunden und am Ende vielleicht sogar Gerichte entscheiden.“ Markus Braun, der „Mann an der Spitze“, sei „fehl am Platz“. [1. Inken Schönauer, „Wirecard ist fehl am Platz“, FAZ, 19. Juni 2020.] Inzwischen ist der Vorstandsvorsitzende zurückgetreten, festgenommen und wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Das Unternehmen hat heute Insolvenz angemeldet – eine traurige Premiere für ein Dax-Unternehmen.
Doch versagt hat in dem Bilanzskandal, der sich zu einem massiven Betrugsfall auszuwachsen scheint, nicht nur das Unternehmen. Eine Mitverantwortung tragen viele, war in der FAZ vom 23 Juni 2020 zu lesen, als Inken Schönauer zahlreiche weitere Akteure in die Pflicht nahm. „Institutionelle Investoren, Kleinanleger, Prüfer, Aufseher, wer hat eigentlich wirklich verstanden, was Wirecard da treibt?“. Traurig, aber wahr: Sie alle haben „sich offenbar anstecken lassen, von diesem Silicon-Valley-Flair aus dem bayerischen Aschheim, das dem Fintech-Zwerg Deutschland wenigstens etwas Größe verlieh“ – ja, alle, könnte man meinen, nur die gegen solche Begeisterungsinfekte immunisierte FAZ nicht.  [2. Inken Schönauer, „Eine Schande“, FAZ, 23. Juni 2020.]

Dass die FAZ einmal im Kreis rum mit dem Finger auf andere zeigt, verwundert im höchsten Maße. Zum einen weil Wirtschafts- und Finanzjournalisten der „Zeitung für Deutschland“ das Aschheimer Unternehmen enthusiastisch mit nach oben geschrieben und sich damit einmal mehr als nationalliberaler Fackelträger hervorgetan haben. Zum anderen weil der darin zum Ausdruck kommende Mangel an Demut und Selbstreflexviität von gestandenen Frankfurter Journalisten sonst gern Bloggern und YouTubern um die Ohren gehauen wird. Zur eigenen medialen Verführbar- und Fehlbarkeit verliert die FAZ tatsächlich kein Wort.

Dass zum Kartell der Wegseher jedoch nicht nur Aufsichtsbehörden und Anleger, sondern auch deutsche Wirtschaftsjournalisten gehören, ist kein Geheimnis. Bernd Ziesemer, der frühere Chefredakteur des Handelsblatts, hielt mit seinen Vorwürfen gegenüber der eigenen Branche nicht hinter dem Berg. Sie habe es großenteils versäumt, bei einem Unternehmen nachzubohren, dem schon seit Jahren finanzielle Unregelmäßigkeiten vorgeworfen wurden, und an dem Kritik in der hiesigen Wirtschaftspresse rar war. Wirecard werde auch nachfolgende Generationen noch beschäftigen – als warnendes Beispiel für Medienvertreter, die ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden sind. [3. Bernd Ziesemer, „Why was Frankfurt so blind for so long about Wirecard?“, Financial Times, 21. Juni 2020.]

Aber wer will schon im Dreck wühlen, wenn sich rauschende Börsenfeste feiern lassen? Man wird den Eindruck nicht los, die FAZ drischt mittlerweile auch deshalb so heftig auf Wirecard ein, weil sie von den Jubelarien ablenken will, die sie über die Jahre immer wieder auf den Zahlungsdienstleister angestimmt hat. Unter den Artikeln finden sich peinliche Ergüsse aus der Redaktion, die nahelegen, dass die erste Journalistenpflicht nicht gründliche Berichterstattung, sondern die wohlwollende Begleitung von Unternehmen ist, die den Standort Deutschland in hellerem Licht erstrahlen lassen.

Am 31. August 2018 überschrieb Franz Nestler seinen FAZ-Kommentar „Wirecard, eine Ermutigung“. Eigentlich wollte er die Fintech-Firma nüchtern zum Musterbeispiel zeitgenössischer Unternehmensführung erklären, doch geriet er dabei unversehens ins Schwärmen:

„Es ist eine Geschichte, die so noch nicht in der deutschen Wirtschaft geschrieben wurde. Das Finanzunternehmen Wirecard hat es in weniger als 20 Jahren geschafft, von der kleinen Technologie-Klitsche zu einem Konzern aufzusteigen, der in Kürze im Dax notiert werden dürfte. Damit gehört das Unternehmen zu den 30 größten Konzernen der Industrienation Deutschland. Es ist der drittgrößte Finanzkonzern nach der Allianz und Munich Re und eines der seltenen Beispiele, dass es auch erfolgreiche große deutsche Technologieunternehmen geben kann. Noch Anfang des Jahrtausends setzte Wirecard auf die Abwicklung von Online-Wetten, auf Glücksspiel und auf Pornographie. Wie hat es Wirecard von Aschheim nahe München aus geschafft, die Welt zu erobern? Was kann die deutsche Wirtschaft daraus lernen?“ [4. Franz Nestler, „Wirecard, eine Ermutigung“, FAZ, 31. August 2018 (Onlinedatum).]

Der gleiche Franz Nestler reagiert in einem weiteren, gemeinsam mit Henning Peitsmeier verfassten Artikel vom August 2018 auf die Zweifel, die internationale Investoren – von den beiden Autoren als „Spekulanten“ abgekanzelt – angemeldet hatten, mit spöttischer Siegessicherheit:

„Dass Wirecard als börsennotiertes Unternehmen eine bewegte Geschichte hinter sich hat, wissen all jene Börsianer, die sich in der Nische des Tec-Dax auskennen. Erstmals vor zehn Jahren wetteten Spekulanten auf einen Absturz der Aktie und überzogen den Vorstand mit heftigen Vorwürfen, unterstellten ihm Fehler in der Bilanzierung.
Auch danach wurde Wirecard noch dreimal zum Ziel solcher Spekulanten, sogar von Geldwäsche und Unterstützung illegaler Glücksspielanbieter war die Rede. Damals musste Braun seine Investoren anrufen, sie beruhigen und ihnen sagen, dass die Vorwürfe haltlos seien.
Heute quittiert er das Geschehene mit einem milden Lächeln: ‚Spekulationen gehören zur Börse dazu, wir konzentrieren uns auf das operative Geschäft.‘ Braun nutzte seinerseits jeden großen Kursrutsch der Wirecard-Aktie, um nachzukaufen. Sein Sieben-Prozent-Anteil ist heute gut 1,5 Milliarden Euro wert.“ [5. Franz Nestler und Henning Peitsmeier, „Wirecard-Chef im Gespräch: ‚Wir machen das Bezahlen unsichtbar‘“, FAZ, 29. August 2018 (Onlinedatum).]

Hanno Mußler dichtete Wirecard sogar eine geradezu gallische Durchschlagskraft an:

„Da der Online-Handel wohl weiter wachsen und auch an der Ladenkasse künftig vermutlich weniger bar bezahlt wird, wächst die Bedeutung der Finanzdienstleister, die im Hintergrund die Zahlungen zwischen Händlern und Endkunden abwickeln. Doch mit den deutschen Finanzinstituten an der Börse, allen voran mit Deutsche Bank und Commerzbank, ist derzeit kein Staat zu machen. Mit allen deutschen Banken? Nicht ganz. Eine nicht mehr ganz so kleine Adresse aus der Gemeinde Aschheim nordöstlich von München leistet nicht nur Widerstand gegen den Kurssturz der Bankaktien. Die Aktie der Wirecard AG kennt kein Halten – nach oben.“

Kurzum, so Mußler, Wirecard sei eine „Seltenheit an der Börse“: ein „deutscher Finanzdienstleister, der profitabel wächst, dessen Aktienkurs auf Rekord steht und dem zumindest manche weitere positive Überraschungen zutrauen“. [6. Hanno Mußler, „Wirecard hängt an der Deutschen Börse alle ab“, FAZ, 3. Juni 2018 (Onlinedatum).]

Ein letztes Beispiel: Im Juni 2018 überschlug sich Thomas Klemm fast vor Begeisterung angesichts der triumphalen Kursentwicklung von Wirecard. Das Unternehmen verdrängte die Commerzbank aus dem Dax-30 und schickte sich sogar an, den Banken im Zahlungsgeschäft den Rang abzulaufen. Endlich musste der Blick nicht mehr ins Silicon Valley schweifen, sondern konnte sich an disruptiven Innovationen Made in Germany ergötzen:

„Die deutsche Erfolgsstory passt ins internationale Bild. Überall sind die Aktien von Unternehmen, die vom globalen Trend des elektronischen Bezahlens profitieren, heiß begehrt. Paypal, Wirecard-Konkurrenten wie Worldline und Kreditkartenanbieter wie Visa und Mastercard erreichen an den Börsen ebenfalls neue Höchststände und überflügeln so manche Banken.
Zuletzt hat der Börsengang des niederländischen Bezahldienstleisters Adyen vor eineinhalb Wochen für viel Furore gesorgt. Adyen-Aktien waren vorab mehrfach überzeichnet, am Tag des Börsengangs verdoppelte sich der Kurs vorübergehend und liegt weiter kräftig im Plus. Rund 14 Milliarden Euro ist das Unternehmen wert, das die Zahlungen für Spotify, Netflix, Ebay und weitere Tech-Firmen abwickelt und von deren Nutzerwachstum kräftig profitiert.
Die wachsende Konkurrenz ficht Wirecard wenig an. Das Unternehmen wächst stärker als der Markt, und auch technologisch ist es weit vorne. So zugeknöpft sich Wirecard-Chef Braun gegenüber der Öffentlichkeit oft zeigt – wenn der promovierte Wirtschaftsinformatiker über IT und Vernetzung spricht, klingt er forsch: Als ‚extrem innovativ‘ und ‚eine Art Turbo‘ bezeichnet Braun seine Firma. Das Wachstum, so hat er es gegenüber dieser Zeitung angekündigt, werde sich weiter beschleunigen: ‚Die nächsten zehn Jahre werden die zurückliegenden Jahre noch einmal deutlich in den Schatten stellen.‘ […] Die Hälfte der Analysten empfiehlt, Deutsche-Bank-Aktien loszuwerden. Im Falle von Wirecard findet sich kein Einziger, der zum Verkauf der Aktie rät.“ [7. Thomas Klemm, „Das ungleiche Duell zwischen Wirecard und Deutscher Bank“, FAZ, 25. Juni 2018 (Onlinedatum).]

Diese Texte sind, gelinde gesagt, nicht sehr gut gealtert, vor allem wenn man sie mit der Wachheit anderer Pressevertreter im Ausland vergleicht. Bereits im April 2015, als die FAZ noch ganz besoffen war vom Erfolg von Wirecard, wollte die Financial Times in ihrer geradezu prophetisch betitelten Artikelserie „House of Wirecard“ dem Zahlungsdienstleister ein paar Fragen stellen:

„The puzzle is an accumulation of questions: why does the company pay big sums upfront, months before deals complete? Why are key parts of transactions not fully transparent? Why spend millions on struggling Asian businesses? Why do accounts filed in Singapore not match totals reported in Germany? What are €670m of intangibles on the balance sheet really worth?“ [8. Dan McCrum, „House of Wirecard”, FT Alphaville, 27. April 2015 (Onlinedatum).]

Anfang 2019 legte die traditionsreiche britische Wirtschaftszeitung nach, die Rede war von Bilanzfälschung und Geldwäsche. [9. Dan McCrum und Stefania Palma “Executive at Wirecard suspected of using forged contracts”, FT, 30. Januar 2019 (Onlinedatum). Eine aktualisierte Auflistung der Ungereimtheiten, die erstmals 2008 für Unruhe sorgten, hat Dan McCrum zusammengetragen: „Wirecard: the rise and fall of a German tech icon“, FT, 25. Juni 2020.] Gedankt wurde es ihr in Deutschland nicht. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die Aufsichtsbehörde Bafin zeigte im April 2019 die Investigativjournalisten der FT an – und nicht etwa Wirecard. Dass Deutschland sich für einen moralisch besonders wertvollen Akteur hält, werde zu einem nationalen und internationalen Problem, klagte die FT jetzt in einem desillusionierten Leitartikel. Die britischen Journalisten blicken verstört auf ein Land, das sich in allen gesellschaftlichen Bereichen systematisch gegen Kritik von außen abschottet. Politiker, Wirtschaftsführer und Journalisten halten es fast schon für eine Unverschämtheit, wenn von internationaler Seite auf Verfehlungen im eigenen Staat hingewiesen wird, was paradoxerweise dazu beiträgt, dass Affären wie jetzt in der Causa Wirecard viel zu spät ans Licht kommen. Wie zur Bestätigung gab Wirtschaftsminister Peter Altmeier anschließend auch noch allen Ernstes zu Protokoll, er hätte „eine solche Situation überall erwartet – nur nicht in Deutschland“.

Von London aus betrachtet scheint etwas faul im Wirtschaftswunderland Deutschland:

„For 18 months, the Financial Times has reported on whistleblower allegations of accounting fraud at what was once Europe’s most valuable financial technology group: Wirecard. Since last Thursday, when the German payments company revealed auditors could not trace €1.9bn supposedly held in escrow accounts at two Asian banks, its shares have plunged 80 per cent. On Monday, Wirecard acknowledged that this cash probably does ‘not exist’. It is now clear that this is one of Europe’s biggest corporate frauds of recent years.
From the outset, the instincts of the German authorities have been to investigate not the alleged transgressor but the messenger, and investors who, suspicious of Wirecard’s model, had shorted its shares. Journalists from this news organisation have faced not just a misinformation campaign from Wirecard but investigations and even criminal allegations from Germany’s financial regulator and prosecutors.
In a sophisticated global economy, no country is immune to fraud. Yet as Wirecard fights for survival it is time for a reckoning by the German corporate and political establishment: of how this case happened, and why regulators and criminal authorities took no action against it for a year and a half. […]
In reality the Wirecard affair is the most serious illustration since the ‚Dieselgate’ episode four years ago of the tendency of Germany’s business world to close ranks against criticism. Officials and corporate bosses treat the raising of legitimate concerns as an assault on German patriotic interests — in Wirecard’s case blaming Anglo-Saxon speculators — not as a reason to probe and question.“ [10. Editorial Board, „Lessons from a financial technology scandal”, FT, 22. Juni 2020 (Onlinedatum).]

Dieses Debakel sollte man im Hinterkopf behandeln, wenn demnächst wieder in der FAZ ganzen Volkswirtschaften in Europas Süden der wirtschaftliche Sachverstand abgesprochen wird. Das Credo in der Frankfurter Schule des ökonomischen Existenzialismus: Infernalische Fehleinschätzungen unterlaufen vor allem den anderen. So lässt sich geflissentlich die eigene Rolle bei der Beweihräucherung eines Konzerns unterschlagen, der systematisch täuschte. Die FAZ frohlockte noch, als andere sich schon wunderten, ob es bei dem Senkrechtstarter der deutschen Tech-Industrie mit rechten Dingen zugeht. Nun rümpft man in Frankfurt die Nase über den Mief, den die Vorgänge bei Wirecard verströmen. So muss man sich nicht damit auseinandersetzen, was auf dem eigenen Mist gewachsen ist.