Verblendet beim Erinnern der Gegenwart? Frag Franz

„Historisch war der ‚Judenboykott‘ eine Vorstufe zur Massenvernichtung. Seine Aktualisierung vernachlässigt empathielos die jüdische Erfahrung der Shoah. Derart stellt auch die Boykottstrategie der antiisraelischen Kampagne BDS, die besonders im Kunst- und Kulturbetrieb starken Zulauf erfährt, eine ethische Verfehlung dar, mit der ihre Unterstützer*innen konfrontiert werden müssen, so Aram Lintzel“, so die Texte zur Kunst-Redaktion in der Einführung zu seinem Beitrag. [1. Texte zur Kunst, Heft 119, September 2020]

Israelboykott als Aktualisierung des Judenboykotts zu bezeichnen zeigt einmal mehr die weit verbreitete Verwechslung von Israel und jüdischem Volk. Sie suggeriert, dass in deutschen Diskursen zwischen Juden, die in der Diaspora leben, und Juden, die in Israel leben, keinerlei Unterschied besteht. Dabei wird Juden, die außerhalb Israels leben, eine eigenständige Position – nicht nur, aber auch gegenüber Israel – abgesprochen. Mehr noch, es markiert sie als Bürger, die in den verschiedenen Nationalstaaten als Minorität gern gesehen sind – und zwar als Botschafter „des Staats der Holocaust-Überlebenden“ [2. Aram Lintzel, Warum Israel, Über die Kampagne Boykott, Divestment and Sanctions (BDS), Ebd.], die eigentlich dorthin gehören. Deutschland braucht Israel, um von einem „Staat der Holocaust-Überlebenden“ sprechen zu können in einer Rhetorik der Wiedergutmachung, die vor Jahrzehnten auf den Pausenknopf gedrückt hat, als wäre damit der Verlauf der Geschichte aufzuhalten. Ergänzend dazu, schaffte es Israel mit seinem Anspruch, der jüdische Staat zu sein, eine Verständigung darüber zu etablieren, dass alle in der Welt lebenden Juden Satellitenbürger Israels seien und für seine Politik stehen oder eben sterben können sollten. Deutschland und Israel sind auf einer gemeinsamen Zeitreise. Das Ziel heißt „Historische Verantwortung“. Den Fahrplan für diese Reise liefert ein höchst problematischer Begriff von Erinnerung, der dazu dient, die Shoah als nationales bzw. binationales Ereignis einzuschreiben und auch die gegenwärtige Verantwortung gegenüber der Welt außerhalb dieser gemeinsamen Erfahrung davon dominieren zu lassen.

Ich bin einer, der mit der „jüdischen Erfahrung der Shoah“ lebt, um dessen empathielose Vernachlässigung sich offensichtlich gesorgt wird. Ich bin auch einer, der zum „Kunst- und Kulturbetrieb“ gehört, der hier als Sammelbecken für BDS-Unterstützer – in Bundestagsbeschluss-Rhetorik „Antisemiten“ – dargestellt wird. Es ist Corona-Zeit. Der zivile Flugverkehr in Israel ist weitgehend lahmgelegt, aber in einem Flughafen herrscht reger Verkehr. Beladen mit militärischer Ausrüstung „Made in Israel“ fliegen Flugzeuge des Typs Iljuschin-76 der Cargo-Gesellschaft Silkway nach Aserbaidschan. [3. Yossi Melman, Ksche ha-totachim roamim, iskey ha-neschek im Aserbaidschan melavlevim [hebr. Wenn die Kanonen donnern, blühen die Waffengeschäfte mit Aserbaidschan auf], Haaretz, hebräische Online-Ausgabe, 6.10.20] Die Waffen werden von Aserbaidschan gegen die armenische Enklave Bergkarabach eingesetzt. Mit der Offensive Aserbaidschans – auch gegen zivile Ziele – ist der Bergkarabach­konflikt erneut ausgebrochen. Corona sagte ich schon. Die israelische Wirtschaft ist im Tief, ein schlechter Zeitpunkt, um Geschäfte zu unterlassen. Aserbaidschan auf eine Unterlassung des Waffenhandels mit Israel anzusprechen, könnte jemand an Judenboykott erinnern. Tut auch niemand. Ich muss Franz anrufen, Franz Werfel, der Die vierzig Tage des Musa Dagh über den Völkermord an den Armeniern geschrieben hat. Ich muss ihn erst einmal damit updaten, dass „der Staat der Shoah-Überlebenden“ den Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich nicht anerkennt. Dann würde ich ihn fragen, ob er… „als Jude, oder was?“, würde er mich unterbrechen …ob er denkt, dass die „jüdische Erfahrung der Shoah“ israelische Juden auf die Idee bringen sollte, dass ihre Waffenlieferungen die armenische Erfahrung des Genozid empathielos vernachlässigen. Aber ich rufe Franz nicht an. Womöglich würde er mir noch sagen, dass die Toten nur fiktive Geschichten erzählen können und Fiktion ist Kunst und als Künstler wäre ich der BDS-Nähe verdächtig und könnte meinen Job verlieren. Das wäre ja nicht so schlimm, doch Selbstboykott ist hier nicht das Thema. Zurückgeworfen auf mein anderes Ich, das mit der „jüdischen Erfahrung der Shoah“ lebt, frage ich mich, wie es dazu kommt, dass ich auf diese Empathie, die mir entgegengebracht werden soll, lieber verzichten würde. Empathie ist doch so menschlich, aber wenn sie mir als Jude entgegengebracht werden soll, kommt sie mir wie die bloße Umkehrung jener „unmenschlichen Handlungen“ vor, die seit den Nürnberger Prozessen in deutschsprachigen Diskursen herumgeistern. „Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Londoner Statut hat […] die ‚Verbrechen gegen die Menschheit‘ als ‚unmenschliche Handlungen‘ definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ geworden sind; als hätten es die Nazis lediglich an ‚Menschlichkeit‘ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.“ [4. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, München 2004, S. 399] Armenien protestiert gegen die israelischen Waffenlieferungen an Aserbaidschan und ruft seinen Botschafter aus Tel Aviv zurück. Jerusalem nimmt dies mit „Bedauern“ zur Kenntnis. [5. Christoph Ehrhardt, Friedrich Schmidt und Jochen Stahnke, „Mit einem Sturmgewehr gegen Artillerie“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.20, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/das-militaerische-ungleichgewicht-im-karabach-konflikt-16992733.html] Schon wieder so ein menschlicher Gefühlsausdruck. Ich gestehe, ich habe nicht viel übrig für eine Staatspolitik der großen Gefühle. Seitdem ich begriffen habe, dass es eine ganze Verwandtschaft von mir gibt, die ich nie kennenlernen und deshalb nie betrauern können werde, begriff ich auch, dass ich von dieser Politik emotional missbraucht werde. Serientätermäßig. Der Nationalstaat interessiert sich nicht für mein Gefühl des unbetrauerbaren Tods. [6. „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) begründen Alexander und Margarete Mitscherlich u.a. in der Gefühlsstarre einer Person. Der unbetrauerbare Tod hingegen ist ein Tod, der sich – unabhängig von der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit einer Person – dem Trauern entzieht. Vgl. Laurence A. Rickels, Der unbetrauerbare Tod, Wien 1989.] Er braucht eine Trauer, die sich in den Dienst der Nation stellen lässt. (Franz fragt, wie ich dazu komme, Hannah Arendt zu zitieren, und ob dieses Zitat wirklich von ihr kommt, oder ob es von der neuen deutschen Pop-Ikone stammt, deren Pelzcape zur Zeit im Deutschen Historischen Museum hängt. Ob ich wirklich meine, dass solche analytischen Texte, solche Wissens- und Denkerfahrungen als Teil einer jüdischer Erfahrung der Shoah gelten können? Das würde den Erfahrungsbegriff, der auf Abstammung und eigenem Erleben beruht, ja sprengen.)

 

Ich erinnere mich an eine Demonstration in Tel Aviv nach dem Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila in 1982. Ich erinnere mich daran, wie der Staat Israel sich vor der eigenen Untersuchungskommission verteidigt hat: das Massaker wurde nicht von israelischen Soldaten ausgeübt; diese hätten lediglich die Flüchtlingslager umstellt und Leuchtbomben geworfen. Damit konnten die maronitisch-katholischen Milizen sehen, was sie taten. Ich erinnere mich an den Riss, der sich in meinem staatsbürgerlichen Vertrag mit Israel auftat, als mir klar wurde: ich lebe in einem Staat, der Massaker per Outsourcing ausübt; in einem Staat, der die palästinensischen Flüchtlinge von 1948 nicht nur aus dem Land und dem Diskurs jagen möchte, sondern auch aus ihrer neuen Bleibe im Exil; und nicht nur sie, sondern auch ihre Geschichte, die im Archiv der PLO als Kriegstrophäe nach Tel Aviv verschifft wurde. Wie gründlich. Unter Freunden sagten wir uns, wenn Scharon [7. Ariel Scharon war zu der Zeit Verteidigungsminister, später Premierminister.] einmal Ministerpräsident wird, würden wir wohl auswandern müssen. Als ich 1985 in Berlin ankomme, stelle ich fest, dass solche Erinnerungen wie Nachrichten aus einem fernen Land aufgenommen werden. Ich beginne meine Erinnerungen in Kunstwerken zu thematisieren und merke in Gesprächen drüber, dass der Begriff Erinnerung – wenn er von einem israelischen Juden in Deutschland angesprochen wird – sogleich wo ganz anders hinführt, zu einer Geschichte, für die der Begriff Erinnerung reserviert zu sein scheint, für die Shoah. („Warum Shoah auf Englisch? Schreib ruhig Holocaust, gerecht werden kann diesem Geschehen eh keine Sprache. Und sag, muss man jetzt in Deutschland immer ein Stück aus der eigenen Garderobe präsentieren, wenn man seine Gedanken kundtut?“ „Nein, Franz,“ sage ich, als ob er mich hören würde, „sie wollten im DHM doch nur zeigen, dass jemand, der denkt, auch nur ein Mensch ist, der gelegentlich ein Pelzcape trägt.“ Ich muss Franz unterdrücken. Ich meine: seine Nummer. Er platzt in meine Erinnerung hinein mit einer Gegenwart, die auch schon wieder vergangen ist. Wer soll dieser multichronologischen Geschichte noch folgen können.) Ich musste bei jedem Wort genau aufpassen, ich war ja dabei, Deutsch zu lernen, und so schien mir der Unterschied zwischen Erinnern und Gedenken im öffentlichen wie privaten Sprachgebrauch in Deutschland häufig zu verschwimmen. Ich hätte beinah vergessen, wie ich Wörter damals Silbe für Silbe anstarrte, wie wenn die Tatsache, dass in einem Wort wie Gedenken auch das Wort denken sich lesen lässt, weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen haben könnte. Aber Micha Brumlik erinnert mich daran, wenn er 2020 Michael Rothbergs Konzept der multidirectional memory ohne meine Skrupel einmal mit multiperspektivischem Gedenken und einmal mit multiperspektivischem Erinnern übersetzt. [8. Micha Brumlik, Für ein „multidirektionales“ Erinnern – Der Beitrag Michael Rothbergs, in: Texte zur Kunst online, www.textezurkunst.de]

Ich vergewissere mich noch einmal. Ich kann mich zum Beispiel nicht daran erinnern, dass meine Mutter bei HASAG Zwangsarbeit leistete. Das weiß ich von der Lochkarte, die ihre Häftlingsnummer trägt, die mit ihrer Buchenwald-Häftlingspersonalkarte übereinstimmt. Ich kann mich auch nicht an die Verfolgung von Hans Gasparitsch erinnern, der nach seiner Befreiung aus dem KZ Dachau aufgrund des KPD-Verbots der BRD 1956 seine Stelle als Redakteur der Volksstimme verliert, wegen seiner politischen Haltung in keiner Zeitung Fuß fassen kann und seinen Lebensunterhalt zunächst in einem Milchladen verdient. Aber ich kann ihrer gedenken. Und wenn ich Hans Gasparitschs gedenke, dann gedenke ich nicht nur des Überlebenden, sondern auch des Demonstranten, der 1993 in Bonn gegen die Änderung des Asylgesetzes protestierte – in seiner Häftlingskleidung aus Dachau. Aber es gibt in Deutschland kein Gedenkritual für Hans Gasparitsch als ein von den Nazis und der BRD – wenn auch unterschiedlich – verfolgter Kommunist. („Das neue Gedenkritual ist ein Photo Op“. Ich habe Franz offensichtlich nicht richtig unterdrückt. Er schafft es weiterhin, sich zu melden. Es folgt das Bild von Israels Außenminister Gabi Ashkenazi, seinem emiratischen Amtskollegen Scheich Abdullah bin Zayed und Gastgeber Heiko Maas beim Besuch des Denkmals für die ermordeten Juden in Europa in Berlin. Dann das Bild von Heiko Maas als Justizminister mit seiner damaligen israelischen Amtskollegin Ajelet Schaked, die ihn im Helikopter durch den Himmel über die israelisch-besetzten Gebiete führt. Und schließlich das Bild von Schaked, die für ihre Partei mit einem Parfümflakon der Marke FASCISM wirbt. Ich vermutete Franz auf Wolke sieben und unterschätzte vollkommen seine Verbindung mit der Cloud.) Erinnern ist zunächst subjektiv. Erst im Gedenken wende ich mich Geschichten und Ereignissen zu, die mit meiner Biografie gar nichts oder indirekt zu tun haben, wohl aber mit der Tatsache, dass ich in der Welt lebe. Aus Erinnerungen kann ich den Sinn für ein Unrecht entwickeln, das mir widerfahren ist, doch erst im Denken und Gedenken berühre ich das Unrecht, das jemand anderes erlebt hat. Gedenken ist die Wiederaufführung von Ereignissen in Gedanken. Es findet zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte statt und führt – wie jede Wiederaufführung – die gegenwärtige Differenz zu den gedachten Ereignissen mit auf. Es wird erst dann sinnvoll, wenn es in das umschlägt, was ich mit meinem Wissen zur Zeit des Gedenkens zu tun gedenke. Sonst ist Gedenken nichts weiter als ein Ritual, um in (nicht erinnerbare) Erinnerungen zu versinken, die bestenfalls die beteiligten Personen an ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erinnern. Es ist anzunehmen, dass auch das nächste Berliner deutsch-israelisch-emiratische Treffen nicht beim Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen stattfinden wird.

Der Begriff Erinnerungskultur ist also weder ein Übersetzungsfehler von noch eine Variation auf Gedenkkultur, sondern eine Politik, derzufolge das Nicht-Erinnerbare verinnerlicht werden soll. Sowohl in Israel wie auch in Deutschland erhält diese Form der Erinnerung an die Shoah (Verinnerlichung von Wissen, wie wenn man es selbst erlebt hat und folglich erinnern könnte) Vorrang vor einem Gedenken, das ein vergangenes Ereignis wiederaufführt, dabei aber den Verlauf der Geschichte nach dem gedachten Ereignis anerkennt, sich zum Zeitpunkt seines Stattfindens in Beziehung setzt und sich so als zeitgenössisches Ereignis einschreibt. Sowohl der Grund für als auch das Ergebnis dieser gedenkenlosen Verinnerlichungspolitik mag das doppelte Phantasma des „Nie wieder“ sein. Ob das israelische „nie wieder wie Lämmer zur Schlacht geführt zu werden“, oder das deutsche „nie wieder Krieg“ (und Täter sein) – wer kann schon das Versprechen, das im „nie“ steckt, einlösen? Zwei Staaten, die sich das gegenseitig versprechen und das Versprechen ausschließlich auf sich beziehen? Es geht Israel und Deutschland um Versöhnung und zukünftige Beziehungen. Doch die ethischen Maßstäbe, die beide Staaten auf Grund des Holocausts etablieren, lassen sie außerhalb ihrer Beziehung sehr unterschiedlich gelten. So nimmt Deutschland 2015 Geflüchtete aus Syrien auf, und lässt sich ausgerechnet von dem Zentralrat der Juden in Deutschland an eine „Obergrenze“ [9. Mattias Meisner, Zentralrat der Juden fordert Obergrenze, Der Tagesspiegel, 24.11.15, https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlinge-in-deutschland-zentralrat-der-juden-fordert-obergrenzen/12625842.html] erinnern. Israel hingegen darf sich auf die Deutsch-Israelische Gesellschaft e.V. verlassen, die mit Papieren wie „Der Mythos Nakba“ [10. Deutsch-Israelische Gesellschaft e.V., Der Mythos Nakba: Fakten zur israelischen Gründungsgeschichte, Autor: Jörg Rensmann, August 2013. https://www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2019/10/Mythos_Nakba.pdf] daran arbeitet, Kritik an Israels Verständnis der gemeinsamen ethischen Maßstäbe als Verschwörungstheorie erscheinen zu lassen.

Auch die Nie wieder-Wunschdenker wissen, dass sie über die Zukunft wenig sagen können. Deshalb versuchen sie es mit der Vergangenheit. „Historische Verantwortung“ als Ziel dieser Zeitreise ist etwas übers Ziel geschossen, ist es doch eine Reise, die mit „Historischer Verantwortung“ begonnen hat und also Null Bewegung zeigt. Nach über 70 Jahren liest man immer noch in der deutschsprachigen, der Staatsraison folgsamen Presse – jetzt auch in Texte zur Kunst – von Israel als „dem Staat der Holocaust-Überlebenden“. Diese deutsche Wunschvorstellung ignoriert die Bemühungen zur Errichtung dieses Staats, die viel weiter zurück als in die Zeit der Geburt der Holocaust-Überlebenden reichen. Auch reduziert „der Staat der Holocaust-Überlebenden“ die Überlebenden auf ihr Schicksal und ordnet alle anderen Bürger dieses Staats eben dieser Geschichte unter. Eine Art Kolonialismus mit sprachlichen Mitteln. Wie wenn es keine israelischen Bürger gäbe, die vor und nach der Staatsgründung ins Land immigriert sind, die zahlenmäßig größer als die Holocaust-Überlebenden sind und das Land viel mehr geprägt haben. Wie wenn es keine Juden gäbe, die auch nach dem Holocaust nicht nach Israel einwanderten oder etwa aus Israel auswanderten. Egal, sie müssen jetzt mal draußen bleiben, sonst stimmt es nicht mit der historischen Verantwortung. (Oh je! Ausgerechnet jetzt pusht sich die Anbieterfirma von Franz mit der Nachricht, ich hätte nicht die Berechtigung seine Nummer zu unterdrücken… Ach so, man braucht eine Berechtigung, um zu unterdrücken. Wo abonniert man das denn? Anschließend poppt eine Werbung für Pelzmäntel up. Dann eine Nachricht von Franz: „Arendt oder nicht Arendt oder auch Arendt?“ Vielleicht hätte ich doch mit Franz sprechen sollen. Als jemand, der an das Leiden eines anderen Volks als dem, dem er angeblich angehört, gedacht hat, hätte er…)

Mein Ehrgeiz, die deutsche Sprache zu beherrschen, wurde nicht selten von Erschöpfungsphasen heimgesucht. Eine solche Erschöpfung überkam mich nach einem Gespräch mit einem Freund, der endlich die Einsicht zeigte, dass Juden auch Erinnerungen haben können, in denen Deutsche nicht die Hauptrolle einnehmen. Das war eine Erschöpfung, wie sie sich bei der Entspannung nach einer großen Anstrengung bemerkbar macht. Ich ging in die Bibliothek der Westberliner Jüdischen Gemeinde, um mich mit einem hebräischsprachigen Buch zu erholen, es hätte fast jedes Buch sein können, Hauptsache auf Hebräisch. Wie es die Serendipität wollte, verlies ich die Bibliothek mit Was ist Existenzphilosophie, einem dünnen Büchlein auf Deutsch, von einer mir bis dahin unbekannten Autorin, Hannah Arendt. Zuhause in Neukölln schrieb ich einem Freund in Israel, er solle bitte dieses Buch oder welches auch immer er von Arendt auf Hebräisch findet, ausleihen, photokopieren und mir schicken. Nach einigen Wochen erhielt ich drei Seiten mit einem Auszug aus einem Text, der für eine Anthologie über Autorität übersetzt wurde. Es wird 2010, bis die erste Übersetzung eines Buchs von Arendt auf Hebräisch erscheint. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass Israel nicht der jüdische Staat, sondern ein Staat von zionistischen Juden [11. „Zionist ist wer glaubt, dass ein jüdischer Staat das Problem des Antisemitismus lösen wird“. Yehoschua Kenaz im Interview mit Shiri Lev-Ari, Ha’aretz 19.9.2008] ist. Eine Besprechung der Hannah Arendt-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum beginnt so: „Man sagt, der beste Weg, einen subversiven Autor kaltzustellen, sei, ihn zu kanonisieren.“ [12. Itamar Ben-Ami, Kulam ma‘aritzim et Hannah. Ha-she’ela hi lama [hebr. Alle verehren Hannah. Die Frage ist, warum], Haaretz 22.07.2020, https://www.haaretz.co.il/magazine/the-edge/.premium-1.9012661] Man müsste Arendt jetzt also entkanonisieren. Vielleicht würde sie dann wieder gelesen werden. Vielleicht sogar der ein oder andere ihrer subversiven Gedanken. „Wenn Hannah Arendt [1946] davon berichtet, wie Deutsche sich aufgrund des NS-Verbrechens vor ihr dafür schämen, deutsch zu sein, und wie sie sich dann versucht fühle, ihnen zu sagen, dass sie sich schämt, ein Mensch zu sein, dann wird nicht die Verantwortung Deutschlands für dieses Verbrechen in Frage gestellt, seine Dimension und Wirkung für das Menschsein aber entnationalisiert.“ [13. Eva Meyer und Eran Schaerf, Anhörung, Vorschlag für einen Film für die KZ-Gedenkstätte Dachau, Eingeladener Wettbewerb 2018, unveröffentlicht.] (Hallo? Wie bitte? Franz, bist du es? Ja, richtig, entnationalisieren) „Diese grundsätzliche Scham, die heute viele Menschen der verschiedensten Nationalitäten miteinander teilen, ist das einzige, was uns gefühlsmäßig von der Solidarität der Internationalen verblieben ist; und sie ist bislang politisch in keiner Weise produktiv geworden.“ [14. Hannah Arendt, Organisierte Schuld, deutsche Erstveröffentlichung 1946, in: Hannah Arendt, In der Gegenwart, Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 36.]

Das politische Potential dieses grundsätzlichen Schamgefühls liegt in seiner Zerstreuung zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten, die jeweils eine eigene Perspektive haben. Eine Protestantin im Schwarzwald muss sich für Sabra und Schatila nicht mehr oder weniger oder anstatt oder gleich wie ein jüdischer Israeli schämen. Sie kann aber angesichts dieses Verbrechens und auch ohne der beteiligten Nation anzugehören ein Schamgefühl empfinden. Dieses Schamgefühl basiert weder auf persönlicher Handlung noch auf nationaler Zuschreibung, sie stellt sich in Anbetracht des sich erweiternden Registers menschlicher Gewalthandlungen ein. Gibt es ein solches Schamgefühl heute noch? Oder wieder? Oder anders? Schämt sich jemand in Berlin der Tatsache, dass Mohammad Bakri [15. Die Wikipedia-Seite zu Bakri auf Deutsch bitte nicht suchen, es gibt sie nicht.] seit 18 Jahren sich und seinen Film Jenin, Jenin vor der israelischen Justiz verteidigen muss; dass er von ehemaligen israelischen Soldaten angeklagt wurde, die in Jenin gekämpft-haben-würden-sie-sagen und mit ihrem Ich-war’s-nicht-Chorus den israelischen Staatsanwalt als Mitankläger auf ihre Seite gebracht haben? Soll Bakri besser Selbstmordattentäter werden? Oder, als palästinensischer Israeli, sich mit BDS-Aktivismus selbstboykottieren? Schämt sich jemand in was weiß ich wo der Tatsache, dass der deutsche Bundestag 2019 McCarthyismus probt, um Israel weiterhin den Wolf spielen, aber in Schafspelz auftreten zu lassen? Ich schäme mich. Ich schäme mich. Nicht als Jude, nicht als Deutscher, nicht als Künstler, nicht als zweite Generation Holocaust-Überlebender. Damit mir niemand mehr sagt, „Du als … kannst es sagen“. Ich werde zunächst die Scham als Selbstschutz anlegen – vor Zuschreibungen, die der Nationalisierung meiner Erfahrungen dienen. Ich muss nicht zwei Düfte vergleichen, um zu merken, dass der eine schon stinkt. Das Unrecht fragt mich auch nicht, wer ich bin, bevor es mir ins Auge sticht. (Oder, Franz?)