Leserbrief zu Jürgen Große: „Die leere Mitte“ (Merkur Nr. 860, Januar 2021)

Lieber Herr Demand,

der neue Merkur kommt mit vielem Interessanten, darunter einem Beitrag von Jürgen Große (Die leere Mitte: das Humboldt-Forum), der mich nicht durch seine kritische Haltung irritiert (die ist Mainstream und findet sich in der FAZ ebenso wie in der Berliner Zeitung und andern Blättern), aber durch eine geflissentliche Unkenntnis von Tatsachen und Verläufen. Ich kenne Große von andern Texten, etwa im Jenenser „Palmbaum“, als einen qualifizierten Beiträger, aber hier hat er sich auf ein Terrain begeben, auf dem es ihm einfach an Kenntnissen fehlt. Fatalerweise hat er sich nicht nur keine Mühe gegeben, dieses Defizit zu beheben (ein Buch, das dazu hätte beitragen können, war ihm zur Hand), sondern geradezu ängstlich vermieden, sich durch die Kenntnisnahme von Fakten in seinen Vorurteilen beirren zu lassen.

Stattdessen nimmt sein Artikel Zeitungsäußerungen, die an ganz ähnlichen Mängeln leiden, für bare Münze. Das beginnt mit dem Zitat von Herrn Eisentraut, der die Publikumsfunktionen des alten Palastes in dem neuen vermißt: „Das ist weg und wird ersetzt durch ein spezialisiertes Haus für Leute, die ein Museum besuchen wollen.“ Weit gefehlt! Fast das gesamte riesige Erdgeschoß des Humboldt-Forums dient der Unterhaltung eines breiten Publikums durch Veranstaltungs-, Empfangs- und Ausstellungssäle aller Art, und zu den dortigen Restaurants kommt in der Dachzone ein fragwürdiger Aufsatz, der demselben Zweck dient. Dem großen Saal im alten Palast, der ein technisches Meisterwerk war, konnte man in der Tat nachtrauern; das Problem war, daß gerade in den technischen Bereichen des Hauses die Asbestbelastung besonders hoch war und daß die DDR-Firmen, die die einzigartige Verwandlungsapparatur des Großen Saals gebaut hatten, nach 1990 ihre Tätigkeit hatten einstellen müssen, was sich schon bei Reparaturen an der Bühnentechnik der Lindenoper als verhängnisvoll herausgestellt hatte. Über Herkunft und Dimension der Asbestbelastung des Palastes hätte sich Herr Große, der diesen wichtigen Faktor mit keinem Wort erwähnt, in dem Band des Wagenbach-Verlags (Das Humboldt-Forum, ed. Horst Bredenkamp und Peter-Klaus Schuster, Berlin 2016) unterrichten können, der ihm, wie ein Zitat aus dem Beitrag Viola Königs zeigt, zur Hand war. Die Lektüre dieses Buch, das auch Redebeiträge und Statements aus den Sitzungen der im Jahr 2000 von Bund und Land Berlin einberufenen Expertenkommission enthält, hätte ihn vor manch tendenziösem Irrtum bewahren können.

Die Arbeit dieser Kommission, die sich ein Jahr lang intensiv mit allen Aspekten der historische Mitte befaßte und die Frage der Nutzung des künftigen zentralen Bauwerks an erster Stelle und besonders ausführlich behandelte (die Architekturdiskussion stand am Ende und geriet hitzig), unterschlägt Große vollkommen. Nur so kann er seine Behauptung aufrechterhalten: „…später erst folgte die Entscheidung für den Schloßneubau, zuletzt machte man sich Gedanken um die Füllung der Bauhülse.“ Erst 2009, erklärt Große, habe der Bund der neugegründeten Stiftung den Auftrag erteilt, ein Nutzungskonzept zu entwickeln; er übergeht, daß schon neun Jahre zuvor ganz konkrete (und in dem genannten Band dargelegte) Kommissionsempfehlungen für eine vielgestalte Nutzung vorgelegt wurden, die in ihrem Kern – der Beherbergung der ostasiatischen und ethnologischen Museen – Bestand hatten; zwei Stockwerke des großen Hauses sind ihnen eingeräumt.

Große schreibt weiter: „Das Votum für das Schloss-Vorbild folgte einem damals verbreiteten Baugeschmack: historisierend, mit modernistischer Beimischung. … Kaum kümmerte die Frage, welche Schloßepoche eigentlich zitiert werden sollte.“ (S. 84 links) Wie das? In den Diskussionen und dann den Empfehlungen der Kommission von 2001 war niemals von einer andern Rekonstruktion die Rede gewesen als von der der barocken Außen- und Hoffassadenarchitektur Schlüters und Eosanders. (Die Stülersche Kuppel von 1856, der in dem Neubau keine innere Funktion mehr zukam, war der Empfehlung der Kommission nicht einbegriffen, ein zusätzliches Votum des Bundestags entschied sich für sie und hatte den städtebaulichen Aspekt ebenso für sich wie ihre ursprüngliche Planung durch Schlüter und Eosander, war also keineswegs ein Bruch mit der barocken Stilebene.) Es eine „modernistische Beimischung“ zu nennen, wenn das Innere des Riesenbaus ausnahmslos im Zeichen einer asketischen Moderne steht, ist eine Albernheit auf ähnlichem Niveau wie die Abqualifizierung Wolfgang Thierses, der sieben Jahre lang Bundestagspräsident und acht Jahre lang Vizepräsident war, als „Nachwendeprominenten“ oder W. J. Siedlers, der sein frühes Votum zugunsten einer äußeren Rekonstruktion des barocken Schlosses auf eine eingehende Analyse gestützt hatte, als „Architekturnostalgiker“. Auch ein Fachgelehrter wie Goerd Peschken, dessen ursprünglicher Vorschlag eine Kombination von Schloß und Palast vorgesehen hatte, wird mit dieser Vokabel abgefertigt – Fakten wie Personen als Spielball einer Geringschätzungsattitüde, als sei man in die Boulevard-Presse geraten.

Daß jeder Einwohner der DDR den Palast der Republik faktisch mit einem Steuerbeitrag von 100 M finanziert hat (Großer deutet es an), habe ich in den neunziger Jahren in die Debatte geworfen; es galt, so lange für den Erhalt des Baus einzutreten (ich tat es auch als Nutzungsgutachter vor dem Haushaltausschuß des Bundestags), wie die Asbestsituation in dessen Innern für gezielt, also im Dienst neu zu bestimmender Funktionen als behebbar angesehen werden konnte; eben dies war auch das Votum der Asbestfachleute. Diskussionen dieser Art beendete die Regierung Kohl 1998 kurz vor ihrer Ablösung mit dem Abschluß eines Vertrags über die Totalsanierung, die die Versetzung des Palates in den Rohbauzustand bedeutete. Daß die daraus hervorgehende Ruine von initiativen jungen Leuten bis hin zu Kahnfahrten im gefluteten Parterre bespielt wurde, war eine denkwürdige Episode, deren Voraussetzungen Große mit dem Satz verfälscht: „Für einen Millionenbetrag hatte ihn [er meint den heilen Palast, nicht die Ruine!] die geeinte Republik saniert und provisorischem Veranstaltungsbetrieb überlassen, was an die Zwischennutzung des Schlosses nach 1919 erinnerte.“ Die Bespielung eines Betonskeletts, dessen Ausrüstung mit einigen Sitzplätzen weder eine Sanierung war noch Millionen gekostet hatte, mit der musealen Nutzung des unzerstörten Schlosses nach 1919 zu vergleichen ist wirklich eine fantastische Volte!

Um nicht in seinen Fiktionen gestört zu werden, unterschlägt Große nicht nur die den Bundestagsbeschlüssen zugrunde liegende Arbeit der Expertenkommission, sondern auch den weltweit ausgeschriebenen Spreeinsel-Wettbewerb von 1993/94, bei dem es primär um die bauliche Neufassung des Schloßareals qua Marx-Engels-Platz gegangen war, von seiten des Auslobers unter Preisgabe des Palastes der Republik, aber keineswegs mit der Perspektive auf das barocke Schloß, sondern auf qualifizierte zeitgenössische Architektur. Daß bei den Schloßgegnern der aus tausend Einsendungen ermittelte 1. Preis niemals eine Rolle spielte, hat deren Attacken auf die äußere Erneuerung des Schlüterbaus von jeher unglaubwürdig werden lassen; Große geht so weit, diese wichtige Zwischenstation auf dem Weg zur historischen Rekonstruktion völlig auszublenden. Ein einziger Architekt hatte bei diesem Wettbewerb den bestehenden Palast in seine Planung einbezogen und von ihm aus eine intelligente Bebauung des ganzen Areals entworfen. Das wäre die zeitgenössische Lösung gewesen, sie wurde verspielt und übergangen; auch in den Medien und architektonischen Fachgremien krähte kein Hahn nach dieser integrativen Variante, die mit dem 4. Preis abgefunden worden war.

Große ignoriert alle Etappen einer spannungsreichen Entwicklung, stattdessen klagt er über die allgemeine Aversion gegen „Licht, Luft und weite Perspektive“, die nach dem Palast-Abriß nach einer Neubebauung des freigeräumten Geländes gerufen habe. Das stimmt nur zum Teil, es gab durchaus politische Befürworter der Park- und Wiesen-Lösung, die der Architekt Ingenhoven für diesen zentralen hauptstädtischen Ort vorgeschlagen hatte. Daß sie nicht nur berlin-, sondern schlechthin städtebaufeindlich gewesen wäre, liegt auf der Hand; es wäre auf die Begrünung des Zustands hinausgelaufen, den der Abriß des Schlosses 25 Jahre lang hinterlassen hatte.

Ich will nicht weiter ins Detail gehen und lasse Großes Denunziation der asketisch-antibarocken Stellaschen Ostfassade als dem „typischen Stil der faschistischen Epoche“ zugehörig, also gleichsam als faschistische Architektur beiseite, auch weil ich nachschauend bemerke, daß ich in Nr. 718 des Merkur (Bauen in zerstörten Städten, März 2009) auf die Stellasche Lösung eingegangen bin. (Nebenbei: der Bau der Reichsbank von Heinrich Wolff, den Große südwärts zu sehen vermeint, ist von dem vorgelagerten Neubau von Müller und Reimann so vollständig verdeckt, daß ihm keine städtebauliche Signifikanz mehr zukommt.) Merkwürdig ist nicht nur die Großesche Rodomontage, sondern das Gesamtphänomen, von dem sie nur ein Teil ist: Da ersteht im Zentrum Berlins für eine im Verhältnis zum Hamburger Konzertsaal geradezu mäßige Summe mit nie dagewesener bürgerschaftlicher Spendenbeteiligung ein Gebäude, das für eins der schönsten der Stadt gelten kann und Publikumsnutzungen aller Art Raum gibt, und was geschieht: Allerorten ziehen Kommentatoren die Stirn kraus und bemäkeln das ganze große Kulturhaus, ehe sie es physisch betreten haben. Sie verkennen das eigentliche Problem: Daß nach dem von der Totalsanierung vorweggenommenen Abriß des architektonisch (nicht städtebaulich!) relevanten Palastes das verschwundene Schloß einen Maßstab setzte, der mit zeitgenössischer Architektur, wie sich 1994 handgreiflich gezeigt hatte, nicht zu erfüllen war.

Mit freundlichen Grüßen

Friedrich Dieckmann