Wie ich einmal gecancelt werden sollte

Die Gründer des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ wollen gegen eine angeblich weit verbreitete „Cancel Culture“ vorgehen. Damit könnten sie in den eigenen Reihen anfangen

Vergangene Woche ist das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit erstmals an die Öffentlichkeit getreten. In der Presseerklärung heißt es, „Cancel Culture und Political Correctness haben die freie und kontroverse Debatte auch von Außenseiterpositionen vielerorts an den Universitäten zum Verschwinden gebracht“. Unterzeichnet haben 62 Akademiker und zehn Akademikerinnen, mehrheitlich mit Professuren in Deutschland. Sie alle sehen den freien Austausch unterschiedlicher Meinungen an der Universität gefährdet. Statt dass den Idealen der Aufklärung entsprechend das bessere Sachargument gewinnen könne, würden missliebige Meinungen von vornherein ausgeschlossen, und zwar indem man diejenigen, die sie vertreten, „moralisch“ diskreditiere.

An der Webseite des Netzwerkes fällt auf, dass dort zwar mit großen Thesen hantiert wird, diese aber als unbelegte Behauptungen in den Raum gestellt werden. Auf kritische Mediennachfragen, welche konkreten Fälle denn die Diagnose der eingeschränkten Meinungsfreiheit belegen, wurde mehrfach der Fall des Berliner Historikers Jörg Baberowski genannt, der sich seit Jahren beklagt, er werde von einer kleinen Gruppe trotzkistischer Studierender verfolgt. Kurz: Das düstere Bild, das die Mitglieder des Netzwerkes zeichnen, deckt sich nicht mit meiner Erfahrung. Von einer weit verbreiteten Cancel Culture kann meines Erachtens keine Rede sein. Doch gibt es Einzelfälle, Versuche des Ausschlusses aus politischen Gründen?

Aus Anlass der aktuellen Debatte fühle ich mich genötigt, über einen Fall zu berichten, der mir selbst widerfahren ist. Es geht darin um Baberowski.

Als Osteuropahistoriker an der Humboldt-Universität ist er einer breiteren Öffentlichkeit durch Bücher zur Geschichte des Stalinismus bekannt geworden. In den vergangenen Jahren macht er durch politische Äußerungen zur Gegenwart, vor allem zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, von sich reden: Mit der Nichtgrenzschließung im September 2015 gebe Deutschland „seine nationale Souveränität auf und überlässt es illegalen Einwanderern, darüber zu entscheiden, wer kommen und wer bleiben darf“. Weiter: „Die Einwanderung wird nicht gesteuert, wir wissen nicht genau, wer kommt und was mit unserer Gesellschaft geschieht, wenn junge, ungebildete und aggressive Männer keine Perspektive haben.“ Die sexuellen Übergriffe durch überwiegend algerische und marokkanische Männer in der Kölner Silvesternacht 2015-16 hielt er für eine „Verabredung“ am „bewusst gewählt(en)“ christlichen Ort um den Kölner Dom mit eindeutiger Botschaft – „ihr könnt eure Frauen nicht verteidigen.“ Die gesamte mediale Berichterstattung über die Flüchtlingspolitik scheint ihm verzerrt: „In den staatsnahen Medien kommt nur vor, was sich in die Welt ihrer Journalisten einfügen lässt. Weniger illegale Einwanderung, weniger Islam, weniger Europa, auf diese Formel könnte man bringen, wonach vielen Bürgern nicht nur in Deutschland der Sinn steht. In den Medien spiegelt sich dieses Verlangen überhaupt nicht wider, es wird allenfalls als Beleg für Uneinsichtigkeit und Unbelehrbarkeit angeführt.“

Seine politischen Ansichten verbreitet Baberowski in Talkshows wie Anne Will oder Maybrit Illners Berlin-Mitte und in Zeitungen mit hoher Auflage, aber auch bei KenFM, dem von YouTube inzwischen gesperrten Kanal des weithin als Verschwörungstheoretiker eingestuften Ken Jebsen ebenso wie in einem von Baberowski initiierten nichtöffentlichen Salon in der Berliner Bibliothek der Konservatismus, die von den ZEIT-Journalisten Christian Fuchs und Paul Middelhoff als Forum der Neuen Rechten eingestuft wird. Aus dem Salon ging die „Erklärung 2018“ hervor – hier der erste Satz: „Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird.“ Zuletzt kursierte ein Video, das Baberowski an der Humboldt-Universität am Wahltag fürs Studierendenparlament beim Abreißen von Wahlplakaten der trotzkistischen Hochschulgruppe zeigt, und in dem er den Filmenden fragt, ob er ihm „was in die Fresse hauen“ solle, und ihm schließlich das Handy aus der Hand schlägt.

Man mag sich über Form und Ort dieser politischen Aktivitäten wundern, doch kann man wohl nicht behaupten, Baberowski würde von seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht ausgiebig Gebrauch machen. Zum demokratischen Prozess, den ja das neugegründete Netzwerk Wissenschaft einfordert, gehört jedoch freilich auch, dass auch Baberowskis geäußerten Meinungen widersprochen werden darf. So dachte ich bislang.

Im Juni 2019 wurde ich eines Schlechteren belehrt. Jörg Baberowski beschwerte sich bei mir per Mail über eine Rezension eines von mir verfassten Buches zur Geschichte der Migration auf Spiegel Online. Die Autorin, die Philosophin Susan Neiman, habe ihn darin als „Rechtsradikalen und Fremdenfeind denunziert“. (Der Text steht unverändert online und man kann seine Behauptung dort auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen). Auch ich hätte ihn „mit Rechtsradikalen, der AFD und allerlei anderen Personen in Verbindung gebracht“, mit denen er „in keinerlei Kontakt“ stehe. Ich würde ihn außerdem nicht zum ersten Mal „mit Schmutz bewerfen“ – er bezog sich auf einen Beitrag in der „Huffington Post“, in dem ich auf seine dort geäußerten Einlassungen zur Flüchtlingspolitik noch am selben Tag reagiert hatte. Baberowski hatte vom Verschwinden eines Deutschland, „das auf einem christlichen Wertefundament beruht“ gesprochen. „All das, was uns lieb und teuer war, womit wir unserem Leben bislang einen Halt gegeben haben, muss sich ändern, weil Menschen aus einem anderen Kulturkreis kommen und auch andere Vorstellungen davon haben, wie wir leben sollen.“

Dem hielt ich entgegen: „Wenn die Gegenwart aus den Fugen, der Status quo ins Rutschen gerät, klammern sich (Konservative) an eine verklärte Gegenwart, die es so nie gab. Auch in der Flüchtlingsdebatte wird ein goldenes Zeitalter konstruiert.“ (Auch hier kann man Baberowskis Behauptungen am Text überprüfen.) Wirklich überrascht war ich jedoch, als ich weiterlas, dass Baberowski keineswegs mit mir über divergierende politische Einschätzungen diskutieren wollte, wozu ich gerne bereit gewesen wäre. Vielmehr teilte er mir in seiner Mail mit, er könne nicht mehr mit mir bei der Herausgabe einer wissenschaftlichen Buchreihe für Osteuropageschichte zusammenarbeiten, wo wir seit 2012 gemeinsam im Herausgebergremium problemlos kooperiert hatten.

Nun stünde es Jörg Baberowski frei, die Mitarbeit im Gremium aufzugeben, aus welchen Gründen auch immer, selbst wenn ihm meine Ansichten in Fragen der Migrationspolitik widerstrebten, auch wenn ich das im vorliegenden Fall für reichlich übertrieben hielte – unsere pointiert, aber doch sachlich ausgetragene Debatte bezog sich ja nicht auf fachwissenschaftliche Differenzen.

Im Juli bekam ich Post vom Verlag. Dort hatte man sich – offenbar ungeprüft – zunächst von Baberowskis Position beeindrucken lassen und legte mir den Rücktritt nahe. Doch was Baberowski mir und Neiman vorwarf – „Schmähung“, „hämisch“, „Denunziantin“ –, stimmte nicht. Wir waren – völlig unabhängig voneinander – nicht seiner Meinung, aber „denunzieren“ und „mit Schmutz bewerfen“? Offenkundig hatte Baberowski meinen Ausschluss aus dem Fachgremium betrieben, und zwar allein aufgrund unterschiedlicher Ansichten in tagespolitischen Fragen. Mails gingen hin und her, schließlich schaltete sich der osteuropahistorische Berufsverband ein, der Verlag nahm seinen Vorstoß zurück und entschuldigte sich im Februar 2020 förmlich bei mir. Baberowski und ich geben weiter gemeinsam Bücher heraus – ohne Probleme meinerseits.

Die vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit angestoßene Debatte ist die vorerst letzte Folge in einer Serie, in der Personen des konservativen bis neurechten Spektrums ihre frei geäußerten Meinungen vor allem zum Thema Migration mit dem Begleittext versehen, ihr Recht auf Meinungsfreiheit würde unterdrückt. Thilo Sarrazin machte diese Position 2010 in „Deutschland schafft sich ab“ salonfähig: „Sich um Deutschland als Land der Deutschen Sorgen zu machen, gilt fast schon als politisch inkorrekt. Das erklärt die vielen Tabus und die völlig verquaste deutsche Diskussion zu Themen wie Demographie, Familienpolitik und Zuwanderung“. 2014 legte er nach mit dem Buch „Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“. Im Herbst 2019 wurde dann wochenlang in den Feuilletons über die Gefährdung der Meinungsfreiheit diskutiert. Ein Jahr später erschien ein „Appell für Freie Debattenräume“ und gegen „Cancel Culture“ in Kunst und Wissenschaft. Baberowski gehörte zu den Erstunterzeichnern. Das Schema ist immer dasselbe: Man behauptet, man dürfe wegen „Tugendterror“, „Haltungsjournalismus“, „Mainstream“ oder „Verengung der Meinungskorridore“ nichts mehr sagen – und spricht doch laut und vernehmlich auf allen verfügbaren Kanälen.

Noch einmal: Ich teile den vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit erweckten Eindruck einer weit verbreiteten „Cancel Culture“ im deutschen Wissenschaftsbetrieb nicht. Wie aber soll ich den oben geschilderten Fall anders bewerten als den Versuch eines „Cancelns“ meiner Person aus einem wissenschaftlichen Kontext? Den Vorsatz des Netzwerkes, „allen Versuchen entgegen(zu)wirken, die wissenschaftliche Arbeit von Hochschulangehörigen einzuschränken“, kann ich von der Sache her nur begrüßen. Bloß sollte das Netzwerk damit vielleicht in den eigenen Reihen beginnen. Jörg Baberowski ist eines seiner Gründungsmitglieder.

Jan Plamper ist Professor für Geschichte am Londoner Goldsmiths College. Er gibt gemeinsam mit Jörg Baberowski und anderen die wissenschaftliche Reihe Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte im Harrassowitz Verlag heraus.