Bedrohte Wissenschaftsfreiheit: Alles nur Einzelfälle?

Jan Plamper bastelt mit seinem Beitrag fleißig mit an dem Meta-Mythos, die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit durch die (angebliche) Cancel Culture wäre nur ein Mythos, so wie auch die Behauptung ein Mythos wäre, an geistes- und kulturwissenschaftlichen Fakultäten gebe es eine linke Hegemonie. Das wären, so der Meta-Mythos, nur Erdichtungen vor allem konservativer und rechter sowie alter und weißer Professoren, die sich zwar gerne mit ihren typischerweise nationalen, migrationsfeindlichen und islamophoben Positionen aus dem Fenster hängen, bei kritischem Gegenwind aber sofort aufjaulen und rumschreien, eine linke Meinungsmafia beraube sie ihrer Freiheit. Dieser gar nicht neue Meta-Mythos lässt sich leicht belegen. Hier nur drei Beispiele aus verschiedenen Medien und Milieus: So schreibt etwa die Philosophin Elif Özmen in einer Fachzeitschrift: „Die These, dass die Intelligenzia im Ganzen und die Universitäten im Besonderen Horte der ‚linken pc-Meinungsdiktatur‘ wären, ist nicht nur empirisch falsch, sondern bedient einen Mythos, der seit den 1990er Jahren von konservativen bis hin zu rechtsextremistischen Bewegungen verbreitet wird“; ein Beitrag der Sendung „Kontraste“ (14. November 2019) schloss mit dem Satz: „Das Gerede von der fehlenden Meinungsfreiheit an den Hochschulen – es ist ein Mythos“; und auf Twitter findet man als Reaktion auf die Gründung des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit etwa diesen Tweet von Sebastian Gießmann, Medienwissenschaftler an der Uni Siegen: „Die Wissenschaftsfreiheit ist in Deutschland nicht bedroht. Diejenigen, die sagen, sie wäre bedroht … nutzen das als Aufmerksamkeitsgenerator. Und beweisen just dadurch, dass sie sich selbst sehr frei äußern können. Aber eben nicht unwidersprochen.“ Usw., usf.

Auch Plamper wirft, wie so viele, dem neuen Netzwerk Wissenschaftsfreiheit „unbelegte Behauptungen“ vor; es könne „von einer weit verbreiteten Cancel Culture“ seines Erachtens „keine Rede sein“. Wirklich nicht? Wann könnte denn von einer solchen Cancel Culture an deutschen (oder deutschsprachigen) Universitäten die Rede sein? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir erstens einen brauchbaren Begriff von Cancel Culture in Beziehung auf die Wissenschaftsfreiheit; und wir brauchen zweitens eine Größe, die uns erlauben würde, Einzelfälle von einem strukturellen Problem oder zumindest von einer besorgniserregenden Tendenz zu unterscheiden.

Die Begriffsbestimmung ist, wie immer, schwierig, aber an den Rändern ist es doch klar, worum es geht. Klar ist jedenfalls, dass eine halbwegs vernünftige und sachbezogene Kritik kein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit ist. Kritik, und sei sie noch so scharf, gehört zum Geschäft der Wissenschaft. Der immer wieder vorgebrachte Vorwurf, wer sich heute für Wissenschaftsfreiheit einsetze, wolle sich in Wahrheit gegen Kritik immunisieren, ist daher nur ein Schachzug, der in die Irre führt, und zwar bewusst, um vom eigentlichen Problem abzulenken. So hat vor kurzem die Forschungsstelle für Interkulturelle Studien der Universität zu Köln eine Stellungnahme „Für Freiheit in Forschung und Lehre“ veröffentlichte, in der es u.a. heißt, Meinungsfreiheit bedeute nicht, alles unwidersprochen sagen zu können – aber wer hat denn je das Gegenteil behauptet?

Am anderen Ende des Begriffsfeldes lässt sich eine ziemlich klare Begriffsbestimmung aus dem Recht gewinnen. So schreibt der Experte für Wissenschaftsrecht, Christian von Coelln, mit Blick auf die prominenten Fälle (Frankfurt, Berlin, Siegen): „Der Schutz freier Lehre hängt auch nicht davon ab, wem die vertretenen Thesen oder auch nur die behandelten Themen missfallen, ob die Positionen als politisch inopportun gelten, wie meinungsstark, gut organisiert und empörungsaffin ihre Gegner sind oder mit welchem Anspruch moralischer Überlegenheit sie antreten. Auf wissenschaftlicher Basis darf das Kopftuch ebenso als Instrument der Unterdrückung wie als Zeichen der Selbstbestimmung gewertet werden. Totalitarismusforscher dürfen die Schreckensherrschaft des Dritten Reiches mit dem Stalinismus vergleichen, Historiker der Frage nachgehen, ob die Vertreibung der Armenier durch die Türken nach heutigen Maßstäben einen Völkermord darstellte. Rechtswissenschaftler dürfen den Umgang mit den Flüchtlingsströmen im Herbst 2015 als rechtmäßig oder rechtswidrig beurteilen, Vertreter anderer Disziplinen den Brexit oder Scientology differenziert bewerten: Alle diese Entscheidungen sind von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt.“

Diese Auslegung ist, so von Coelln, „juristisches Gemeingut“ und bedürfe eigentlich „keiner weiteren vertieften Behandlung“. Es tangiert also in jedem Fall die Wissenschaftsfreiheit, wenn Vorträge oder Vorlesungen gestört oder gar verhindert werden; wenn Mittel gestrichen werden, um Vorträge zu finanzieren; wenn dazu aufgefordert wird, Aufsätze nicht zu veröffentlichen; wenn ganze Fakultäten sich öffentlich gegen eines ihrer Mitglieder erklären; wenn jemand etwa als „Rassist“ oder „Nazi“ beleidigt oder verleumdet wird, und sei es auch nur im nicht-justiziablen Sinne; und natürlich auch dann, wenn Wissenschaftler Repressalien wie Dienstaufsichtsbeschwerden oder disziplinarische Maßnahmen bis hin zur Entlassung befürchten müssen (und gewiss doch auch, wenn Kollegen Morddrohungen erhalten).

Neben diesen beiden klaren Kategorien – erlaubte Kritik auf der einen Seite, rechtswidrige Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit auf der anderen ‒ gibt es aber einen Bereich, der keine klaren Grenzen hat. Scharfe Kritik kann übergehen in Hassrede; sie kann umschlagen in sozialen oder akademischen Druck, der so groß wird, dass ihm nicht nachzugeben eine Überforderung wäre, weil z. B. akademische oder ökonomische Karrieren gefährdet sind; sie kann nicht zuletzt Anstiftung zur Selbstzensur sein, auch zur Selbstzensur von Institutionen, die es nicht mehr wagen, für ihre Freiheit den Preis eines shitstorms zu bezahlen oder den, eine Hundertschaft Polizisten herbeizurufen. Hier hilft nur die Urteilskraft im Einzelfall. Nur mit Urteilskraft und kaum mit dem Skalpell des Rechts kann man entscheiden, ob etwa die perfiden Angriffe auf Maisha-Maureen Auma noch unter die legitime oder zumindest legale Kategorie der Kritik fallen oder nicht (meines Erachtens tun sie das nicht).

Ist also die akademische Cancel Culture nur ein Mythos? Reden wir über einige Fälle und ziehen wir eine Analogie. Nehmen wir an, die Behauptung steht im Raum, deutsche Polizisten verhielten sich in ihrer Arbeit oft rassistisch. Wie viele Beispiele für ein solches rassistisches Verhalten müsste man angeben können, um zumindest von einer Tendenz sprechen zu dürfen? Fünf? Zehn? Zwei Dutzend? Nun, schwer zu sagen. Es hinge auch davon ab, wie groß der Graubereich ist. Je mehr klare Fälle es gibt, um so wahrscheinlicher ist es, dass es eine große Zahl kleinerer, unentdeckter, schwerer bestimmbarer Fälle gibt. Und ist es denn nun so, dass wir es nur mit Einzelfällen zu tun haben? Hier eine kleine Erinnerungshilfe mit Blick auf die letzten Jahre: Der Psychologe Heiner Rindermann veröffentlicht 2015 einen Beitrag, in dem es u. a. um den geringeren Durchschnitts-IQ bestimmter Einwanderer geht. Die Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften und das Institut für Psychologie der Universität Chemnitz distanzieren sich öffentlich von Rindermann. ‒ Mitglieder der „Identitären Bewegung“ stören 2016 eine Vorlesung an der Universität Klagenfurt und greifen dabei den Rektor tätlich an. ‒ An der Universität Vechta findet 2016 eine Ringvorlesung zum Thema Migrationspolitik statt. Den Herausgebern der Beiträge werden u. a. wegen des angeblich rechtspopulistischen Mitorganisators Hermann von Laer die Mittel gestrichen. ‒ Der Philosoph und AfD-Politiker Marc Jongen wird 2017 zu einer Tagung ans Hannah Arendt Center am Bard College eingeladen. In einem Offenen Brief beschimpfen auch namhafte deutsche Akademiker und Akademikerinnen Jongen als rassistisch und xenophob. ‒ Die Goethe-Universität in Frankfurt sagt 2017 einen geplanten Vortrag des Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, wegen dessen angeblichen Rassismus wieder ab. ‒ Die Migrationsforscherin Sandra Kostner lädt 2017 Hamed Abdel-Samad an die Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd ein. Eine kopftuchtragende Studentin erstattete wegen Volksverhetzung Strafanzeige gegen den Referenten, weil sie ihr Recht auf ein diskriminierungsfreies Studium durch seine Aussage verletzt sah, das Kopftuch bei Lehrerinnen sei nicht mit dem staatlichen Neutralitätsgebot vereinbar. ‒ Im WS 2018/2019 verbietet die Universitätsleitung dem Philosophen Dieter Schönecker die Verwendung seiner üblichen Haushaltsmittel, um die Einladung von Marc Jongen und Thilo Sarrazin zu Vorträgen in einem Seminar über Meinungsfreiheit zu finanzieren. Nur unter großem Polizeischutz können die Vorträge stattfinden, es gibt Störversuche bei dem Vortrag Schöneckers und eine Morddrohung gegen ihn. ‒ Ein Vortrag von Murry Salby an der Helmut-Schmidt-Universität zum Thema „What is Really Behind the Increase of Atmospheric CO2? New Research“ wird 2018 abgesagt, weil er sich gegen die Annahme eines von Menschen erzeugten Klimawandels ausspricht. ‒ Das ehemalige Mitglied der Black Panther Party, Dhoruba Bin-Wahad, soll 2018 auf Einladung des Instituts für Afrikawissenschaften an der Universität Wien einen Vortrag halten. Diverse Gruppen rufen dazu auf, das zu verhindern, der Vortrag findet schließlich an einem nicht-universitären Ort statt. ‒ Mitglieder der Identitären Bewegung stören 2018 einen Vortrag an der Universität Magdeburg. ‒ Ein Gedicht von Eugen Gomringer an der Berliner Alice Salomon Hochschule wird 2018 entfernt, weil es sexistisch sei. ‒ Die AfD ruft 2018 Studierende dazu auf, AfD-kritische Lehrer und Dozentinnen zu melden bzw. online an den Pranger zu stellen. ‒ Der Historikerverband (VHD) verabschiedet 2018 eine Resolution „zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie“ und beansprucht damit so etwas wie ein allgemeinpolitisches Mandat, das geeignet ist, insbesondere den Nachwuchs einem Konformitätsdruck auszusetzen, den sie nur bei Strafe der akademischen Exklusion standhalten können. Gebrandmarkt werden „abwertende Begriffe zur Ausgrenzung vermeintlich ‚Anderer‘ aufgrund ihrer Religion, ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung.“ Dezidiert abgelehnt wird dagegen Kritik an politisch diffamierenden Begriffen wie „Rassist“ oder „Nazi“. ‒ Der Ökonom Bernd Lucke wird 2019 nach seiner Rückkehr in den Dienst aufgrund seines ehemaligen Engagements für die AfD daran gehindert, an der Universität Hamburg seine makroökonomische Vorlesung zu halten. ‒ Ein Vortrag von Christian Lindner (FDP) an der Universität Leipzig wird 2019 gestört. ‒ Eine Gruppe Studierender an der Frankfurter Goethe-Universität fordert 2019 die Absage einer Tagung zur Rolle des muslimischen Kopftuchs  sowie die Entlassung der Veranstalterin, der Ethnologin und Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter. Bei einer Nachfolgeveranstaltung kommt es zu Handgreiflichkeiten. ‒ In einer Entschließung der HRK-Mitgliederversammlung 2019 heißt es, die HRK möchte die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) „an allen Hochschulstandorten etabliert sehen“. Eine dagegen gerichtete Petition wertete dies als Verletzung der Wissenschaftsfreiheit. ‒ Die deutlich politisch motivierte Jenaer Erklärung einiger Zoologen fordert 2019, den Begriff der Rasse aufzugeben. Menschliche Rassen seien „reine Konstrukte des menschlichen Geistes“ und keine „biologische Realität“, der „Rassismus mach[e] Rassen“ und der „Nichtgebrauch des Begriffes Rasse sollte heute und zukünftig zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehören“. Tatsächlich ist die Frage, ob es menschliche Rassen gibt, aber sowohl biologisch wie auch philosophisch umstritten. Dennoch beruft sich z. B. die DFG-Präsidentin Katja Becker 2020 in einem Beitrag über rassistische Strukturen in Gesellschaft und Forschung affirmativ auf die Jenaer Erklärung, als handele es sich dabei um eine rein wissenschaftliche begründete Stellungnahme. ‒ Seit 2020 muss in Projektanträgen der DFG ein Abschnitt über „Relevanz von Geschlecht und/oder Vielfältigkeit“ enthalten sein. ‒ Die Forschungsstelle für Interkulturelle Studien der Universität zu Köln fordert 2020 in einer Stellungnahme die Prüfung von Meinungen „mit dem Instrumentarium einer kritischen Rassismus- und Diskriminierungsforschung“. Dabei wird schon eine Aussage wie „Das Kopftuch ist ein Zeichen für Unterdrückung“ für diskriminierend und menschenverachtend gehalten. ‒

Gewiss müsste man diese Fälle noch genauer analysieren, vor allem mit Blick darauf, wie genau sie einzuordnen sind. Aber gibt es, wie Jan-Martin Wiarda kürzlich in der Süddeutschen schrieb, als Beispiele für die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit nur „meist genau die paar wenigen, die seit Jahren durch die Öffentlichkeit geistern?“ Ich denke nicht, und dabei ist der größere, atmosphärisch relevante Kontext der Cancel Culture in anderen Bereichen (Medien, Theater, Kunst) noch gar nicht berücksichtigt. Sofort nach der öffentlichen Erklärung des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit wurden uns Hinweise auf weitere, aktuelle Fälle zugeschickt. Man muss diese Fälle prüfen, nicht zuletzt deshalb, weil es die besagte Schwierigkeit bei der kategorialen Einordnung gibt; und natürlich sind auch die oben genannten Fälle jeder für sich kompliziert und für Außenstehende im Detail oft schwer nachvollziehbar. Aber zumindest dies scheint mir wahr zu sein: Es gibt eine wachsende Tendenz, auf der Grundlage ideologisch transformierter und durch den concept creep den Begriffsspielraum deutlich überziehender Begriffe wie „Rassismus“, „Sexismus“, „Kolonialismus“ oder auch „Antisemitismus“ die Freiheit von Forschung und Lehre einzuschränken. Wer, wie belegt, schon die These, das Kopftuch sei ein Zeichen für Unterdrückung, für rassistisch hält und damit zur akademischen Diskriminierung derjenigen aufruft, die eine solche These für erachtenswert oder wahr halten, macht freies Nachdenken unmöglich. Bedrohlich wird diese Tendenz auch in der Perspektive auf die Entwicklung an den US-amerikanischen Universitäten, wo sich, wie Hans Ulrich Gumbrecht am 8. August 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, „ein Regime des Meinungsterrors etabliert“ hat. Wenn wir, wie so oft, mit der Entwicklung hinterherhinken, wird es auch in Deutschland gewiss nicht besser werden.

Last and least Baberowski: Nehmen wir einmal an, Plamper hätte Recht und Jörg Baberowski hätte sich selbst des Versuches, ihn (Plamper) zu canceln, schuldig gemacht. Daraus würde weder folgen, dass Baberowski nicht selbst Opfer der Cancel Culture geworden ist, und erst recht würde das nicht implizieren, das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hätte mit seiner These, es gebe eine zunehmende Gefahr der Einschränkung und Verletzung der Wissenschaftsfreiheit, unrecht. Das durchsichtige Manöver Plampers besteht darin, genau dies zu suggerieren. Dies wiederum beweist aber umgekehrt nicht, dass Plamper falsch liegt mit seinem Vorwurf gegen Baberowski. Auf diesen Vorwurf muss Baberowski selbst die Antwort geben, zumal man Konfliktgeschichten zwischen Professoren, die dazu führen, dass der eine nicht mehr mit dem anderen zusammenarbeiten will, von rein ideologisch bedingten Versuchen, die Arbeit eines anderen zu behindern, unterscheiden muss – nur letzteres ist Cancel Culture. Ich wäre zuversichtlich, dass Baberowski die Antwort gelingt.

 

Dieter Schönecker, Professor für Philosophie an der Universität Siegen, ist Gründungsmitglied des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit. Er spricht hier nur für sich.