Gegen die Lügen

Vergangene Woche beschuldigten die Zeitungen BILD und WELT die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke des Antisemitismus. Der Vorwurf: Sie habe in ihrer Gastrede, die sie beim Grünen-Parteitag gehalten hatte, angeblich Holocaust-Opfer mit Klimawissenschaftler:innen und Virolog:innen verglichen und damit das Leid von Jüdinnen*Juden bagatellisiert. Diese Vorwürfe sind haltlos und unangebracht, und wir stellen uns hinter die Publizistin Carolin Emcke: Keiner ihrer Sätze ist in irgendeiner Weise als antisemitisch zu werten. Die Publizistin hat in ihrer Rede vielmehr darauf hingewiesen, dass bestimmte Gruppen empirisch immer wieder verunglimpft werden: „radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt“ führten, so Emcke dazu, dass Gruppen wie z.B. „Feministinnen, „Juden, „Kosmopoliten, „Virolog:innen“ angegriffen und zu Sündenböcken gemacht werden. Auf die gemeinsame kulturelle Textur und politische Form gruppenfeindlicher Ressentiments hinzuweisen bedeutet mitnichten, den Antisemitismus zu verharmlosen oder alles irgendwie gleich, gar beliebig zu behandeln. Im Gegenteil. Solche Betrachtungen klären darüber auf, wie sich Exklusionsdynamiken verflechten, und warnen uns – gerade auch im Lichte des Antisemitismus – vor den Gefahren, dieses nicht angemessen ernst zu nehmen.

Wir kritisieren scharf die Form der Angriffe auf die Publizistin, die exakt das vollziehen, was Carolin Emcke in ihrem Redebeitrag formuliert und wovor sie zu Recht eindrücklich gewarnt hat: Die Beschädigung der politischen Öffentlichkeit durch mutwillig verzerrte Halbwahrheiten und bösartige Verdrehungen von Sinn, mit dem politischer Streit nicht ausgetragen, sondern ausgehöhlt wird.

Die Springer-Presse sowie einige Politiker:innen diffamieren nicht nur eine der wichtigsten Stimmen dieses Landes, die nachweislich – man lese jeden einzelnen Text und höre jede Rede der Publizistin – unermüdlich gegen Antisemitismus, Rassismus, sexualisierte Gewalt oder Homophobie, gegen überhaupt alle Spielarten demokratiefeindlicher Menschenfeindlichkeit anschreibt, spricht und kämpft. Sie untergraben mit diesen aus dem Zusammenhang und aus der Luft gerissenen Vorwürfen den eigentlichen wichtigen Kampf gegen den Antisemitismus. Es ist bei weitem nicht das erste (und sicher nicht das letzte) Mal, dass sich Medien (insbesondere des Springer-Verlags) dieser Methode bedienen: Zitate werden aus dem Zusammenhang gerissen und in neue Kontexte gesetzt, die Deutungshoheit über den Antisemitismus wird an sich gerissen. Damit wird der Antisemitismus-Begriff instrumentalisiert, missbraucht, also entwertet. Dies zeigt einmal mehr, wie hohl die beständig wiederholte Behauptung ist, dass sich die Medien des Springer-Konzerns konsequent gegen Antisemitismus einsetzen würden. Tatsächlich nämlich dient das vermeintliche Eintreten gegen Antisemitismus als Alibi für ressentiment-schürende, teilweise regelrecht hetzende Berichterstattung gegen Muslim:innen, Geflüchtete – oder, wie in diesem Fall, gegen Menschen, die politisch nicht rechts stehen. Das Leben von Jüdinnen*Juden – unser Leben – wird dabei lediglich als Munition in einem herbeigeschriebenen Kulturkampf genutzt. So wird ein Klima der Gewalt und des Misstrauens erzeugt.

Das absichtliche (und wiederholte) Missverstehen, die Verzerrung und Verdrehung von Tatsachen und die Lüge als mediale Methoden untergraben jeden sachlichen Diskurs und gefährden die Demokratie in diesem Land. Dass dies jüdische Menschen ebenso wie andere Minoritäten bedroht, ist eine der historischen Lehren, denen wir verpflichtet sind.

 

14. Juni 2021

Unterzeichner:innen

Lena Gorelik, Autorin, München
Paula-Irene Villa Braslavsky, Soziologie / Gender Studies, München
Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt am Main
Fabian Wolff, Autor, Berlin
Emily Dische-Becker, Journalistin, Berlin
Micha Brumlik, Seniorprofessor am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin Brandenburg
Max Czollek, Autor, Berlin
Aaron Altaras, Schauspieler, Berlin
Alexa Karolinski, Filmemacherin, Berlin
Bella Lieberberg, Fotografin, Berlin
Dmitrij Kapitelman, Schriftsteller/Journalist, Leipzig
Arkadij Khaet, Filmemacher, Ludwigsburg
Miriam Rürup, Historikerin, Berlin/Potsdam
Shahak Shapira, Comedian und Schriftsteller, Berlin
Susan Neiman, Philosophin, Berlin
Hannah Tzuberi, Islamwissenschaft/Jüdische Studien, Berlin
Igor Levit, Pianist, Berlin
Sasha Marianna Salzmann, Autor*in, Berlin
Doron Rabinovici, Autor, Wien
Eva Menasse, Autorin, Berlin
Hanno Loewy, Direktor Jüdisches Museum Hohenems, Hohenems
Cilly Kugelmann, Berlin
Mirjam Zadoff, Historikerin, München
Annette Leo, Historikerin, Berlin
Deborah Feldman, Autorin, Berlin
Michael Rothberg, Holocaust Studies, UCLA
Hannah Peacemann, Philosophin, Erfurt
Sonia Simmenauer, Jüdischer Salon, Berlin
Marion Kollbach, Filmautorin, Berlin
Max Pitegoff, Künstler, Berlin
Michael Kohls, Fotograf, Hamburg
Rachel Libeskind, Künstlerin, Berlin
Rosa Lieberberg, Creative Director, Berlin
Michelle Fajman, Psychologin, Berlin
Yohana Hirschfeld, Kunsthaus Finkels, Hamburg
Leah Carola Czollek, Leiterin Institut Social Justice und Radical Diversity, Berlin
Anna Hájková, Historikerin, University of Warwick
Boaz Levin, Künstler und Kurator, Berlin
Heinrich Horwitz, Regisseur*in, (für) actout, Berlin
Tucké Royale, Schauspieler, (für) actout, Berlin
Lior Smith, EUJS Women’s Network, Berlin
Dani Kranz, Anthropologin Ben Gurion Universität, Beer Sheva, Israel
Aaron Smith, Schauspieler, Berlin
Lucia Kotikova, Schauspielerin, Hannover