Presseschau zum Tod von Karl Heinz Bohrer

Zum Tod des langjährigen Merkur-Herausgebers Karl Heinz Bohrer, der am 4. August in London gestorben ist, sind zahlreiche Nachrufe erschienen. Hier eine chronologische Übersicht mit Links und markanten Zitaten. Ein Nachruf im Merkur wird folgen.

„Sein Thema war die Radikalität der modernen Ästhetik, wechselweise als Spielart des politischen Radikalismus oder aber als Alternative zur Programmatik politischer Revolutionen. Zu allen Versuchen, Politik und Kunst auf Moral zu begründen, wie sie nach der Zäsur der Beseitigung des Nationalsozialismus in Deutschland lange eine zwanglose Plausibilität hatten, bezog Bohrer eine Position des grundsätzlichen Widerspruchs.“ – Patrick Bahners in der FAZ vom 5.8. (Paywall)

„Er wollte das Publikum nicht umarmen, er wollte um jeden Preis auf Distanz zu ihm gehen. Und die Inselperspektive gab ihm die Gelegenheit, vor der Londoner Haustür ein neues Leben zu entdecken und zugleich über das alte auf dem Kontinent herzuziehen. Der notorische Provokateur, zu dem er wurde, war ein Distinktionsgewinnler, der Margaret Thatchers Falkland-Krieg 1982 in der „FAZ“ nicht aus übertriebener Identifikation mit seiner neuen Heimat pries, sondern weil er den Gartenzwerg-Pazifismus der Deutschen verachtete – unter Linken wie Spießbürgern. Er war the man you love to hate.“ – Gregor Dotzauer im Tagesspiegel vom 5.8.

„Das Elitäre steckte an. Das Elitäre, das oft nur als arrogant erlebt wird, hier kam es aus dem Geist jugendlicher Rebellion gegen Eltern, Nachbarn, Lehrer – überhaupt gegen alles, was gerade so Konsens ist und lange Zeit ja auch ein sozialdemokratischer, gemäßigt linker Konsens war. Alle saßen auf den Gartenstühlen, nur Bohrer wollte zappeln und kippeln. Bohrer blieb bis ins neunte Lebensjahrzehnt der Punk unter den deutschen Intellektuellen.“ – Jens Jessen in der Zeit vom 5.8.

„Die für ihn fast rituelle Empörung Kritischer Theoretiker über ‚die Verhältnisse‘ langweilte ihn ebenso sehr wie Literatur, die nur ‚drapierte Ideengeschichte‘ ohne plötzliche Überfälle auf die Leser war. So genoss er an 1968 vor allem die Außeralltäglichkeit und das Aufgemischtwerden der Gesellschaft als solcher. Der Satz, der verlangte, die Fantasie solle an die Macht kommen, hätte von ihm stammen können. Sein Marxismus war also nicht der von Karl, sondern der von Groucho: ‚Whatever it is, I’m against it.’“ – Jürgen Kaube in der FAZ vom 5.8.

„Bohrer war ein elitärer Geist, dem Banausentum offenbar fast Übelkeit verursachte. Er konnte «hervorragend verachten» (Franz Schuh). Auffällig ist indessen, dass seine Verachtung ganz überwiegend die etablierten Eliten traf, die führenden Politiker und die Meinungsmacher im Kulturbetrieb. Der Anwalt des Ästhetischen hatte ein feines Gespür für die falschen Töne derer, die die Machtpositionen besetzen. Elite – das war für ihn letztlich der phantasiebegabte, trotzige Einzelne, der immer Gefahr läuft, zum Outlaw zu werden.“ – Manfred Koch in der NZZ vom 5.8.

„Seinen berühmtesten Satz, der auch jetzt gerne wieder zitiert wird, hat er so nie geschrieben: ,Netzer kam aus der Tiefe des Raums‘, wie Peter Unfried 2012 in der Taz in einem denkwürdigen Text nachgewiesen hat. […] Der Originalsatz lautet: ,Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte ,thrill‘.‘ Und den hatte Bohrer auch, da gibt es keine zwei Meinungen.“ – Christof Meueler im Neuen Deutschland vom 5.8.

„Im Merkur zu schreiben, war für viele Ansporn und Ehre. Der Anspruch der ‚deutschen Zeitschrift für europäisches Denken‘, wie es im etwas antiquiert daherkommenden Untertitel heißt, war jedoch alles andere als die Vermittlung des Eindrucks einer geschlossenen Gesellschaft. Mit eigenwilligen politischen Interventionen, zum Beispiel einer grimmigen Analyse deutscher Stillosigkeit, stellte Karl Heinz Bohrer selbst immer wieder seine geistige Offenheit und Unabhängigkeit unter Beweis.“ – Harry Nutt in der FR vom 5.8.

„Bohrer, nie ein Linker, aber auch als Konservativer nicht zu fassen, war das Denken in Parteien und Fronten von Grund auf fremd.“ – Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung vom 5.8. (Paywall)

„Sein Lebensthema – er selbst hielt es für eine wesentliche literaturhistorische Entdeckung – war der Begriff der ,Plötzlichkeit‘, worin sich ein ,Erwartungsschrecken‘ offenbare, der das langweilige Leben erst erträglich mache. Bis ins hohe Alter hinein blieb dies ein bestimmendes Motiv, verkörperte es doch den eigenen Unwillen, sich mit starren Gegebenheiten abzufinden. Wenn jemand die Verhältnisse zum Tanzen brachte, fand Bohrer das per se gut.“ – Florian Felix Weyh im Deutschlandfunk am 5.8.

„Karl Heinz Bohrer ist ein Radikaler. Man nennt jemanden radikal, wenn er ,die Dinge an der Wurzel fasst‘. Dazu gehört rebellischer Instinkt, Lust an der Überraschung und Unmittelbarkeit. Für alles dies war Karl Heinz Bohrer Spezialist.“ – Alexander Kluge im Spiegel vom 6.8.

„Bohrer machte den Merkur 27 Jahre lang zum Zentralorgan eines in mancherlei Hinsicht unabhängigen Denkens, dessen großer Wert darin lag, dass die zwischen den konventionellen Denklagern hervorblitzenden Provokationen von Bohrer, durch den Widerspruch, den sie hervorriefen, den Lesern die kritische Überprüfung der eigenen, vielleicht zu eingefahrenen, vielleicht zu blauäugigen Positionen ermöglichte.“ – Uwe Schütte im Freitag vom 6.8.

„Seine Kritik am deutschen, stillosen Mittelmaß, das sich in Helmut Kohl und anders auch in Angela Merkel exemplifizierte, hätte bei einem schwächeren Denker in ein Plädoyer für den starken Mann münden können, aber dafür war Bohrer viel zu klug.“ – Armin Thurnher auf Falter.at am 6.8.

„Als Lehrer, Mentor und Freund entzog er sich diesem Zerrbild der öffentlichen Wahrnehmung; man konnte ihn weder mit dem Wort ,konservativ‘ treffend beschreiben noch mit dem geselligkeitsorientierten Verhaltenslehren linksintellektueller Cordjacketträger beikommen, ihn weder als stylishen Kulturwissenschaftsessayisten verstehen noch als hermetisch auftretenden, nihilistisch umflorten Universitätsprofessor.“ – Mara Delius in Die Welt vom 7.8.

„Ohne je aufdringlich zu werden, begeisterte er sich für herausragende Werke, ließ er den erlebten Episoden sozialer Peinlichkeit herablassenden Spott angedeihen, folgten seine Worte dem Aufscheinen ästhetischer Differenz in ganz unvermutete Zusammenhänge.“ – Hans Ulrich Gumbrecht in Die Welt vom 7.8.

„Als Literaturkritiker stand Bohrer kompromisslos auf der Seite der Avantgarden (von den Frühromantikern bis zu den Surrealisten, seine besondere Verehrung galt der französischen Lyrik, allen voran Baudelaire), womit er auf allen Seiten Anstoß erregte, beim konservativen Bildungsbürgertum ebenso wie in der gesellschaftskritisch bis revolutionär gesinnten Kulturszene jener Jahre.“ – Richard Kämmerlings in Die Welt vom 10.8.

„In Rundumschlägen wehrte er sich gegen Hegel und ,die‘ Geschichtsphilosophie. Aber L’art pour l’art war Bohrers Credo ebenso wenig wie ,Theorie und Praxis‘. Weil der Sprengsatz der ästhetischen Erfahrung nicht nur Theorie blieb, sondern gelebt wurde, war er auch ein Stachel für jene Kritik, die der Herausgeber des Merkur aus der Ferne an den politischen Zuständen in der Heimat geübt hat.“ – Jürgen Habermas in der FAZ vom 11.8.

„Wollte man Bohrer gleichwohl weltanschaulich auf einen Nenner bringen, so wäre es dieser: Alles, was mit Geschichtsphilosophie zu tun hatte, lehnte er ab. Deswegen beharrte er als Literaturwissenschaftler so unbedingt auf der Autonomie des Ästhetischen, das nicht auf irgendwelche Ideen oder eine Moral reduziert werden dürfe. Der Gegenbegriff zur Geschichtsphilosophie war die Fantasie.“ – Ijoma Mangold in der Zeit vom 12.8 (nur Print).