Unter dem Klebestreifen (Made in Germany)

Ja, es gibt einen latenten Grundantisemitismus in Indonesien, und ja, dieser Grundantisemitismus richtet sich gegen Israel. Und ja, es gibt indonesische Künstlergruppen, in denen einige Mitglieder in der Vergangenheit antisemitische Verschwörungstheorien vertreten haben. So hat es mir ein Indonesienexperte geschildert, und ich habe keinen Grund, an seinen Erfahrungen zu zweifeln. Der indonesische Antisemitismus scheint ein Antisemitismus ohne Juden zu sein, denn in Indonesien sind diese eine so winzige Minderheit, daß eine Mehrheit der Bevölkerung sie überhaupt nicht kennenlernt. Das macht diesen Antisemitismus nicht weniger gefährlich, denn wenn Leute etwas für real halten, hat es reale Konsequenzen.

Und eben deshalb sollte man differenzieren. Der Teufel steckt im Detail, der liebe Gott auch, und wenn die Documenta an ikonographischen Missverständnissen untergeht, dann werden ganze Generationen von Kunsthistorikern sich mit den Gründen beschäftigen. Noch ist es nicht so weit, aber die Uhr tickt. Und jetzt zum Detail und zum Großen Ganzen. Man stelle sich folgenden Fall vor: Eine indonesische Künstlergruppe will ein Bild anfertigen, das eine polemische Kritik ihrer eigenen muslimischen Elite beinhaltet. Zu diesem Zweck wählen sie die Darstellung einer populären Figur des indonesischen Schattentheaters und integrieren diese in eine Runde von raffgierigen Geldschefflern. In Indonesien ist die Ikonografie klar umrissen, weil diese Figur – Petruk – immer wieder zu satirischen Anlässen verwendet wurde, und so auch diesmal. Petruk konnte die niederländische Kolonialherrschaft versinnbildlichen, die Herrschsucht überhaupt, und in diesem Fall das Gewinnstreben der muslimischen Geistlichkeit. Als das Bild bei der documenta in Kassel gezeigt werden soll, weisen Einheimische darauf hin, dass die Figur aufgrund ihrer Kopfbedeckung mit einer Judendarstellung verwechselt werden könnte, und zwar aufgrund einer im Detail abweichenden Ähnlichkeit ihrer Kopfbedeckung mit einer jüdischen Kippa. Daraufhin wird das Bild retuschiert, damit keine solche Verwechslung eintritt. Die Figur selbst weist keine Gemeinsamkeit mit antisemitischen Klischeedarstellungen auf. Aber aufmerksame Betrachter bemerken die Retusche, rekonstruieren die retuschierte Kopfbedeckung, und schließen daraus messerscharf, dass es sich um eine antisemitische Judendarstellung gehandelt haben muss.

Diese Auffassung wird von deutschen Zeitungen, und in Radio und Fernsehen und Internet ohne Rücksprache mit den Urhebern des Bildes als Tatsache verbreitet. Ein neues antisemitisches Bild ist auf der documenta fifteen von aufmerksamen Beobachtern identifiziert worden. Von Seiten der indonesischen Leitung der Ausstellung wird eine umfassende Richtigstellung gegeben. Die Details über Petruk lassen sich leicht nachlesen. Trotzdem halten die deutschen Medien über Stunden und Tage an ihrem Verdachtsmoment als Tatsache fest. Ein Fernsehbericht sagt sogar ganz explizit: „Zu sehen ist das Bild eines raffgierigen Juden…“, obwohl alles getan wurde, um genau diese Projektion zu verhindern. Das Bild, das in den Augen einiger deutscher Betrachter entstanden ist, wird als plausibler behandelt, als seine Richtigstellung durch den ursprünglichen indonesischen Kontext. Die indonesische Figur aus dem Schattentheater wird sogar mit abgebildet; und trotzdem soll das deutsche Halluzinationsbild entscheidender sein. Die Indonesische Erläuterung wird als eine bloße Behauptung oder Schutzbehauptung kolportiert; die widerlegte Lesart hingegen weiterhin als eine mögliche Tatsache, oder als eine weiterhin geltende Tatsache.

Der deutsche Rorschachtest, der Juden „als Juden“ dort identifiziert, wo keine waren, setzt sich gegenüber dem Sinn und Verstand durch, den das Motiv in Indonesien hatte und immer noch hat. Und zwar deshalb, weil man auf genau diesen deutschen Rorschachtest Rücksicht genommen hat, um ihn und seine Anschuldigungen und Verletzungen zu vermeiden. Und es ist nicht das erste Mal, dass ein solcher Vorgang mit ‚neu aufgetauchten‘ antisemitismusverdächtigten Bildern der documenta fifteen geschieht. Es ist mitlerweile ein eingespielter Vorgang. Keines der betroffenen Medien hat seine Lesarten zurückgenommen, die jeweilige Blamage zugegeben, oder eine Gegendarstellung verfasst. Die deutschen Projektionen werden als wichtiger behandelt als ihre ikonografische Widerlegung, und wenn sie sich als Illusion herausstellen, werden sie trotzdem weiterhin als Verdächtigungen stehengelassen.

T.W. Adorno schrieb einmal, der Antisemitismus sei das Gerücht über die Juden. Dieses Gerücht wird auf der documenta fifteen mittlerweile durch Leute am Leben gehalten, die es erwarten und freihändig erfinden: als deutsches Gerücht über den Antisemitismus der Nicht-Deutschen. Wenn Leute etwas hartnäckig für real halten, hat es reale Folgen. In Deutschland wie überall. Für die documenta fifteen gilt: Die Weigerung, etwas anderes als die eigenen Projektionen als Realitätsmaßstab anzuerkennen, bestimmt den Rorschachtest der documenta. Das Schattenboxen der deutschen Antisemitismusverdächtigungen wiegt schwerer als die Ikonografie des indonesischen Schattentheaters. Denn wir sind schließlich nicht in Indonesien. Und hierzulande zählt nur noch das, was sich Inländer über sich selbst ausdenken. Was Petruk betrifft, ist die Angelegenheit ebenso satirisch wie aufschlussreich: Die Kippa ist entstanden, als Deutsche mit ihren wohlgemeinten Ratschlägen eben jenen Rorschachtest heraufbeschworen, den sie verhindern wollten, aber dadurch auch vorwegnahmen. Kein Wunder, dass die Medien der indonesischen Erklärung nicht vertrauen. Es waren bereits Deutsche am Werk. Mit einem Klebestreifen Made in Germany. Bannung und Beschwörung, Exorzismus und Besessenheit sind nun einmal, anthropologisch gesehen, eng verwandt. Und in Deutschland, von altersher: Nation und Halluzination. Gebt den Deutschen einen Bettzipfel, und sie nehmen das ganze Betttuch und projizieren darauf ihren Film, in dem die anderen Antisemiten sind und sie selbst Antisemitismusexperten. Und auch Experten für Petruk. Was zum Teufel hatte dieser Schlingel denn auch auf der Galeere, pardon, diesem Flaggschiff der deutschen Kultur zu suchen? Einmal dem Fehlläuten der Großen Glocke gefolgt, es ist durch kein Pflaster gutzumachen. Denn es gibt Leute, die wissen, welche schwärende Wunde unter jedem Klebestreifen auf uns wartet.