Unsere Werte

»…, doch plötzlich war ein Wort in aller Munde, ›Werte‹ – auch wenn niemand explizit sagte, welche Werte gemeint waren –, ein Wort, das nach einer grundsätzlichen Missbilligung der Jugend, der Erziehung, der Pornographie, der Lebenspartnerschaft, des Cannabis und des Niedergangs der Rechtschreibung klang.«

Annie Ernaux

Überall Werte. Im Koalitionsvertrag der Ampel nimmt der Wertbegriff eine prominentere Rolle ein als im Vorgängerdokument der letzten großen Koalition. Die CDU hat auf ihrem letzten Parteitag eine »Charta« mit drei Grundwerten beschlossen, aus der sie ihr Parteiprogramm entwickeln will. Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs sagt die Wertformel des Art. 2 des EU-Vertrags in verschiedenen Sprachen auswendig auf. Das Bundesverfassungsgericht hat den lange gemiedenen Begriff der grundgesetzlichen »Wertordung« wieder in seine Rechtsprechung übernommen. Unternehmer, Ministerinnen und Opernintendanten »bekennen« sich zu eigenen Werten, ebenso die FIFA und die Vereinten Nationen.

(Dieser Text ist im Dezemberheft 2022, Merkur # 883, erschienen.)

In einer Stellenanzeige (»Geschäftsführung«) lautet die Erwartung »restrukturierungs- und sanierungserfahren, werteorientiert«. Zeitschriften veranstalten Podien zur Gefährdung demokratischer Werte oder stellen ein Heft unter das Thema »Welche Werte sind uns jetzt wichtig?« [1. Frankfurter Allgemeine Quarterly, Nr. 23/22 vom 15. Juni 2022; Stefan Keim, Wie sollen wir unsere Werte verteidigen? In: Deutschlandfunk Kultur vom 12. August 2016 (www.deutschlandfunkkultur.de/ruhrtriennale-mit-grossen-fragen-wie-sollen-wir-unsere-100.html).] Die Theorie behandelt den lange ungeliebten Wertbegriff zunehmend mit Milde. Als »nützliche Fiktionen« könnten Werte die Funktion erfüllen, eine pluralisierte Gesellschaft mit Normen zu versorgen, die nicht zu viel von ihr verlangen [1. Andreas Urs Sommer, Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt. Stuttgart: Metzler 2016.] und Kompromissbildung ermöglichen. [1. Jürgen Kaube, Was sind Werte? In: Frankfurter Allgemeine Quarterly, Nr. 23/22 vom 15. Juni 2022.]

Diese Renaissance versteht sich nicht von selbst. Der Wertbegriff ist nicht zeitlos, sondern ein Kind der neukantianischen Schulphilosophie, um 1860 eingeführt und schon um 1920 außer Mode gekommen. [1. Unübertroffene Darstellung der systematischen Gründe für Entstehen und Vergehen der Wertphilosophie: Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt: Suhrkamp 1983.] Zugleich wurde er zu einer Figur konservativ-bürgerlicher Selbstbeschreibung des späten 19. Jahrhunderts und seiner langen Nachgeschichte. [1. Manfred Hettling /Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000.] Nietzsche hat den Begriff popularisiert, massiv beschädigt, aber eben nicht erledigt. Seine Formel von der »Umwertung aller Werte« machte klar, dass Werte nicht einfach gelten, sondern unter bestimmten Bedingungen entstehen und vergehen. Heute lebt sie entdramatisiert als Figur des »Wertewandels« fort und nährt als vermeintlich messbare Größe demoskopische Institute. Wie Werten trotz ihrer flagranten Abhängigkeit von den jeweiligen politischen Umständen ein normativer Gehalt zuzusprechen ist, bleibt seit Nietzsche die Frage. Kein Fach hat diese bis heute so umgetrieben wie eine protestantische Theologie, die beides zugleich sein wollte, modern und normativ.

Die Kritik am Wertbegriff ist ihrerseits nicht neu, sie muss nur ab und zu der nächsten Abbiegung des Begriffs folgen. Die linke Kritik bemerkte, wie nahtlos sich der Wertbegriff an die kapitalistische Kommodifizierung anpasst. Erweist sich das, was Wert hat, nicht gerade darin als käuflich? Die rechte Kritik konnte sich nie recht entscheiden, ob ihr Werte zu viel oder zu wenig Normativität produzierten: Ist der Begriff beliebig, also letztlich lasch? Oder dient er als Vehikel einer aggressiven Hypermoralisierung, einer bedrohlichen »Tyrannei der Werte«? [1. Der von Carl Schmitt popularisierte Ausdruck stammt vom Wertphilosophen Nicolai Hartmann, der aber nur die Tyrannei durch eine starre Werthierarchie fürchtete, also letztlich die Tyrannei eines Wertes.]

Wenn der Wertbegriff heute verwendet wird, so die Quintessenz der folgenden Beobachtungen, dann weil er moralischen Anspruch mit dessen Folgenlosigkeit verbindet – oder mit Folgen, die niemand verantworten muss. [1. Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Berlin: Suhrkamp 2015.] Aus diesem Grund tritt der Hinweis auf Werte »als solche« gegenüber bestimmen Werten in den Vordergrund. Man könnte sich ja zu Solidarität, Nachhaltigkeit oder Patriotismus auch bekennen, ohne überhaupt den Begriff »Wert« zu gebrauchen. Im heutigen Wertediskurs ist es umgekehrt: Wichtig ist das »Wertfundament«. Was damit gemeint ist, kann erst einmal offenbleiben. Weil aber die Frage, wo die in Anspruch genommenen Werte eigentlich herkommen, nicht ohne weiteres beantwortet werden kann, gerät der Wertbegriff zur Selbstbeschreibung. Auf die Frage »Welche Werte?« lautet die Antwort: »Unsere Werte«. So kann mit dem Wertbegriff ein Anspruch erhoben werden, dessen Inhalt im Dunkeln bleibt, der als bloße Selbstbeschreibung bescheiden wirkt, der normative Erwartungen andeutet und zugleich die eigene Motiv- und Interessenlage verdeckt. Hier droht weniger die Tyrannei der Werte als eine inkonsequente Normativierung, für die niemand zuständig sein will. Noch einmal anders gefasst: Die Berufung auf Werte erlaubt es mit Zwecken Mittel zu heiligen; genauso erlaubt sie es aber auch, unkenntlich zu machen, dass gar keine Mittel ergriffen werden.

Normative Promiskuität

Dem Wertdenken kann alles zum Wert werden. Dies ermöglicht es, verschiedenste Gesichtspunkte zugleich zu unterscheiden und auf eine gemeinsame Ebene zu stellen, vergleichbar zu machen und aneinander zu relativieren. So entsteht das große Nebeneinander von Frieden, Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Geschlechtergerechtigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Heimat und Lebensfreude. Subjektiv oder objektiv, universell oder partikular, normativ oder faktisch, gleichberechtigt oder in eine Rangfolge gebracht, unbestimmt in Herleitung und Konsequenz: Wenn der Begriff überhaupt einen Eigenstand hat, dann in seiner Distanz zum rein Subjektiven. Werte scheinen mehr zu sein als bloße Rechte oder Interessen, die alle einfach fordern oder sich zu eigen machen können. Wenn freilich von »unseren« Werten die Rede ist, wird auch das fraglich.

Diese Anschmiegsamkeit des Wertbegriffs ist für normative Doktrinen, für die praktische Philosophie, die Theologie und die Juristerei nicht einfach zu verdauen. In der Philosophie müssten Werte hergeleitet werden. Solche Herleitungen erschweren die Annahme, dass Werte von sozialen Gegebenheiten abhängig oder historisch wandelbar seien, die sich für andere Disziplinen quasi von selbst versteht. [1. Zu einem solchen Versuch samt Kritik daran vgl. Joseph Raz, The Practice of Value. Oxford University Press 2003.] Umgekehrt nimmt die These von ihrer Abhängigkeit Werten Entscheidendes von ihrem normativen Anspruch. Der Begriff dient nur noch als Kürzel für geteilte Überzeugungen, er beschreibt, was »wir« gerade meinen. So kann eine Praxis, die alles als Wert anerkennt, nicht zwischen Wert und Wertbehauptung unterscheiden. Wer behauptet, »Frieden« oder »Sicherheit« seien Werte, ist nicht darauf vorbereitet, das zu begründen. Es soll bei solchen Behauptungen auch gar nicht um Begründungen gehen, sondern um eine abgekürzte Unterstellung von geteilten Präferenzen, die auf den ersten Blick einleuchten.

Auf diese Weise entstehen die seltsamen Amalgame aus Religion, Ethik und Recht, die den Wertediskurs prägen: Die institutionalisierte Ethik übt sich in der Abwägung von Werten, die einem verfassungsrechtlichen Argument oft verdächtig ähnlich sieht, schön zu beobachten an der oft legalistischen Argumentation des Deutschen Ethikrates. Dass dieser seine Argumente nicht als juristisch ausgeben kann, hat keine sachlichen Gründe, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass man dann auch gleich auf eine ethikspezifische Institution verzichten und zur Rechtsberatung gehen könnte. Religionsgemeinschaften rufen Werte an, verlieren dabei aber schnell ihre eigene Dogmengeschichte aus dem Blick, wenn sie sich nicht gleich auf Menschenrechte oder das »Bundesverfassungsgericht« zurückziehen, wie einst mancher katholische Bischof im Kampf gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Ob es einer Religion, der es um Jesus Christus gehen soll, auch um Werte gehen darf, mag man theologisch aber ebenso bezweifeln wie manche Statements des Ethikrates juristisch. [1. Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitsfindung im Kampf gegen die Tyrannei der Werte. In: Ders., Wertlose Wahrheit. Tübingen: Mohr Siebeck 2003.]

Dass die Grundrechte des Grundgesetzes eine »objektive Wertordnung« begründen, hat das Bundesverfassungsgericht früh behauptet, doch geriet die moralisierend klingende Formulierung zwischenzeitlich in die Kritik, [1. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts. In: Ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt: Suhrkamp 1991.] um in jüngster Zeit wieder aufzutauchen. [1. Uwe Volkmann, Wertedämmerung. In: Merkur, Nr. 834, November 2018.] Dass konkurrierende Werte mit- (oder gegen-?) einander abzuwägen seien, ist heute eine ubiquitäre Formulierung unter Ethikerinnen, Politikern und Juristen, in der der Siegeszug einer bestimmten, sich erst in den 1970er Jahren durchsetzenden Art der Grundrechtsprüfung über das Rechtssystem hinausgeschwappt ist. [1. Niels Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle. Tübingen: Mohr Siebeck 2015.]

Dass deutsche Verfassungsrechtler solche Argumente zu einer Art juristischem Passepartout entwickelt haben, hat bereits die freundliche Verwunderung der Rechtsethnologie gefunden. [1. Jacco Bomhoff, Making Legal Knowledge Work: Practising Proportionality in the German »Repetitorium«. In: Social & Legal Studies 2022 (journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/09646639221092962).] Nichts versteht sich historisch oder systematisch von selbst daran, eine politische oder eine juristische Frage durch die Abwägung von Werten zu lösen.

So gibt es an der Wertsemantik des Verfassungsrechts einiges zu kritisieren, und diese Kritik ist nicht neu. Die Herleitung wirkt mitunter beliebig, und wo alles abgewogen werden kann, bleibt manchmal nicht viel an Grundrechtsschutz übrig. Doch wirft der juristische »Wertformalismus«, [1. So die glückliche Formulierung bei Michaela Hailbronner, Traditions and Transformations. The Rise of German Constitutionalism. Oxford University Press 2015.] in eine juristische Form gebracht, etwas ab. Das zeigt nicht zuletzt der Vergleich mit der Rechtsprechung des US Supreme Court, in der die Entscheidung, die das Recht auf Abtreibung erfand, nichts zum Status des Embryos zu sagen hatte, und die Entscheidung, die dieses Recht wieder abschaffte, nichts zur Selbstbestimmung der Frau. Juristische Polarisierung lässt entgegengesetzten Anliegen keinen argumentativen Ort. Dem beugen Werttheorien vor. Seinen ultimativen Ausdruck fand dies in der Corona-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Im Ergebnis hatte das Gericht nichts zu beanstanden. Die umfängliche Entscheidung stellte sicher, dass alle möglichen Gesichtspunkte in den Entscheidungen des Gesetzgebers einbezogen waren – und überließ es dem Gesetzgeber, sie umzusetzen. [1. BVerfGE, B. vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/2.]

Wertegemeinschaften und ihre Folgen

Außerhalb der formalisierten Welt des Verfassungsrechts, namentlich in der Politik, erscheinen Werte dagegen als adressatenlose Kategorien. Mit der Anrufung eines Rechts wird immer auch der Adressat einer Pflicht fixiert. Mit der Anrufung eines Wertes ist weder etwas dazu gesagt, wer ihn verwirklichen soll, noch dazu, was geschieht, wenn man ihn ignoriert. Die Rede über Werte wird unscharf, wenn es an Konsequenzen geht. Kann man gegen einen Wert »verstoßen«? Und muss man für ihn eintreten oder ihn gar durchsetzen? Zu dieser Unschärfe gehört auch der nahtlose Übergang vom Sein zum Sollen: »Sind unsere demokratischen Werte in Gefahr?« wird in der Diskussionsrunde einer bürgerlichen Wochenzeitung gefragt. Gegenfragen: Warum sollten demokratische Werte in Gefahr sein, nur weil die Demokratie in Gefahr ist? Oder gibt es gar keinen Unterschied zwischen Demokratie und demokratischen Werten? Und wenn nicht, warum formuliert man es dann so?

Die Ungewissheit, ob es um Sein oder Sollen, um Pflichten oder Präferenzen geht, verengt die Grenzen des Gesollten auf eine dezidiert undefinierte Art und Weise, für die der »Wert« selbst verantwortlich scheint, nicht diejenigen, die sich auf ihn berufen. Hier ergeben sich tatsächlich Folgen, für die aber niemand zuständig ist. Solange ich mich unter dem Schutz der Meinungsfreiheit rassistisch, sachlich falsch oder ungelenk äußern darf, spielen die Werte Antirassismus, Wahrheit und Sprachgewandtheit für meinen formellen Handlungsrahmen keine Rolle. Wer daher behauptet, bestimmte Verstöße gegen Werte nicht zu »tolerieren«, und dies ist nicht nur im Deutschen eine beliebte Redeweise, lässt offen, was damit gemeint ist: Geht es um mehr als eine Missbilligung? Soll jemand zum Schweigen gebracht werden, der eigentlich das Recht hätte zu reden?

Wenn der bayerische Gesetzgeber die Integration von Ausländern an »Werte« bindet, [1. Dazu etwa Anna-Bettina Kaiser, Renaissance des Wertdenkens im Recht. In japanischer Übersetzung in: Horitsu-Jiho, Mai 2020.] und wenn über vollverschleierte Frauen behauptet wurde, ihr Äußeres entspreche nicht den Werten des Abendlands, so überschreiten diese Äußerungen eine Grenze und leugnen diese Überschreitung zugleich. Auf der einen Seite wird ein normatives Urteil gefällt, auf der anderen Seite bleibt es formell sowohl ohne Autor als auch ohne Folgen, schafft aber doch eine normative Stimmung, in der bestimmte Lebensformen unter Rechtfertigungszwang gestellt werden. Werte dienten und dienen als Kategorie, mit der der illiberalen Seite des liberalen Bürgertums Raum gegeben wird. [1. James Sheehan, Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus? In: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988.]

Die jüngste Kriegserfahrung illustriert das Problem. Die Auseinandersetzung verlief in Deutschland zivilisiert, aber das Verbot russischer Propagandasymbole, die Abschaltung von Propagandasendern und die Einschränkung anwaltlicher Berufsrechte durch die EU zeigten eine Tendenz, die auch die irritieren könnte, die nicht politisch naiv den »Dialog« mit Massenmördern empfehlen. Das Problem liegt nicht in der Frage, ob man extremistische oder kriegstreiberische Äußerungen in jedem Fall zulässt, das lässt sich bezweifeln, sondern darin, dass mitunter bereits die offene Diskussion dieser Frage als Identifikation mit der falschen Seite verstanden wurde.

An einem anderen Beispiel: Das vor einigen Jahren gescheiterte Verfahren zum Verbot der NPD, einer staatlich finanzierten antisemitischen Partei, wurde von vielen Beobachtern kritisch begleitet oder rundweg abgelehnt. [1. Etwa Horst Meier /Claus Leggewie /Johannes Lichdi, Das zweite Verbotsverfahren gegen dieNPD. Analyse, Prozessreportage, Urteilskritik. In: Recht und Politik, Beiheft Nr. 1, 2017.] Niemand wäre auf die Idee kommen, diesen Kritikern Nähe zur NPD oder Antisemitismus zu unterstellen. Hier sprachen Demokraten für die Demokratie. Wenn heute der Beschluss, mit dem der Deutsche Bundestag öffentliche Stellen auffordert, der antiisraelischen Boykottbewegung BDS keine Räume zu geben, kritisiert wird, wird die Idee, dass diese Kritik der Rechtfertigung des BDS dienen soll, nicht selten geäußert, obwohl die Rechtslage klar ist. [1. Höchstgerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anwendung des Beschlusses in BVERWG, U. vom 22. Januar 2022 – 8C 35.20.]

Dass die Meinungsfreiheit auch oder vielleicht sogar gerade für Boykotteure, Idioten und Übeltäter gemacht ist, sollte ein Gemeinplatz sein. Dass die Idee der Grundrechte als Werteordnung vom Bundesverfassungsgericht für einen Fall erfunden wurde, der im Ergebnis einen Boykottaufruf unter den Schutz der Meinungsfreiheit stellte, ist eine unterschätzte Ironie. Es wäre zu diskutieren, ob die Meinungsfreiheit in solchen Fällen beschränkt werden darf. Dass eine Debatte über Meinungsfreiheit sich aber nicht mit bestimmten Meinungen identifizieren muss, gerät durch die Verwendung des Wertbegriffs außer Sicht, weil dieser notorisch den Schluss vom Zweck auf die Mittel nahelegt.

Politik der Wertfreiheiten

Hätte die documenta fifteen nicht besser als eine wertfreie Veranstaltung funktioniert? Die Frage klingt unweigerlich komisch. Die Wertesemantik hat die ästhetische Front nie erreicht. Das mag mit ihrem pausbäckigen Klang zusammenhängen, der nicht zum unverdrossen avantgardistischen Anspruch der Kunstszene passt. »Das Politische«, das die Büchertische der Kunstbuchhandlungen heute füllt, will sich ungern auf den Wertbegriff festlegen lassen. Die Kunst preist ihre transdisziplinären Formen und ihre (von außen allerdings kaum erkennbare) politische Relevanz. Weil die eine Seite des Kunstbetriebs von den ökonomischen Werten des Kapitalismus konsumiert wurde, kann sich die andere nur noch bemerkbar machen, wenn sie sich auf Gegenwerte beruft. Doch ob die Kunst gewordene Klage über Postkolonialismus und Rassismus normativ (oder ästhetisch) anspruchsvoller ist als die wertetriefende Sonntagspredigt, wäre zu zeigen. Liest man die auf der documenta ausgehängten Banner, so klingen sie genau so, nur halt auf Englisch: »To create a space in which we produce a connectedness and solidarity …« usw. [1. documenta fifteen, *foundationClass*collective, Banner, Fridericianum.]

In seiner oftmals schlichten Politisiertheit wirkt manches am Kunstbetrieb wie eine soziale Nachhut, die fest davon überzeugt ist, Avantgarde zu sein. Wenn sich dieser der diskursiven Übergriffigkeit bedient, die den Wertdiskurs prägt, wenn er also wirklich »politisch« wird, soll dies bitte niemand allzu ernst nehmen. Die Entscheidung, die documenta fifteen auf eine bestimmte Art kuratieren zu lassen, wurde vorab von denen, die sie getroffen hatten, als »high-risk move« selbstbelobigt. [1. documenta fifteen, Handbook, 2022.] Wenn sich das Risiko aber politisch verwirklicht und, ob zu Recht oder nicht, öffentliche Empörung laut wird, schmollt der Kunstbetrieb und zieht sich auf seine politisch wertfreie Kunstfreiheit zurück. Dass im Wort »Wertfreiheit« von Freiheit die Rede ist, wird selten wahrgenommen, [1. Aber doch bemerkt bei Andreas Urs Sommer, Werte.] vielleicht weil der Versuch, zwischen Beschreibung und Bewertung zu trennen, als Befreiung wie als Beengung empfunden werden kann. Entsprechend wird sich auch die Kunst bald wieder in eine formalistische, vulgo wertfreie Kurve legen, die – zwar nicht unpolitisch – sich doch klare politische Implikationen etwas stärker vom Leib halten wird.

Für den amerikanischen Pragmatismus war die Aufweichung der Unterscheidung zwischen Fakten und Werten die Befreiung aus einer begrifflichen Zwangsjacke. In Richard Rortys Texten spürt man diesen Geist. Das hängt auch damit zusammen, dass es dort mehr um das Lösen von Problemen geht als um die Bewertung von Praktiken. Werte sind hier keine Hypothek, sondern ein Gesichtspunkt, der den Entscheidungsrahmen bereichert, dessen Öffnung allen praktisch hilft und der an die affektive Seite einer Entscheidung anknüpfen kann. [1. Durchmodelliert wurde das von Hans Joas, dessen differenzierte Werttheorien aber sehr wenig mit dem dominanten Begriffsgebrauch zu tun haben.] Es gehört zu den traurigen Ironien der Theoriegeschichte, dass in dieser Befreiung vom vermeintlich Faktischen nicht nur ein immenses emanzipatorisches Potential liegt, sondern auch der Kern der Realitätsverleugnung, die nur noch sehen kann, was sie sehen will. Der Weg vom pragmatistischen Kollaps der Unterscheidung zwischen Fakten und Werten zu den »alternative facts« der Trump-Präsidentschaft ist kürzer, als zu wünschen wäre. [1. Hilary Putnam, The Collapse of the Fact /Value Dichotomy and Other Essays. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2004.]

Von der Politik des Exportwerts zur Politik des Werteexports

Die neueste Renaissance des Wertbegriffs richtet sich nach außen. Unter einer »wertegebundenen Außenpolitik« versteht die neue Bundesregierung eine entschlossene Verteidigung »unsere[r] Werte« im »internationalen Systemwettstreit« und zwar gemeinsam mit anderen »Wertepartnern«. [1. Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag 2021–2025 vom 24. November 2021.] Diese Festlegungen stehen im Koalitionsvertrag, wurden also vor dem russischen Überfall auf die Ukraine festgeschrieben. Die Frage, um welche Werte es geht, wird mit dem Hinweis auf die eigene politische Gemeinschaft beantwortet. Die Werte, um die es geht, sind »unsere Werte«.

Dass sich die deutsche Außenpolitik zuvor mit erstaunlicher Konsequenz am Wert des Handelsbilanzüberschusses orientierte, ist belegt. [1. Jan-Werner Müller, Germany Inc. In: London Review of Books vom 26. Mai 2022.] Im Kern schafft die wertegebundene Außenpolitik aber gerade keine Moralisierung, sondern in zweierlei Hinsicht eine Politisierung der deutschen Außenpolitik. Zum Ersten sind die zu verteidigenden Werte eben deswegen Werte, weil sie die »Unseren« sind. Sie entstehen durch nackten Verweis auf die eigene politische Gemeinschaft. Zum Zweiten folgt diese Umstellung aus einem Primat der Sicherheit, keiner moralischen, sondern einer genuin politischen Kategorie. [1. Ganz deutlich in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 27. Februar 2022 (www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356).] Die Umsteuerung der deutschen Außenpolitik ist nicht der Einsicht in den normativen Mangel geschuldet, sich mit Diktaturen einzulassen, sondern der praktischen Erkenntnis, dass dies politisch gefährlich sein kann. Völlig konsequent bestreitet die Bundesaußenministerin daher die Unterscheidbarkeit von Werten und Interessen, die sich beide, so ausdrücklich formuliert, als Koalition von Amnesty International und BDI gemeinsam verwirklichen lassen. [1. »Werte und Interessen sind kein Gegensatz; diese Unterscheidung führt in eine Sackgasse. Als sozial-ökologische Marktwirtschaft werden wir unsere Wirtschaftsinteressen nur erfolgreich vertreten, wenn wir zugleich die Werte eines fairen Marktzugangs und eines fairen Umgangs mit Arbeitnehmerinnen verteidigen. Wenn wir anderen Akteuren erlauben, sich nicht an Regeln und Standards zu halten, hat die deutsche Wirtschaft einen schweren Wettbewerbsnachteil […] Darum drängt heute auch der Bundesverband der Deutschen Industrie, der bisher nicht immer mit Amnesty International einer Meinung war, darauf, dass wir eine China-Politik überdenken müssen, die alles scheinbaren kurzfristigen Handelsvorteilen unterordnet.« Interview mit Bundesaußenministerin Baerbock mit der Zeit vom 22. Dezember 2021 (www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2502928).] Beider Verhältnis lässt sich damit einfach rekonstruieren. Werte erweisen sich als die besseren Mittel, um die eigenen Interessen zu verfolgen.

Gegen diese Einsicht ist nichts einzuwenden. Nur wozu der Umweg um den Wertbegriff gebraucht wird, ist offen. Der Fehler der deutschen Außenpolitik lag nicht in einer falschen normativen Präferenz für billige Energie aus politisch zweifelhaften Quellen. Energie beziehen wir weiterhin aus solchen, namentlich den Golf-Staaten. Wir kaufen nicht nur bei »Wertepartnern«. Der Fehler lag in der falschen Einschätzung, wie politisch riskant es sein kann, vom billigsten Anbieter zu beziehen. Es geht um Selbsterhaltung, nicht um Werte, es sei denn man ernennt Selbsterhaltung zum obersten Wert, um so die Leere des Wertbegriffs offensichtlich werden zu lassen.

Die Umstellung fort von einer politisch diversen Weltordnung, die aus Demokratien, Diktaturen und allerlei dazwischen besteht, in der sich alle durch Formelkompromisse, technische Unterstützung und Handel vernetzen, hin zu einer Weltordnung, die sich vollständig in politische Blöcke spaltet, birgt dabei große Gefahren. Strukturell entspricht diese globale Entwicklung im Bereich der internationalen Beziehungen dem, was innenpolitisch als »Polarisierung« beklagt wird. Dass die Koalition und dort wiederum maßgeblich die Grünen das Problem, an dem ein Land wie die Bundesrepublik wenig ändern kann, früher kommen sahen, spricht für sie. Ist es aber Ausdruck einer Wertbindung?

Damit bleibt einmal mehr die Frage, was aus dem Bezug auf Werte eigentlich folgt. Wenn Bundeskanzler Scholz in seiner historischen Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag zur »Zeitenwende« am 27. Februar 2022 über die Ukraine sagt: »Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie, für Werte, die wir mit ihnen teilen«, so zeigt sich auch hier die Crux des Wertbegriffs. Die Herleitung ihrer Geltung geschieht durch den kontingenten Hinweis auf die eigene Verfasstheit. Ihre Werte sind richtig, weil es unsere sind. Dass »sie« für diese Werte kämpfen, kann im Wertbegriff aber schon deswegen nicht enthalten sein, weil »wir« »ihre« Werte »teilen«, ohne ebenso für sie zu kämpfen. Die Gemeinsamkeit des »uns« beschränkt sich auf den Inhalt und endet bei den Konsequenzen. Man kann es lassen, für sie zu kämpfen, und sich auf das Bekenntnis beschränken. Wie heißt es in einem dem russischen Schriftsteller Viktor Jerofejew nachgesagten Bonmot: »Ukrainer sind Europäer, die bereit sind, für europäische Werte zu sterben.« Wiederum liegt das Problem nicht in fehlender Kampfbereitschaft, sondern darin, dieses Fehlen mit der Wertsemantik unsichtbar zu machen.

Der geldwerte Kampf für den europäischen Rechtsstaat

Trotzdem dienen Werte heute als die normative Form, mit deren Hilfe liberale Gesellschaften sich vor sich selbst und anderen schützen können. [1. Positiv Armin von Bogdandy, Strukturwandel des öffentlichen Rechts. Berlin: Suhrkamp 2022; skeptisch Frank Schorkopf, Der Wertekonstitutionalismus der Europäischen Union. In: Juristen-Zeitung vom 22. Mai 2020.] Ganz deutlich wird dies in den Europäischen Verträgen: Art. 2 des Vertrags über die EU liefert der Union eine umständlich ausformulierte Wertegarantie. Maßgeblich mithilfe dieser Norm wird heute die Auseinandersetzung der Union mit den politisch abtrünnigen Mitgliedstaaten Polen und Ungarn geführt. Auch hier ist der Übergang von Politik zu Recht zu Geld bemerkenswert. In den Verträgen können »Verstöße« gegen diese Werte nur politisch festgestellt werden, der Europäische Gerichtshof ist ausdrücklich von einem solchen Wert-Urteil ausgeschlossen. Seit der Wahl Orbáns 2010 sind die Regierungen der Mitgliedstaaten aber nicht in der Lage, über einen der Ihren ein solches Urteil im Konsens zu fällen. Nun behelfen sie sich mit einem Umweg, auf dem Geldwert und Moralwert fließend ineinander übergehen. Mit der sogenannten Konditionalitäts-Verordnung wird rechtsstaatliches Verhalten eines Mitgliedstaats zur Bedingung für dessen finanzielle Unterstützung durch die EU.

Das Argument ist stracks: Nur dort, wo der Rechtsstaat funktioniert, ist auch sichergestellt, dass die Verausgabung von Mitteln der EU unabhängig kontrolliert werden kann. Der operative Kern der europäischen Werteordnung liegt in der korrekten Verwendung von Beihilfen. Das Herz der Wertedurchsetzung ist geldwerter Natur. Der Umstand, dass es diesen Ländern darum geht, die Demokratie abzuschaffen, kann und soll von der EU nicht ausgesprochen werden. Das ist nur konsequent. Hatte der milde Umgang der Bundesrepublik gerade mit Ungarn etwas mit wirtschaftlichen Vorteilen zu tun, so wird der strenge Umgang der EU nun ausschließlich mit deren fiskalischen Interessen gerechtfertigt.

Welche sind unsere Werte?

Werte sind Normen, die angerufen werden, ohne dass ihre Rechtfertigung, ihre Herkunft oder ihre Konsequenzen geklärt wären. Sie entbehren der Begründung, die eine auf Rationalität setzende Normbegründung verlangen würde, ebenso wie der Verantwortlichkeit, deren eine autoritative Normsetzung bedürfte. Dass wir alle begründungsmüde und verantwortungsavers sprechen und handeln und daher auf solche normativen Kürzel angewiesen bleiben, könnte es nahelegen, sich über den Gebrauch von Werten nicht weiter aufzuregen. So ist es.

Zugleich macht diese Entspanntheit aber aus Denkfaulheit und Verantwortungsflucht keine brauchbaren Eigenschaften. Sie bleiben die schwer vermeidbaren Mängel, die den Wertediskurs im Ganzen charakterisieren. Ein Versprechen der Werte scheint darin zu liegen, dass man aus ihnen Konkreteres herleiten kann: »Von Werten zu Prinzipien zu Regeln«. Nur stellen sich die interessanten Fragen immer erst unterhalb der Wertebene, und mit diesen beginnt der politische Streit. Der aber dreht sich nie um einen Wert, sondern immer um seine Bedeutung. Auch wer es zulässt, Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken zu lassen, wird deswegen nicht politisch gegen den Wert des Lebens eintreten. Und umgekehrt kann man mit den Werten »Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit« politisch alles Mögliche begründen. Wenn dies die Grundwerte der CDU sind, dann steht ihre Unterscheidbarkeit von der SPD nicht auf diesem Wertefundament.

Wann und wie aber werden Werte »unsere«? Der Hinweis ist zugleich identitätsbezogen und identitätslos. Denn einerseits ist der Hinweis auf »uns« einer, der für sich gar nichts rechtfertigt. Auf der anderen Seite wird er mit Gehalten wie dem »demokratischen Rechtsstaat« oder der »Menschenwürde« gefüllt, die »wir« als Deutsche hoffentlich mit ein paar anderen Staaten teilen. Hier geht es also gar nicht um »unsere« Werte, sondern um Werte mit einem universalen Anspruch. Das fällt auf, weil die liberale Demokratie jedenfalls für den Westteil der Bunderepublik ein Import der Nachkriegsepoche ist. Dessen Werte waren lange Zeit die Werte der anderen. Zugleich waren viele der Werte, die wirklich spezifisch bundesdeutsch wurden, in dem Westen, zu dem wir uns zählen wollten, selten: eine militäraverse Grundhaltung, die zwar zeitweise überwunden, frisch durch das Debakel des Afghanistan-Einsatzes bestätigt wurde; eine besondere Sensibilität gegenüber dem Antisemitismus, die unter Druck steht, weil Antisemitismus und der politische Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs gleichzeitig zunehmen; das auch für die EU konstitutive Vertrauen in eine Politik des Außenhandels als Mittel internationaler Politik; das Ideal einer Soft Power, die mit Geld und Vernunft operiert oder der Glaube an eine »special relationship« zu Russland.

Diese Werte, was auch immer man von ihnen hält, unterschieden die Bundesrepublik von anderen liberalen Demokratien, namentlich von solchen mit einer erfreulicheren politischen und militärischen Geschichte. Dass sie jetzt nicht mehr gelten, sollte die Rede von »unseren Werten« irritieren.