Heft 896, Januar 2024

Freie Fahrt für freie Volksgenossen

von Leon Birck

Bis zum Horizont nur Straße, kein Auto. Auf der Autobahn Kinder, die mit ihren Rollschuhen freudig strahlend über den glatten Asphalt gleiten. In der Innenstadt tummeln sich Fußgänger und Fahrradfahrer auf den Straßen. Mancherorts traben Pferde über den Asphalt der Landstraßen und kutschieren fröhliche Familien in nahegelegene Ausflugslokale. Es ist ein romantisch-gemütlicher Platz, den die autofreien Sonntage im November und Dezember 1973 rund fünfzig Jahre später im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik eingenommen haben. Der Anlass war weniger erfreulich: Nach dem Beginn des Jom-Kippur-Kriegs am 6. Oktober 1973 hatten die OPEC-Staaten die Ölfördermenge reduziert und ein Embargo gegen die Unterstützer Israels verhängt. Der Ölpreis war in die Höhe geschnellt und sollte sich in der Zeit zwischen Oktober und Dezember 1973 vervierfachen.1 Im Wirtschaftswunderland war erstmals von der »Energiekrise« die Rede, mit den Fahrverboten wollte die Regierung Öl einsparen.

Als das erdöl- und gasreiche Russland 2022 die Ukraine angriff und die Energiepreise rasch stiegen, waren die geopolitischen Koinzidenzen greifbar. Nicht nur Greenpeace bemühte die kollektive Erinnerung und forderte sonntägliche Fahrverbote. Auch Markus Duesmann, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Audi, verwies in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung auf die Ölkrise und zog es in Betracht, sich fortan sonntags auf sein Rennrad statt in seinen Audi zu schwingen. Nur beiläufig ließ er sich mit den Worten wiedergeben, dass auch ein Tempolimit ein »hilfreiches Symbol« sein könnte, das in seiner Wirksamkeit von den während der Ölkrise angeordneten Fahrverboten jedoch übertroffen werde.2

Persönliche und kollektive Gedächtnisse sind selektiv. Dass die Brandt-Regierung neben den autofreien Sonntagen in der gleichen Verordnung mit Tempo 80 für Landstraßen und Tempo 100 für Autobahnen die weitreichendsten Geschwindigkeitsbegrenzungen in der Geschichte der Bundesrepublik anordnete, gehört wohl eher zur verdrängten Vergangenheit. Dabei wäre diese temporäre Beschränkung beinahe der Ausgangspunkt einer dauerhaften Geschwindigkeitsbegrenzung auf deutschen Autobahnen geworden, wollte die Bundesregierung doch angesichts eines Rückgangs der Zahl der Getöteten und Verletzten um 61 Prozent ein dauerhaftes Tempolimit einführen,3 das – als Kompromissangebot für die CDU /CSU – zwar nicht bei 100, aber immerhin bei 130 Stundenkilometern liegen sollte. Dass die Begrenzung nach 111 Tagen doch wieder ganz abgeschafft wurde, ist nicht nur, aber auch das Ergebnis einer geschickten Kampagne des ADAC. Als die Pläne für ein dauerhaftes Tempolimit im Februar 1974 an die Öffentlichkeit drangen, machte der Automobilclub erfolgreich dagegen mobil. Unter anderem verteilte er eine Million Aufkleber mit dem Slogan »Freie Bürger fordern freie Fahrt«. Die Resonanz war enorm. Die Autofahrer beklebten ihre Wagen, trugen die Unzufriedenheit mit den Plänen der Bundesregierung auf die Straßen und sicherten der Formel von der freien Fahrt auf diese Weise bis heute einen festen Platz am Stamm- und Kabinettstisch.

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