Rückbau der Gesellschaft
Bei der Suche nach Erklärungen für die gegenwärtige Polarisierung und Radikalisierung von Politik ist es verlockend, sich auf die Wählergruppen zu konzentrieren, die sich von den Volksparteien abgewendet haben und stattdessen nun populistische Positionen unterstützen. So wird seit einigen Jahren beispielsweise viel über die Nöte und Ängste der einfachen Angestellten, Arbeiter und kleinen Beamten geschrieben, die, bevor sie sich radikalisierten, treue Wähler der politischen Linken gewesen waren. Die Teile des Elektorats, die diesen Kursschwenk nicht mitgemacht haben und heute entweder für die modernisierten Überbleibsel der ehemaligen Volksparteien oder für deren Nachfolger, wie etwa Emmanuel Macrons République en Marche, stimmen, ziehen hingegen deutlich weniger Interesse auf sich. Das ist insofern kurios, als es sich dabei mehrheitlich um gut ausgebildete, international versierte, wirtschaftlich chancenreiche, ökologisch bewusste, oftmals junge, multikulturell eingestellte, urban lebende »liberale Eliten« handelt.(Der Essay ist im Aprilheft 2019, Merkur # 839, erschienen.)
Diese in der politikwissenschaftlichen Forschung als »soziokulturell Berufstätige« (»socio-cultural professionals«) bezeichnete Gruppe besitzt die Ausbildung, die (Perspektive auf die) finanziellen Mittel sowie das soziale Kapital, um politische Prozesse deutlich stärker in ihrem Sinne zu beeinflussen, als das den Wählergruppen möglich ist, die zu den Populisten abgewandert sind. Ihr Erscheinen, ihr Erstarken und ihr Einflussgewinn seit den Babyboomern der 1960er Jahre spiegelt die Radikalität des ökonomisch-kulturellen Wandels unserer Zeit mindestens genauso sehr wider wie das Auftreten seiner Verlierer und Opponenten in den populistischen Bewegungen. Umso wichtiger erscheint daher ein Fokus auf gerade diesen Teil des Wahlvolks – und auf den mit seinem Erstarken verbundenen politischen Wandel.