Nordirland – die Gegenwart des Terrors
Es war Samstag, 12. April 2009, es war windig, regnerisch und kalt. Ich stand am Rand, als sich am frühen Nachmittag eine irisch-republikanische Splittergruppe namens Republican Sinn Féin auf dem Friedhof der nordirischen Kleinstadt Lurgan versammelte, zum Gedenken an den Osteraufstand gegen die Briten von 1916. Als Hauptredner war Ruairí Ó Brádaigh gekommen. Ó Brádaigh lebte damals in Roscommon, einem beschaulichen Ort etwa drei Autostunden südwestlich von Lurgan in der Republik Irland. Der pensionierte Lehrer war gutgelaunt und erzählte mir von seinen Enkeln. In den 1960er Jahren war er Oberbefehlshaber der IRA gewesen, bis 1983 Präsident von Sinn Féin, bevor er von Gerry Adams abgelöst wurde. Es waren rund dreihundert Leute gekommen, um ihn zu hören. Auch Medienvertreter von Belfast Telegraph und Sunday Life waren da.(Der Essay ist im Aprilheft 2019, Merkur # 839, erschienen.)
1986 hatte sich Ó Brádaigh von Sinn Féin , dem politischen Arm der IRA, getrennt und die radikale RSF gegründet, die bis heute den Friedensprozess ablehnt. Vor ihm auf dem Friedhof stand 2009 eine Gruppe von Männern und Frauen in dunkelgrünen Uniformen. Ihre Gesichter waren verdeckt. Sie hörten auf Kommandos in irischer Sprache und waren mutmaßlich Mitglieder der Continuity IRA (CIRA), einer von den USA und Großbritannien als »terroristisch« eingestuften Organisation. Im März 2009 hatte die CIRA in der Nachbarstadt Craigavon den Polizisten Stephen Carroll erschossen: das dritte Opfer republikanischer Anschläge in nur zwei Tagen. Die Real IRA (RIRA) hatte sich zu den Morden an zwei britischen Soldaten zwei Tage zuvor bekannt. Das Gebiet um Lurgan und Craigavon gilt noch heute als Hochburg republikanischer Terrororganisationen. Als ein Vermummter das Podium bestieg und eine Stellungnahme der »IRA-Gefangenen in Maghaberry« verlas, applaudierte die Menschenmenge frenetisch. Es waren junge Frauen mit Kinderwägen darunter, Grundschüler in Celtic-Glasgow-Trikots, viele ältere Frauen, Männer mit Gehhilfen und Männer mittleren Alters mit Regenschirmen ihrer lokalen gälischen Sportvereinigungen. Die britische Regierung stuft die Terrorwarnstufe für Nordirland bis heute als »hoch« ein. Vor mir standen nun jene Personen, die dafür verantwortlich waren. Vor und nach dieser Gedenkveranstaltung ging man gemeinsam zum Tee.