In ihren Buchprospekten geben die Verlage häufig einen Verteilerschlüsssel an, nach dem die Händler die Kreise potentieller Leser vorsortieren können: etwa Ärzte, Lehrer und Richter werden als Interessenten empfohlen. Ich könnte mir denken, daß im Falle des neuen sozialpsychologischen Werkes von Alexander Mitscherlich (Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Piper 1963) etwa so verfahren worden ist. Aber zum ersten Mal ist mir bei der Lektüre dieses Buches in aller Naivität der Wunsch aufgestiegen, daß unser imaginierter Verteilerschlüssel etwas von der magischen Kraft eines Zauberschlüssels haben möge. Nicht zufällig bemächtigt sich des Lesers, der den Ernst der verhandelten Sache ermißt, ein Bedürfnis, das der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Verbreitung und kritische Aneignung eine therapeutische Wirksamkeit erlangen könnte; wenn sie doch die Schranken wenigstens porös machen könnte, die dem Geist der Epoche den Zutritt zu sich selbst versperren! Diesen Geist, der weithin unsere Schulen verwaltet, unsere Gerichtshöfe beirrt, unsere Krankenhäuser beherrscht, nennt Mitscherlich den Geist des in Unsichtbarkeit fast schon zurückgetretenen Vaters. In den Machtphantasien kleiner Angestellter hat er sich so festgesetzt wie in der besinnungslosen Praxis der Politiker, die mit Megatoten rechnen, als spielten sie Räuber und Gendarm. Er kehrt in der groben Idolatrie des starken Mannes ebenso wieder wie in den differenziertesten Rechtfertigungen der Gewalt − ihren Impuls gegeben haben muß: Diese Aufforderung hat nur oberflächlich mit dem zu tun, was Norman Mailer in seinem bekannten Aufsatz »Der Weiße Neger« gefordert hat. Für Mailer handelt es sich um den »hipster«, der in unserer von Konformismus und Atomkrieg bedrohten Welt eine Unsicherheit erlebt, die der traditionellen des Negers gleicht, und der etwa wie der Neger-Jazzmann die Welt herausfordert, ohne sich um ihre falschen Standards zu kümmern.
Zu Beginn der dreißiger Jahre konnten die groß angelegten Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung noch unter dem Titel »Autorität und Familie« zusammengefaßt werden; noch vor einer Generation also hatten sich die gesellschaftlichen Strukturen nicht grundsätzlich geändert im Vergleich zu den Verhältnissen um die Jahrhundertwende, unter denen die Patienten Sigmund Freuds aufgewachsen waren und ihre Konflikte ausgebildet und ausgetragen hatten. Die Autorität des Vaters war bis dahin in den bürgerlichen Kleinfamilien nicht erschüttert; diese durften nach wie vor als Agenturen einer vorwiegend paternistischen Gesellschaft aufgefaßt werden. Sozialpsychologisch waren die Beziehungen von Befehl und Gehorsam auch in den außerfamilialen Bereichen, in der Berufssphäre und im politischen Leben, nach dem Vater-Sohn-Modell eingeübt. Heinrich Mann hat die spezifischen Züge der wilhelminischen Vatergesellschaft vor allem im Habitus der bürgerlichen Akademiker, im Schneid und in den Ängsten von Reserveoffizieren, Gymnasialprofessoren und Juristen festgehalten. Vom Konflikt der Söhne mit den Vätern lebte das ganze expressionistische Theater. Inzwischen muß gerade eine Sozialpsychologie, die von den Erfahrungen der Psychoanalyse belehrt ist, Wandlungen der Vater-Autorität, der gesellschaftlichen Autoritätsverhältnisse insgesamt feststellen. [WS, 24.09.2019] Mitscherlich faßt diesen Struktur-wandel mit dem eigentümlich dialek-tischen Begriff der »Vaterlosigkeit«.Er knüpft dabei an zwei Tatbeständean.Die Stellung des Vaters wird in dem-selben Maße, in dem der wachsenden