Montesquieu, bemerkte Friedrich Gundolf, »sucht Eigengesetze der Gesellschaft gegenüber dem König wie Bacon, Galilei, Newton Eigengesetze der Natur gegenüber Gott. Es ist zugleich eine Befreiung, Erweiterung und kopernikanische Umkehrung. Über den engen strengen Hof hinaus, wo der Wille, die Triebe und die Launen des Königs und seiner Günstlinge Gesetz waren, erscheinen jetzt die Stände mit ihren Rechten und Sitten, weiterhin die Nation mit ihrem Grund und Boden als Träger und Bedingnisse des Staates, der Gesetze, der Verfassungen.«
Die Sozialgeschichte war von Anfang an ein demokratisches Projekt. Zwar konnte der Entdeckung der langen Rhythmen des Volkslebens auch eine konservative Pointe gegen den hektischen Veränderungswillen intellektueller Eliten abgewonnen werden. Aber in der langen Dauer der Fachwissenschaft sind die Restauratoren des Ganzen Hauses von den Bautrupps der Parteileute des Fortschritts verdrängt worden. Die Demonstration des Primats der Gesellschaft verzeitlichte den Satz, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Die kopernikanische Wende, die vor einem Vierteljahrhundert unter dem Namen eines »Paradigmenwechsels« ausgerufen wurde, sollte der Beitrag der Geschichtswissenschaft zur Demokratisierung sein: Mehr Sozialgeschichte wagen. Der Reformeifer richtete sich mit Vorliebe auf die Geschichte des Kaiserreiches. Die Epoche, in der die Einführung der Demokratie versäumt worden war, sollte nun nicht nur im Licht demokratischer Ziele, sondern auch mit demokratischen Mitteln dargestellt werden. In dieser nachholenden Revolution schritt man mit der nötigen gedanklichen Konsequenz zur Vertreibung des Kaisers. Die neue Historie beschrieb einen Wilhelminismus ohne Wilhelm. Das Objekt der Kritik war nicht der Monarch, sondern der Untertan. Wo die Avantgarde der industriellen Welt auf die Nachhut der feudalen Gesellschaft trifft, haben der Wille, die Triebe und die Launen des Königs und seiner Günstlinge keine Chance. In einem einflußreichen Taschenbuch las man: »Nicht Wilhelm I. drückte der Reichspolitik seiner Zeit den Stempel auf, sondern die traditionellen Oligarchien taten das im Verein mit den anonymen Kräften der autoritären Polykratie.« Merkwürdigerweise setzten die kritischen Historiker mit ihrer Skepsis gegenüber der Realität des Persönlichen Regiments ihre unkritischen Vorgänger fort. Die Historikergeneration, die ihre erste Aufgabe in der Widerlegung der »Kriegsschuldlüge« sah, wollte die Reichspolitik als berechenbar erscheinen lassen; der unberechenbare Kaiser mußte ihr peinlich sein. Spuren dieser Konstellation kann man noch in heutigen Versuchen politikhistorischer Forschung wiederfinden, Gerechtigkeit für die Großväter walten zu lassen, aus ihrer Zeit verständlich zu machen, was unserer Zeit unerklärlich erscheint. Diplomatiehistoriker folgen der Schrittfolge des europäischen Balletts; der Kaiser tanzt aus der Reihe. Sie arbeiten im Archiv des Auswärtigen Amtes; über die Allerhöchsten Interventionen in den Geschäftsverlauf sind sie genauso irritiert wie die Beamten, die das Archiv angelegt haben.
Die amerikanische Historikerin Isabel Hull hat die Schwierigkeiten der Historiker mit dem Persönlichen Regiment auf den verborgenen Rationalismus der Geschichtswissenschaft zurückgeführt (Isabel Hull, » Persönliches Regiment«. In: John C. G. Röhl (Hrsg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte. München: Oldenbourg 1991). Der Realität unterschiebe die Disziplin ihre eigenen Ideale der Rationalität, Systematik und Universalität. Alles Persönliche erscheine ihr als irrational, kontingent und partikular. Politikgeschichte und Sozialgeschichte sind beide anfällig für die rationalistische Versuchung. Der official mind, das Ensemble unausgesprochener Annahmen der Staatsmänner und Bürokraten, läßt sich nur rekonstruieren, wenn man ihm wenigstens innere Rationalität zugesteht, die Schlüssigkeit einer durchgehaltenen Wahrnehmung. Der Historiker der großen Mächte bringt Staatskunst und Systemzwang ins Gleichgewicht; Dilettantismus und Chaos lassen sich nicht balancieren. Der Staatsbegriff der bürgerlichen Politikgeschichte stammt aus der Reformbürokratie und aus dem deutschen Idealismus (Gerrit Walther, Niebuhrs Forschung. Stuttgart: Franz Steiner 1993). Der Staat vereinigt im vernünftigen Handeln des Staatsmanns Allgemeines und Besonderes. Er ist transparente Ordnung des Rechts und technisches Instrument der Politik.