Hans Magnus Enzenberger im Merkur

Hans Magnus Enzensberger (1929-2022) war Essayist, Schriftsteller, Lyriker, Publizist und Übersetzer. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis (1963), dem Deutschen Kritikerpreis (1978) und dem Prinz-von Asturien-Preis (2002).
Hans Magnus Enzensberger hat unterschiedlichste Texte zu insgesamt 21 Ausgaben des Merkur beigetragen, wobei die meisten und zugleich wichtigsten in den Jahren von 1956 bis 1965 erschienen. Seinen Einstand im Heft gab der damals 27-Jährige mit vier kurzen Gedichten (Heft 103, September 1956). Nur ein halbes Jahr später folgte unter dem Titel „Dramaturgie der Entfremdung“ (Heft 109, März 1957) eine in gewöhnungsbedürftig anmaßendem Ton gehaltene, zugleich aber hochgradig reflektierte und informierte Polemik gegen den „Amüsierbetrieb“ und die „subventionierte Erbauung“ des zeitgenössischen deutschen Theaters. Unter Bezug auf Eugène Ionesco, Arthur Adamov und Samuel Beckett hielt Enzensberger nach Kriterien Ausschau, die eine dramatische Gegenwartsproduktion erfüllen müsste, um in emphatischem Sinne als zeitgemäß gelten zu können. In dieser poetologischen Positionsbestimmung tauchen bereits wesentliche Thesen des programmatischen Essays „Die Aporien der Avantgarde“ vom Mai 1962 auf, der bis heute in Seminaren zur Kunsttheorie der Moderne gelesen wird. Die Aufklärung über den Begriff der Avantgarde, die Enzensberger darin verspricht, erfolgt einerseits in der Absicht, die experimentelle Gegenwartskunst vor ihren Verfolgern und Verächtern in Schutz zu nehmen. Andererseits äußert er aber auch den Verdacht, der Anspruch des Avantgardistischen werde seitens des Kunstbetriebs mehr und mehr als Kritikimmunisierungsstrategie instrumentalisiert: „Manches spricht dafür, daß dieser Begriff heute zum Talisman geworden ist, der seine Träger gegen alle Einwände feien und ratlose Rezensenten einschüchtern soll.“ Ebenfalls nach wie vor lesenswert ist der im Augustheft 1958 erschienene und seither unzählige Male zitierte Essay „Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus.“ Enzensberger beklagt darin mit großer Emphase die Denunziation des Tourismus, die sich mit seiner Kritik verwechselt, um anschließend die modernen Touristen seinerseits pauschal zu Realitätsflüchtlingen zu erklären: „Je mehr sich die bu?rgerliche Gesellschaft schloß, desto angestrengter versuchte der Bu?rger, ihr als Tourist zu entkommen.“ Einmal ganz abgesehen davon, dass die allermeisten Anstrengungen, die seither unternommen wurden, das Phänomen des Tourismus theoretisch zu durchdringen, sich in denselben Schlingen verfangen haben, hebt sich Enzensbergers Essay schon durch seine stilistische Finesse vom üblichen Niveau dieses Genres deutlich ab. Nicht weniger bemerkenswert ist die Rekonstruktion des Gerichtsprozesses zum mysteriösen Tod der 19-jährigen Wilma Montesi im April 1953, der die italienische Öffentlichkeit über mehrere Jahre in Atem hielt, ohne dass der Kriminalfall hätte geklärt werden können: „Keinem der Angeklagten wurde ein Haar gekrümmt. Sie verließen den Gerichtssaal lächelnd.“ Enzensberger kombinierte in seiner spannenden Textmontage – sie erschien in zwei Teilen im Oktober und November 1960 – reportageartige Passagen, Gerichtsprotokolle und Presseberichte.
Zweite Lesung
Zweite Lesung: Hans Magnus Enzenberger
Michael Rutschky empfiehlt den Essay Vergebliche Brandung der Ferne, mit dem der junge Enzensberger 1958 für Furore sorgte. Ein Gespräch mit den Merkur-Herausgebern Christian Demand und Ekkehard Knörer.
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