Digitaler Unterricht ist eine Chance für gemeinsames Lernen

Nun ist die Entscheidung gefallen: Es bleibt für die meisten erst einmal beim home schooling. Dieser Testfall für den digitalen Unterricht ist eine Chance für den normalen, physischen Schulbetrieb. Denn was im Digitalen scheinbar fehlt, weist auf ein Defizit aktueller Unterrichtsmethoden hin: die soziale Komponente. Gerade Unterricht aus der Ferne setzt schulische Beziehungsarbeit und kollaborative Arbeitsformen wieder auf die Agenda. Voraussetzung dafür ist, dass digitale Möglichkeiten – und diese sind eben nicht nur ‚technisch‘ – tatsächlich ausgeschöpft werden. Mit welchen Funktionen wollen wir Lernplattformen bestücken, mit welchen Inhalten und Methoden wollen wir digitale Endgeräte in Schülerhand bespielen? Wie verändert sich die Unterrichtssituation, die ‚Inszenierung‘, die Interaktion im digitalen Unterricht? Welche Übungstypen und Arbeitsformen sind kognitive Hemmschuhe, welche Siebenmeilenstiefel?     

Das Bündnis von Konstruktivismus und digitaler Wissensvermittlung ist didaktisch fragwürdig und gegenwärtig unklug. Schon immer bestand ein Spannungsverhältnis zwischen Peter Frattons selbstorganisiertem Lerner und Jesper Juuls schulischer Beziehungsarbeit. So über­zeugt ich vom kognitiven und motivationalen Wert selbstorganisierten Lernens bin, so kritisch sehe ich die atomisierende Tendenz individueller Differenzierung. Solange diese Differenzie­rung zwischen Forderung und Förderung im sozialen Ort Schule ausgehandelt wird, besteht wenig Gefahr, dass der ideale ‚autonome Lerner‘ diese Aushandlung kappt. Wohl besteht sie durch den Transfer in die digitale Domäne.

Dezidiert ermöglicht digitales Unterrichten, ‚autonome Lerner/innen‘ mit kollektiven und in­teraktiven Prozessen zu koppeln. Dabei geht es darum, bestehende Lernergruppen im Digita­len kohärent zu halten, nachdem sie im physischen Unterricht geformt wurden. Vieles deutet darauf hin, dass die Mischung aus solitärer Arbeitssituation und Kollaboration via Medium digitale Sozialisation fördern kann. Insbesondere projektorientierte und fachübergreifende Arbeitsformen, die im physischen Unterricht aus den unterschiedlichsten Gründen nicht realisierbar sind, greifen in der digitalen Domäne. Außerdem birgt die digitale Wende die Chance, das in Verruf geratene Konzept ‚Wissen‘ im Zug von ‚Medienkompetenzen‘ neu zu justieren. Schließlich sind Gruppen von ‚autonomen Lerner/innen‘ schon deshalb im­perativ, weil sich nach drei Wochen home schooling abzeichnet, dass dieses in der Tat ausdif­ferenziert – die sozial Schwachen bleiben zurück. Und das ist nicht nur eine Frage fehlender technischer Ressourcen.

Den social divide mindern vermittels digitaler Methoden? In einem kürzlich geposteten Blog plädiert Robert Levine dafür, digitale Kanäle im schulischen Kontext gerade nicht für die Wis­sensvermittlung, sondern für die Beziehungsarbeit zu nutzen. Zunächst mutet das paradox an. Das Smartphone ist nicht einfach ein Tamagotchi, zu dem das Kind einen persönlichen Kontakt per se aufbaut. Sondern über das Smartphone wird der physische Umgang mit den peers wei­tergeführt, diskursiv gemacht, verhandelt und der nächste Tag vorbereitet. Soziale Kämpfe und Hierarchien können in die digitale Domäne ausgelagert werden. Rituelle Geschenke wer­den in Form von Likes und Emojis ausgetauscht. Zu Recht hat Jürgen Kaube jüngst moniert, die Behauptung, dass es sich bei Smartphones in Händen von Kindern um Instrumente der Wissensgesellschaft handele, sei abenteuerlich. Wohl sind sie Instrumente von Gruppen und von Sozialisation in Gruppen.

Kinder mit einem Paket Hausaufgaben an den heimischen Küchentisch zu schicken, kann nicht funktionieren. Selbstorganisiertes, ‚entkoppeltes‘ Lernen fordert auch Schülerinnen und Schü­ler, die diese Lernform seit der fünften Klasse trainieren und für die Infra­struktur vorhanden ist (pädagogisches Konzept, eingespieltes Kollegium, definierte Abfolge von Lernschritten, funktionierende Lernplattform, pro Kopf ein digitales Endgerät). Generell gilt: Taktung und Rhythmus sind wichtig. Digitaler Unterricht beginnt nicht um 7:30 Uhr und endet nicht um 13 Uhr. Aufmerksamkeitszyklen, Ideationen folgen bestimmten Dynamiken, die physisch und digital differieren. Im Digitalen müssen Bearbeitungszeiten kürzer und Auf­gabenreichweiten enger sein. Bei Aufgabenstellungen sollte man an die ermüdende Deutlich­keit von Gebrauchsanweisungen denken. Rückmeldungen müssen schnell erfolgen, da dies eine wichtige Gratifikationswährung ist und den Spannungsbogen aufrechterhält. Ebenso wichtig sind Gruppenerlebnisse und -erfolge, da dieser Modus über digitale Kanäle bereits eingeübt ist.  Wie im physischen Unterricht darf die Methode nicht den Inhalt konterkarieren (Lückentext zu Kants Kategorischem Imperativ), und das Wort Ausdifferenzierung sollten wir für den Moment vergessen. Der Gruppen-Tamagotchi muss zum Werkzeug gemeinsamen Ler­nens werden.

Für dieses Konzept reichen vorerst die Portfolios der ‚Großen‘, die in bestehenden Nut­zungsverträgen (Stichwort Microsoft) enthalten sind. Die einfachste Möglichkeit für das kolla­borative Arbeiten sind digitale Ablagen für Dateien mit Kommentarfunktion. So kann jede Schülerin sehen, was jeder Schüler geschrieben hat und was die Lehrperson dazu sagt. Video­konferenzen sind ein weiterer Klassiker, sie können mit dem Unterricht an einer digitalen Tafel verbunden werden. Sequenzen dieser Unterrichtsstunden lassen sich aufzeichnen und wieder abspielen; diese Aufzeichnungen sind lehrer- und schülerseitig annotierbar (‚Def. Argument­stütze‘ oder ‚Erdanziehungskraft‘).  Und die gemeinsame Arbeit an Dokumenten in Echtzeit ist ein geradezu unschätzbares Werkzeug, um gruppenbasiertes Wissen zu generieren. Die Dyna­mik eines spontanen ‚Draftathons‘, im Fach Ethik zur Triage als Neuversion alter Dilemmata etwa, greift.

Applikationen sind die Nische, in der sich deutsche start-ups positionieren. Insbesondere das Berliner Projekt Anton fällt durch leichten Zugang und innovative Umsetzung auf (die Einhei­ten zu Nebensätzen sollten überarbeitet werden). Das Problem vieler ‚Skinner-Apps‘ (Axel Krommer) besteht nicht im Stimulus-Response-Schema, sondern darin, dass Lösungsvarianten ohne Vorüberle­gung angeklickt werden können. Überspitzt gesagt prüfen diese Anwendungen Reaktions­schnelligkeit. Applikationen überzeugen dann, wenn sie in die Situation eingebettet und grup­penorientiert Wissensinhalte des Netzes nutzbar machen. Ein Beispiel dafür sind Apps aus dem Naturschutz, die für den Biologie-Unterricht angepasst werden könnten: Schülerinnen nehmen mit dem Smartphone Vogelstimmen auf, und die App bestimmt mittels Mustererken­nung die Art.

Und Projekte, fachübergreifender Unterricht? ‚Kann die Wissensbestände des Netzes nutzbar machen‘ steht als Kompetenz in jedem Rahmen- und Bildungsplan. Dies wird, überspitzt, mehr als Kritik der Quellen denn als Quellenkritik verstanden oder gleich als Suchtprophylaxe. Schü­lerinnen müssen zunächst eine Vorstellung von der Dimension des Wissens bekommen, das im Internet abgelegt und verlinkt ist. Und sie müssen erkennen, dass enzyklopädische Ord­nung, Objektivität und Glaubwürdigkeit Kategorien sind, die dieses Medium nicht kennt. Dafür eignen sich gemeinsam angelegte und kommentierte Linksammlungen. Die Gewichtungen bei verschiedenen Suchmaschinen können verglichen werden. Auf lange Sicht und in der Fläche ist eine SchülerInnen-Wikipedia wünschenswert, unter Administration und Begutachtung der peers. Wann, wenn nicht jetzt, könnte man ein solches Projekt beginnen?

Schließlich denke ich an eine Regionalgeschichte, eine Ausstellung ‚im Sitzen‘ mit Hilfe der Briefe des Großvaters auf dem Dachboden, mit Lautaufnahmen aus der Nachbarschaft, mit Interviews (Handwerker, Bürgermeisterinnen, Müllmänner), gern im Verbund mit ansässigen Museen.

In der gegenwärtigen Krise ist vieles virulent, aber wir sollten uns von digitaler Paranoia und nostalgischer Häresie gleichermaßen fernhalten. Wenn wir Werkzeuge von Google, Microsoft und Adobe gegenwärtig aus dem Rennen nehmen, bleiben kaum attraktive Optionen offen: de facto werden sie deshalb flächendeckend genutzt. Junge digital natives brauchen bedienerfreundliche und intuitive Nutzeroberflächen und Funktionspaletten. Ein weiteres Argument ist die Anschlussfähigkeit der Programme an verschiedene Betriebssysteme und Endgeräte in Schülerhand. Schließlich empfehle ich den Bastlern im Bildungsbetrieb einen virtuellen Rundgang durch die Ruinenlandschaft abgewi­ckelter EU- und DFG-Projekte; oft fehlt das Geld für einen Computer, der die Standards und Anwendungen weiter im Internet vorhielte. Digitalpakt zwei wird sich um den ‚Überbau‘ der nagelneuen Server und Endgeräte kümmern müssen – und damit meine ich didaktisches Konzept, eine länderübergreifende Lernplattform nach europäischen Datenschutzstandards sowie Lernsoftware, die soziales Lernen fördert.

Der Autor ist Lehrer an der Gemeinschaftsschule Rheintal, Küssaberg im Staatlichen Schulamtsbezirk Lörrach.