Merkur, Nr. 353, Oktober 1977

Die Bühne des Terrors
Ein Brief an Kurt Sontheimer

von Jürgen Habermas

 

Starnberg, 19. 9.1977

Lieber Herr Sontheimer,

mich hat das denunziatorische Wort »Scheißliberaler« stets, auch bevor es auf mich selber angewandt wurde, irritiert. Es war verräterisch für diejenigen, die es im Munde geführt haben. Denn damit wurde das historische Erbe bürgerlicher Emanzipationsbewegungen verleugnet, ohne welches auch ein Sozialismus in entwickelten Gesellschaften von Anbeginn verstümmelt wäre.

Andererseits muß ich gestehen, daß mir der Terminus wieder in den Sinn kommt, wenn ich in unserer akademischen Umgebung die traurige Dekomposition des liberalen Geistes beobachte: auf der einen Seite die Neigung zu einem moralisierenden »Linksradikalismus«, der sich gerade unter politisch ahnungslosen und anpassungsbereiten Liberalen findet; auf der anderen Seite das Ressentiment der umgefallenen, in Militanz und Verschwörungstheorien flüchtenden Liberalen, für die überraschenderweise auch Sie ein Beispiel zu geben sich anschicken. Es entsteht jetzt ein eigentümlicher Typus auf deutschen Hochschulen: der Renegat der Mitte.

Das sind die Worte, mit denen ich 1970 die Antwort auf einen FAZ-Artikel unseres Kollegen Topitsch begonnen habe. Damals konnte ich mich noch auf Sie berufen. Sie hatten kurz zuvor die Diagnose gestellt, daß unserer Demokratie Gefahren eher aus einem wiedererstarkenden Nationalismus erwachsen würden. Inzwischen haben Sie Ihre Einschätzung revidiert; Sie haben eine größere Gefahrenquelle entdeckt — die linke Theorie. Wie behende Sie Ihre Arbeit auf die Tendenzwende umgepolt haben, hat mich zwar überrascht; aber das war Ihr gutes Recht. Und mein gutes Recht war es, diese Tendenzliteratur, die sich da ausgebreitet hat, als ein intellektuell unerhebliches Reaktionsphänomen beiseite zu lassen.

Wenn mir von diesen vielfältigen Produktionen nichts Wesentliches entgangen ist, gibt es darin keine neuen Argumente, sondern nur die alten in etwas schrillerer Tonlage, und unterhalb des Niveaus, auf dem in unseren Breiten solche Diskussionen noch vor ein, zwei Generationen (zwischen Leo Strauss, Carl Schmitt, Eric Voegelin, Arnold Gehlen, T. W. Adorno, Georg Lukacs, Helmuth Plessner, Ernst Bloch usw.) ausgetragen worden sind. Ich klage nicht über die Ärmlichkeit der heutigen Pamphlete, nicht über Sterilität und Lustlosigkeit eines geistigen Klimas, an dem wir alle teilhaben; es ist nur nützlich, gewisse Proportionen im Blick zu halten.

Nun hat sich aber die Szene, die so wenig dazu reizt, sich einzumischen, durch den Schock der jüngsten Terroranschläge verwandelt. Ein Aspekt dieser Veränderung, nicht der wichtigste, ist der, daß Leute wie Sie, Herr Sontheimer, nicht mehr nur Tendenzliteratur schreiben, sondern ihr eine praktische Wendung ins Gesinnungsstrafrecht geben. Erstens erklären Sie, daß Bürgerkrieg herrsche, zweitens bringen Sie die »linke Theorie« in einen kausalen Zusammenhang mit dem Terrorismus; und drittens legen Sie durch den Kontext, in dem Sie diese Äußerungen tun, die Interpretation nahe, daß Sie nicht länger davor zurückschrecken würden, gegen linke Theoretiker den Artikel 18 des Grundgesetzes anzuwenden. Herr Wenger hat Ihre Anregungen gestern in Höfers Frühschoppenrunde aufgegriffen und dahingehend operationalisiert, daß man auf dieser Rechtsgrundlage jene Professoren, die den ungekürzten Text des umstrittenen Buback-Nachrufes einer breiteren Öffentlichkeit erst zugänglich gemacht haben, aus ihrem Amte entfernen solle. Er vermisse seit acht Jahren, daß man von Artikel 18 in dieser Weise Gebrauch mache.

Bevor ich Ihr Interview, das Sie am 11. 9. dem Zweiten Deutschen Fernsehen gegeben haben, im einzelnen zitiere, möchte ich Ihre Äußerungen ein wenig in die Perspektive der innenpolitischen Entwicklung einrücken. Sie erinnern sich an die Rede, mit der Herr Dregger im Februar 1974 die Verfassungsdebatte aus Anlaß der 25. Wiederkehr des Inkrafttretens unseres Grundgesetzes eröffnet hat. Die einäugige Situationsdefinition, die Dregger damals gegeben hat, ist heute fast allgemein akzeptiert. Dregger geht von einer richtigen Feststellung aus: Die Bundesrepublik ist zwar nach Maßstäben der Liberalität, des Wohlstandes und der sozialen Sicherheit der beste Staat, den es auf deutschem Boden je gab, aber in der Bevölkerung mehren sich die Anzeichen für einen politischen Vertrauensschwund.

Dregger gibt eine einfache Erklärung: Das habe nicht in erster Linie ökonomische Gründe, sondern »geistig-politische«. Die Linke habe den bisher bestehenden Grundkonsens der Verfassungsparteien aufgekündigt: »Verunsichert werden (die Menschen draußen im Lande) durch den Wortradikalismus der Systemveränderer, der hier und da in Gewalt umschlägt, durch die revolutionäre Situation an einigen Universitäten, durch die Umfunktionierung mancher Schulen, durch den Abbau bisher für sicher gehaltener Wertvorstellungen und Institutionen . . . Die Folge ist ein breiter Vertrauensschwund…«

Noch simpler ist Herrn Dreggers Vorschlag zur Therapie. Am besten würde jedermann auf das, was er und seine nationalkonservativen Freunde für den Grundkonsens halten, eingeschworen.

(…)

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