Merkur, Nr. 293, September 1972

Zwischen Kunst und Politik
Eine Auseinandersetzung mit Walter Benjamin

von Jürgen Habermas

Was Aktualität sei, pflegte Walter Benjamin anhand der talmudischen Legende zu erläutern, derzufolge »die Engel — neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen — geschaffen (sind), um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhören und in Nichts zu vergehen«. Dieses Wort ist keine Empfehlung, die Geschichte als ein wirkungsgeschichtliches Kontinuum aufzufassen. Ihm entspricht eine zutiefst antievolutionistische Geschichtskonzeption.

Rettender Eingriff in die Vergangenheit

Das Kontinuum der Geschichte besteht für Benjamin in der Permanenz des Unerträglichen; Fortschritt ist die ewige Wiederkehr der Katastrophe: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren«, heißt es in einem Entwurf zur Baudelaire-Arbeit; »daß >es so weiter geht<, ist die Katastrophe«. Darum muß sich »die Rettung an den kleinen Sprung in der Katastrophe« halten (A. S. Bd. 1, S. 260). Der Begriff einer Gegenwart, in der die Zeit anhält und zum Stillstand kommt, gehört zu Benjamins ältesten Einsichten.

In den geschichts-philosophischen Thesen, kurz vor seinem Tode, steht der zentrale Satz: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von >Jetztzeit< erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte.« (A. S. Bd. 1, S. 276). Eine der frühesten Abhandlungen, die über »Das Leben der Studenten«, beginnt im gleichen Sinne: »Es gibt eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des Fortschritts dahinrollen … Die folgende Betrachtung geht dagegen auf einen bestimmten Zustand, in dem die Historie als in einem Brennpunkt gesammelt ruht, wie von jeher in den utopischen Bildern der Denker. Die Elemente des Endzustandes liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenzen zutage, sondern sind als gefährdete, verrufene und verlachte Schöpfungen und Gedanken in jeder Gegenwart eingebettet« (ebd., S. 9).

Gewiß hat sich seit der Ideenlehre des Trauerspielbuchs die Interpretation des rettenden Eingriffs in die Vergangenheit verschoben. Der retrospektiv gewendete Blick sollte damals das gerettete Phänomen, indem es dem Werden und Vergehen entspringt, ins Gehege der Ideenwelt einsammeln: mit dem Eintritt in die Sphäre des Ewigen streift das ursprüngliche Ereignis seine virtuell gewordene Vor- und Nachgeschichte wie ein naturhistorisches Gewand ab (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 28—33). Diese Konstellation von Naturgeschichte und Ewigkeit weicht später der Konstellation von Geschichte und Jetztzeit: den Ort des Ursprungs nimmt die messianische Stillstellung des Geschehens ein. Der Feind jedoch, von dem, wenn die rettende Kritik ausbleibt und Vergessen Platz greift, die Toten so bedroht sind wie die Lebendigen, der Feind ist derselbe geblieben, nämlich die Herrschaft des mythischen Schicksals.

Der Mythos zeichnet ein seiner Bestimmung zum guten und gerechten Leben hoffnungslos depraviertes Menschengeschlecht, das in den Kreislauf der Reproduktion des bloßen Lebens und Überlebens gebannt ist. [1. In diesem Sinne konzipieren aufgeklärte Wissenschaften wie Systemtheorie und verhaltenswissenschaftliche Psychologie den Menschen als »mythisches« Wesen.] Dieses mythische Schicksal kann immer nur für einen hinfälligen Moment stillgelegt werden. Die Bruchstücke der Erfahrung, die in solchen Momenten dem Schicksal, dem Kontinuum der leeren Zeit für die Aktualität der Jetztzeit abgerungen werden, bilden den Bestand der permanent gefährdeten Tradition; zu ihr gehört die Geschichte der Kunst.

In diesem Zusammenhang steht auch Benjamins großer und nur in Bruchstücken ausgeführter Plan einer Urgeschichte der Moderne. Baudelaire ist für ihn zentral geworden, weil dessen Dichtung »das Neue am Immerwiedergleichen und das Immerwiedergleiche am Neuen« in Erscheinung bringt (Zentralpark, A.S. Bd. I, S. 482). Benjamins Kritik entdeckt in der von den Produktivkräften angetriebenen Modernisierung der Lebensformen den unterm Kapitalismus sich gleichwohl durchsetzenden mythischen Wiederholungszwang — das Immerwiedergleiche am Neuen. Aber indem sie das tut, zielt diese Kritik (und das unterscheidet sie von Ideologiekritik) auf die Bettung einer mit Jetztzeit geladenen Vergangenheit; sie vergewissert sich der Momente, in denen die künstlerische Sensibilität dem als Fortschritt drapierten Schicksal Einhalt gebietet und die utopische Erfahrung im dialektischen Bild verschlüsselt — das Neue am Immerwiedergleichen.

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