Merkur, Nr. 454, Dezember 1986

Der Alltag, die Allegorie und die Avantgarde. Bemerkungen mit Rücksicht auf Joseph Beuys

von Peter Bürger

 

Aporien des Entweder-Oder

Universalisierung des Zitats, Allegorie ohne Verweisung, Verselbständigung des Signifikanten, Aufgehen der Kunst im total ästhetisierten Alltag – all diese Versuche der Bestimmung der Postmoderne haben eins gemein: sie behaupten die Einebnung von Oppositionen, die für die Moderne Geltung hatten. Der Vorgang ist nicht mit dem zu verwechseln, der in der Dialektik »Aufhebung« heißt. Die Gegensätze werden nicht in einem Dritten »aufgehoben«, sondern sie werden dadurch zum Verschwinden gebracht, daß der eine der beiden Terme ausfällt. Wenn das Zitat nicht mehr eine abgrenzbare Übernahme aus einem andern Werk bezeichnet, sondern als vage Anlehnung an Themen oder Techniken eines Autors oder gar einer Epoche das Bild bzw. den Text als ganzen bestimmt, dann verschwindet der Gegensatz zwischen Text und Zitat. Das Bild ist Zitat; aber es zitiert nicht mehr etwas Bestimmtes, denn um dies zu tun, müßte es einen Kontext aufbauen, gegen den das Zitierte sich abhebt. Die Allegorie, die einzelne Elemente nicht nach dem Prinzip der Organizität verknüpft wie das Symbol, sondern nach dem Prinzip der Bedeutung, ist für die Ästhetik der Moderne wichtig geworden, weil sie dem Künstler ermöglichte, aus dem Bann der idealistischen Ästhetik herauszutreten, die Form und Inhalt nach dem metaphysischen Schema des Subjekt-Objekt zu erfahren nötigt. Wenn nun im Zeichen der Postmoderne die Bedeutung, die die Teile verknüpft, nicht nur gelockert, sondern aufgekündigt wird, dann bleibt von der Allegorie nur ein Trümmerhaufen unverbundener Zeichen zurück. Und wenn der Signifikant nicht mehr mit einem Signifikat gekoppelt ist, dann tritt an die Stelle der Referenz der Lauf durch die unendliche Kette von Zeichen. Wo schließlich die Kunst im ästhetisierten Alltag aufgeht, ist sie als besondere nicht mehr ausmachbar.

Soweit der skizzierte Postmoderne-Diskurs theoretischen Anspruch erhebt, unterliegt er immanenter Kritik. Von Theorien erwarten wir, daß sie ihre eigene Möglichkeit entweder systematisch oder historisch abzuleiten vermögen. Der Postmoderne-Diskurs ist dazu nicht in der Lage. Wie die programmatische Zeichnung Francesco dementes, die das Zerbrechen des Zeichens behauptet, nur verstanden werden kann, wenn man ein intaktes Zeichensystem unterstellt, so bedient sich die postmoderne Rede von der Verselbständigung des Signifikanten sehr wohl eines Zeichensystems, das den Gegensatz von Signifikant und Signifikat kennt. Nicht nur vermag der Postmoderne-Diskurs den Ort seines Sprechens nicht anzugeben, er demonstriert geradezu seine eigene Unmöglichkeit.[1. Das gilt auch für Jean Baudrillards These vom Verschwinden des Gegensatzes von Schein und Wesen zugunsten einer Universalisierung des Simulacrum (Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes & Seitz 1982). Baudrillards eigene Reflexion setzt eben jene Ebene voraus, die nicht Schein wäre und deren Verschwinden er behauptet.]

Nun sollte man annehmen, daß ein Diskurs, den die immanente Kritik der Bodenlosigkeit überführt, damit erledigt ist. Das ist aber nicht der Fall; die Faszination des postmodernen Diskurses dauert an. Er muß seine Evidenz also aus andern Quellen ziehen als aus der Widerspruchsfreiheit seiner Argumentation. Es liegt nahe, hier an die Katastrophe zu denken, die den weltgeschichtlichen Horizont der Gegenwart verdüstert. Wo das Fortbestehen menschlichen Lebens in Frage gestellt ist, wird auch die Sinnkategorie fragwürdig. Sicherlich läßt sich von hier aus nicht ohne weiteres auf den Zusammenbruch des Zeichensystems schließen; wohl aber wird der Erfahrungskontext eines Denkens erkennbar, das angesichts des Unausdenklichen nicht mehr bereit ist, sich dem Zwang des rationalen Arguments zu beugen.

Dergleichen Überlegungen können zweierlei verständlich machen: zum einen die Faszination, die von diesem Denken ausgeht, zum andern das weitgehende Unverständnis, das zwischen postmodernen Denkern und ihren Kritikern herrscht. Die Folgerungen, die sich daraus ableiten lassen, betreffen die Grenzen rationaler Argumentation, aber auch die Grenzen eines Denkens, das alles in den Bannkreis der Katastrophe rückt. Nachdem man die durch die geschichtliche Situation bedingte Schwächung des rationalen Arguments sich eingestanden hat, wird man zu ihm zurückkehren, weil nur mit seiner Hilfe eine Aufhellung der Situation möglich scheint.

Begreift man das postmoderne Denken nicht als stringente Theorie, sondern als Ausdruck einer epochalen Befindlichkeit, dann ist es als solches ernst zu nehmen. Das bedeutet nicht, daß man es in der Fülle seiner disparaten Erscheinungsformen akzeptiert, vielmehr lassen sich diesen gegenüber durchaus unterschiedliche Positionen beziehen:

  1. Die wohl einfachste ist der fröhliche Hedonismus des »anything goes«, der gerade im Bereich des Ästhetischen die Kraft des Faktischen für sich hat. Das Nebeneinander verschiedener künstlerischer Richtungen erscheint dann als legitimer Pluralismus, aus dem jeder sich das Seine heraussuchen kann, das Durcheinander von Zitaten aus den unterschiedlichsten Kontexten in einem Werk vereint als ironisches Spiel mit der Tradition.
  2. Wem die einfache Zustimmung zur postmodernen Befindlichkeit suspekt ist, die das Verschiedene als Gleichgültiges behandelt, indem sie es auf einer einzigen Oberfläche ausbreitet, der kann mit dem Nietzsche-Gestus des radikalen Bruchs eine subtilere Form der Zustimmung finden. Er vermag so zunächst den falschen Reichtum postmoderner Vielfalt zu kritisieren, um dann mit einem (fiktiven) Sprung aus der Zeit einen Standpunkt des Nichtbeteiligtseins zu gewinnen, der ihm erlaubt, das Kritisierte doch positiv zu besetzen. Was eben noch bloß ein Beliebiges war, wird nun zum Produkt einer Tathandlung des Subjekts, der »Vergleichgültigung«.
  3. Begreift man dagegen die postmoderne Situation als eine, in der die Vielzahl historischer Muster, die neben- und durcheinander aktualisiert werden, nur den Mangel eines epochal gültigen Werks verdeckt, mit andern Worten als eine des Historismus und des Eklektizismus, dann wird die Frage nach einem Maßstab unabweisbar, den die strenge Moderne am Begriff des avancierten Materials besaß. Hier wiederum eröffnen sich zwei Wege: Entweder man geht der Frage nach, ob nicht auch in der Postmoderne noch ein avanciertes künstlerisches Material im Sinne Adornos sich ausmachen läßt, oder man sucht die Ursachen zu erfassen, die zu seiner Verunsicherung, wenn nicht gar zum Verschwinden ästhetischer Maßstäbe geführt haben. Beide Wege sind gangbar; aber sie sind nicht ohne Risiken.

Die Gefahr des ersten sehe ich darin, daß man den Dezisionismus Adornos reproduziert. Wenn es stimmt, daß die Entwicklung der Kunst in den siebziger und achtziger Jahren diesen unhaltbar hat werden lassen, und wenn sie uns weiterhin die Augen dafür geöffnet hat, was Adorno alles aus dem Bereich gültiger Werke ausscheiden muß, um seinem strengen Modernebegriff gerecht zu werden, dann erhebt sich die Frage, ob es wünschenswert ist, diesen zu erneuern. Außerdem ist zu bedenken, daß der Begriff des avancierten künstlerischen Materials eine Logik der Materialentwicklung voraussetzt, die sich zwar in bestimmten künstlerischen Bereichen für eng begrenzte Zeiträume nachweisen läßt (z. B. für die Entwicklung des Kubismus bis zum Jahre 1914), die aber – auch für die Epoche der klassischen Moderne – nicht als eine einheitliche unterstellt werden kann (die Kubisten und Kandinsky folgen nicht der gleichen Materiallogik, von den Surrealisten ganz zu schweigen). Natürlich kann man dem »anything goes« ein »one thing only goes« entgegensetzen: das Spiel leerer allegorischer Verweisungen; nur scheint mir, daß damit keineswegs die sehr unterschiedlichen Typen authentischer künstlerischer Realisationen unserer Gegenwart auf den Begriff zu bringen sind. Weder die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, noch das Werk bzw. Nichtwerk von Joseph Beuys, und das, obwohl der letztere durchaus allegorische Intentionen verfolgt.

Während eine systematische Kritik des postmodernen Diskurses dessen Widersprüchen nachspürt, fragt eine historisch ausgerichtete nach dessen Genese. Auf den Bereich ästhetischer Gebilde bezogen lautet die Frage dann: wie ist es möglich gewesen, daß die von der werkorientierten Moderne aufgerichteten Abgrenzungen gegenüber dem Alltag und der Trivialkunst sowie die Strenge des modernen Formbegriffs haben preisgegeben werden können zugunsten eines hemmungslosen Eklektizismus und einer Universalisierung des Zitats? Macht die Kritik sich auf die Suche nach einem Schuldigen, so entdeckt sie ihn in den historischen Avantgardebewegungen. In der Tat haben diese die Grenze zwischen Kunst und alltäglicher Lebenspraxis aufzuheben und die gegenüber der Trivialkunst zu lockern gesucht sowie die Strenge des modernen Formbegriffs (z. B. in der écriture automatique) in Frage gestellt. Trotzdem wäre eine Schuldzuweisung fragwürdig. Die universale Ästhetisierung des US-amerikanischen Alltags z. B. dürfte sich aus den Imperativen kapitalistischer Warenproduktion herleiten, genauer: dem Zwang, den Konsumreiz auf Dauer zu stellen, und nicht aus dem (wie immer auch fehlgeleiteten) Projekt einer Künstlergruppe. Sonst säße man einem Modell konservativer Kulturkritik auf, das »die unbequemen Folgelasten einer mehr oder weniger erfolgreichen kapitalistischen Modernisierung auf die kulturelle Moderne (verschiebt)«.[2. Vergleiche Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: Kleine politische Schriften I-IV. Frankfurt: Suhrkamp 1981.]

Nun steht aber eine unter dem Eindruck der Postmoderne formulierte Avantgarde-Kritik keineswegs allein. Auch Ferenc Fehérs Argumentation bewegt sich auf dieser Linie[3. Vergleiche Ferenc Fehér, What is beyond Art. On the Theories of Post-Modernity. In: Thesis Eleven, Nr. 5/6,1982. – Auch Rüdiger Bubner ist in diesem Zusammenhang zu nennen, der unter dem Titel Moderne Ersatzfunktionen des Ästhetischen (Merkur; Nr. 444, Februar 1986) unter anderem gegen die avantgardistische Vorstellung polemisiert, Kreativität sei in jedem Menschen angelegt, nur die Umstände hinderten die meisten daran, sie zu entfalten: »Gefeierte Künstler, deren herausragende Leistungen mit Preisen bedacht werden, versichern uns, daß wir alle zum Künstler geboren sind, auch wenn uns gleicher Erfolg versagt bleiben sollte.« Die Anspielung auf Joseph Beuys ist unüberhörbar.], und Jürgen Habermas, der den ästhetischen Antimodernismus Daniel Beils mit Entschiedenheit zurückweist, bezieht selbst deutlich Position gegen die Avantgardebewegungen. In der avantgardistischen Entdifferenzierung der kulturellen Sphären sieht er ernste Gefahren für das soziale Gefüge.

Für Habermas ist die Ausdifferenzierung der Sphären Wissenschaft, Moral und Kunst ein historischer Fortschritt; der Versuch, sie in Frage zu stellen, ist ihm als Regressionswunsch verdächtig. Nun läßt sich jedoch kaum leugnen, daß ein gravierendes Problem unserer Kultur darin besteht, daß die einzelnen kulturellen Sphären gegeneinander abgedichtet sind. Die Abkopplung der Politik von Moral ist zur Zeit von Hobbes ein Fortschritt gewesen; sie wird jedoch problematisch in einer Epoche, in der das Zerstörungspotential derart angewachsen ist, daß das menschliche Leben auf der Erde vernichtet werden kann. Für die Abkopplung der Wissenschaft von der Moral gilt etwas Ähnliches. Gerade der Erfolg der Wissenschaft (etwa im Bereich der Gentechnologie) macht es notwendig, sie erneut in ein produktives Verhältnis zur Moral zu setzen. Was die Kunst angeht, so ist die Verfolgung dessen, was man den Eigensinn des Ästhetischen nennen kann, zugleich ein Fortschritt und ein Verlust an Dimensionen, die der Kunst nur erreichbar sind, wenn sie sich aus dem sicheren Bezirk des Ästhetischen herausbegibt, der ihr zugewiesen ist.

Diese Überlegungen sollten uns dazu veranlassen, die Trennung der Sphären nicht einfach als historischen Fortschritt zu verbuchen. Nicht nur die Rückkopplung der in den Expertenkulturen erarbeiteten Resultate in die Lebenswelt ist das kulturelle Problem unserer Gesellschaft, sondern vor allem auch die Trennung der Sphären selbst. Dies erkennbar gemacht zu haben, ist ein Verdienst der Avantgardebewegungen; und zwar unabhängig davon, ob ihre Lösungsvorschläge sich als brauchbar erwiesen haben oder nicht.

Vielleicht stoßen wir hier auf eine Grenze eines Denkens, das uns das dichotomische Schema des Entweder-Oder aufzwingt. Entweder ist die Trennung der kulturellen Sphären ein historischer Fortschritt, dann ist sie zu akzeptieren, und es bleiben allenfalls Folgeprobleme zu bearbeiten (wie das der »Rückkopplung«); oder sie ist von Übel, dann muß man auf ihre Beseitigung hinarbeiten und die regressiven Konsequenzen dieses Projekts sich zurechnen lassen. Entweder man akzeptiert die autonome Institution Kunst, dann ist jeder Aufhebungsversuch als falsche Aufhebung zu denunzieren, oder man teilt die avantgardistische Position, dann muß man konsequenterweise auch die Abschaffung von Museen und Theatern propagieren. Entweder man hält an der Möglichkeit ästhetischer Wertung fest, dann muß man den Begriff des avancierten Materials auch gegen historische Einsichten behaupten, oder man findet sich mit der freien Verfügbarkeit des Materials ab und verzichtet damit auf jeglichen Versuch, ästhetische Objekte zu bewerten.

 

 

Die Dichotomien sind so formuliert, daß sie eine Entscheidung für die erste der Alternativen nahezulegen scheinen. Da wir aber gesehen haben, daß diese Entscheidung jeweils mit spezifischen Problemen verbunden ist, wird man sich fragen, ob nicht die Formulierung der Alternative in der Form des Entweder-Oder gerade das Problematische ist. Nicht nur, weil man bei näherem Hinsehen erkennt, daß die Oder-Position hier von vornherein als schlechte Alternative angeboten wird, die man daher auch nicht einnehmen kann, sondern weil das dichotomische Schema möglicherweise der Sache nicht gerecht wird.

Statt den avantgardistischen Impuls auszugrenzen, wäre zu überlegen, ob in ihm nicht Potentiale liegen, die es aufzunehmen gilt, wenn Kunst mehr sein soll als eine Institution, die Folgeprobleme der gesellschaftlichen Modernisierung zu kompensieren erlaubt. Ohne das luziferische Element des avantgardistischen Aufhebungsimpulses dürfte die Kunst der Postmoderne in der Tat schnell verkommen zu einer Art Salonkunst ohne Salon. Eine Antwort auf die Frage, ob es eine dritte Position gibt, die uns aus dem Zwang des Entweder-Oder herausführt (der in Wahrheit ein Zwang zum Entweder ist), kann die Theorie jedoch nicht von sich aus geben. Sie kann erkennen, was historisch wirklich geworden ist, nicht aber festlegen, was zu sein hätte. Ich breche die theoretische Erörterung daher ab zugunsten einer Analyse einiger Aspekte des Werks von Joseph Beuys, Prototyp des Avantgardisten nach den historischen Avantgardebewegungen. Die folgende Analyse wäre allerdings mißverstanden, würde sie als bloße Darstellungsform theoretischer Probleme aufgefaßt, die sich an einem andern Autor ebenso explizieren ließen. Beuys ist kein Beispielfall; aber gerade das macht ihn relevant für die Theorie. Der Bruch in meiner Argumentation bekennt die Heteronomie der Theorie ein. Wenn diese etwas erkennt, dann nur an den Sachen.

Der Grenzgänger

Daß Beuys in der Tradition der Avantgardebewegungen steht, dürfte von niemandem bezweifelt werden. Er selbst hat es in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Lehmbruck-Preises am 12. Januar 1986 hervorgehoben. Es geht ihm um »eine Grundidee zur Erneuerung des sozialen Ganzen, die zur sozialen Skulptur führt«. Er nimmt das utopische Projekt der historischen Avantgardebewegungen auf, das Breton einmal auf die Formel gebracht hat, es gelte »eine endlich bewohnbare Welt« herzustellen. Aber er weiß auch, daß die Avantgardebewegungen das Projekt nicht haben verwirklichen können, daß auch er es nicht verwirklichen wird. So bleibt nur »das Weiterreichen der Flamme«. – Ich selbst habe in der Theorie der Avantgarde vom Scheitern der historischen Avantgardebewegungen gesprochen. Wenn man das Projekt an seinen Realisierungen mißt, trifft das sicherlich zu. Aber das Urteil selbst verbleibt innerhalb der Logik des Entweder-Oder. Verläßt man diese Logik, dann wird fraglich, ob ein utopisches Projekt überhaupt scheitern kann, da es doch der Hoffnung verschwistert ist, die nach Ernst Blochs Diktum nicht enttäuscht werden kann. Der Gedanke läßt sich auch anders ausdrücken: das Scheitern ist der Modus, in dem der Avantgardist sich der utopischen Qualität seines Projekts versichert, das als verwirklichtes immer ein anderes wäre.

Der Dadaismus und der frühe Surrealismus waren von der Hoffnung getragen, es genüge, die autonome, von der Lebenspraxis abgespaltene Institution Kunst zu zerschlagen, um die dort verkapselten Potentiale an Phantasie und Kreativität zu entbinden. Daher die Angriffe auf die Institution Kunst, die an schriller Schärfe nicht zu überbieten sind. Von all dem findet sich bei Beuys kaum mehr etwas. Zwar setzt er sich ab vom Begriff des Künstlers, »der ich ja nicht sein will«[4. So im Ausstellungskatalog Joseph Beuys, Zeichnungen. München: Prestel 1979.]; aber diese Absetzungsbewegung hat nicht mehr die polemische Schärfe dadaistischer Kundgebungen. Während Raoul Hausmann auf Goethe spuckt, kann Beuys sich auf ihn berufen als einen Autor, der einen andern als den herrschenden Wissenschaftsbegriff gehabt und Wissenschaft und Kunst aus demselben Geist betrieben habe. An die Stelle des Angriffs auf die Institution Kunst ist eine Bewegung getreten, die von der Kunst wegführt, ohne sie doch je ganz aufzugeben. »Ich habe wirklich nichts mit der Kunst zu tun – und das ist die einzige Möglichkeit, um für die Kunst etwas leisten zu können«. Die paradoxe Formulierung hält eine Situation fest, in der die künstlerische Leistung abhängig wird von der Fähigkeit des Autors, die institutionellen Grenzen der Kunst zu überschreiten. Seit dem, was wir uns gewöhnt haben, das Scheitern der historischen Avantgardebewegungen zu nennen, hat sich der Aufhebungsimpuls transformiert: er weiß, daß er abhängig ist von dem, wogegen er sich wendet.

Beuys geht es darum, tatsächliche Einstellungsveränderungen hervorzurufen, ein neues Verhältnis zu gewinnen sowohl zu den eigenen Sinnen und den Stoffen, mit denen diese in Berührung kommen, als auch zum Denken und dem, was das Sinnliche übersteigt.

Da aber seit dem Ästhetizismus die Veränderung der Wahrnehmungs- und Sehgewohnheiten zur Floskel geworden ist, die, längst zerredet, keine Erfahrung mehr deckt, kann er sein Ziel nicht mehr im Rahmen der Institution Kunst verfolgen. Diese kann er andererseits auch nicht verlassen, ohne den avantgardistischen Angriff auf die Institution nur zu wiederholen. So wird er zum Grenzgänger, der die Grenze, die er hin- und hergehend überschreitet, zugleich verschiebt. Als einer seiner Gesprächspartner seine Zeichnungen probeweise als »eine bestimmte Art des Forschens« charakterisiert, stimmt Beuys zu, fügt aber sogleich hinzu: »aber trotzdem habe ich den Begriff der Kunst nicht aus dem Auge gelassen. Ich wollte die Kunst überhaupt erreichen. Wir haben die Kunst noch nicht erreicht«. Das Paradoxon, daß es die Kunst noch gar nicht gebe (»denn es gibt sie noch nicht«), macht nur Sinn, wenn man einen andern als den herkömmlichen Kunstbegriff unterlegt, einen, wie Beuys ihn nennt, »totalisierten« Kunstbegriff. »Alle Fragen der Menschen können nur Fragen der Gestaltung sein, und das ist der totalisierte Kunstbegriff, er bezieht sich auf jedermanns Möglichkeit, prinzipiell ein schöpferisches Wesen zu sein und auf die Fragen des sozialen Ganzen.«[5. Zitiert im Ausstellungskatalog Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Frankfurt: Sauerländer 1983.]

Beuys hat einen eigentümlichen Umgang mit Begriffen, den man als semantische Verschiebung bezeichnen kann. Zwar verwendet er herkömmliche Termini, aber er verlagert ihr semantisches Zentrum, indem er sie einem andern Begriff annähert, den er dann aber gleichfalls aus seinem Zentrum rückt. So verschiebt er den Kunstbegriff, indem er ihn dem der Wissenschaft annähert; diesen wiederum setzt er vom herrschenden Wissenschaftsbegriff ab, indem er ihn unter Absehung vom Methodischen definiert. Ein andermal wird der Kunstbegriff in einen allgemeinen Begriff der Gestaltung überführt, in dem er jedoch nicht aufgehen soll; denn als Widerpart dieser Erweiterung hält Beuys dann doch am künstlerischen Tun als einem besonderen fest und spricht von sozialer Skulptur. Es hat keinen Sinn, Beuys die logischen Unstimmigkeiten seiner Rede vorzuhalten; vielmehr sind sie als ein genauer Ausdruck dafür zu verstehen, daß er von einem unmöglichen Ort aus agiert. Dieser ist weder innerhalb noch außerhalb der Institution Kunst lokalisiert, sondern auf der Grenze, die er als Grenze zugleich ständig negiert.

Stoffliche Allegorie

Beuys hat zwei Stoffe in die Plastik eingeführt: Fett und Filz. Ihre Verwendung geht zurück auf eine traumatische Erfahrung; aber ihre Bedeutung geht nicht darin auf, diese zu evozieren. 1943 stürzt Beuys mit seinem Kampfflugzeug auf der Krim ab. Nach Tagen der Bewußtlosigkeit wird er von Tataren im Schnee gefunden, mit Fett eingerieben und in Filz eingewickelt; so gewinnt er langsam die Körperwärme zurück. Die beiden Stoffe bleiben für ihn verbunden mit der Erfahrung der Wiedergeburt aus dem Kältetod durch die wärmeerzeugende Kraft des Fetts und die isolierende Fähigkeit des Filzes. Soweit sind die Stoffe Teil einer individuellen Mythologie. Entscheidend ist nun, daß Beuys dabei nicht stehenbleibt, sondern ausgehend von der quasimythischen Erfahrung eine Theorie der Stofflichkeit entwickelt. In ihr ist der Filz Isolator und schützende Decke, zugleich aber auch das Material, das das Eindringen äußerer Einflüsse ermöglicht. Die graue Farbe soll beim Betrachter durch eine Art Umkehr-Effekt den ganzen Reichtum des Farbspektrums evozieren. Schließlich steht die schalldämpfende Wirkung des Filzes für das Schweigen. Dem Stoff wird eine Bedeutungsdialektik unterstellt (Isolator gegenüber und Verbindung mit dem Draußen; Farblosigkeit – Farbreichtum), die dann in den Aktionen aktualisiert wird.

Am Fett interessieren Beuys die unterschiedlichen Aggregatzustände: mehr oder weniger fest im kalten Zustand, verflüssigt es sich unter Wärmeeinfluß. So wird es zum privilegierten Demonstrationsobjekt seiner Theorie der Skulptur, die zwischen chaotischen (warmen) und geordneten (kalten) Zuständen unterscheidet: »My initial intention in using fat was to stimulate discussion. The flexibility of the material appealed to me particularly in its reactions to temperature changes. This flexibility is psychologically effective – people instinctively feel it relates to inner processes and feelings. The discussion I wanted was about the potential of sculpture and culture, what they mean, what language is about, what human production and creativity are about. So I took an extreme position in sculpture, and a material that was very basic to life and not associated with art.«[6. Caroline Tisdall, Joseph Beuys. New York: The Salomon R. Guggenheim Foundation 1979.]

Beuys schafft sich aus Stoffen eine Art Alphabet. Dieses besteht jedoch nicht aus Phonemen, sondern aus komplexen Begriffen. Dem Sinnlich-Stofflichen wird eine Bedeutung zugesprochen, die zwar nachvollziehbar ist, die sich aber keineswegs aus dem sinnlichen Eindruck mit Notwendigkeit ergibt. So besteht eine Arbeit wie die Fettecke, die in der Ausstellung im Guggenheim-Museum zu sehen war, nicht nur aus dem wahrnehmbaren Objekt, dem in die Ecke des Raums geschmierten Fett, sondern zugleich aus der Selbstdeutung und dem Kommentar im Katalog, schließlich aus dem Foto, das das plastische Objekt beinahe zur Zweidimensionalität verfremdet. Der Betrachter ist zugleich ein Leser, er ist aufgefordert, eine gesetzte Bedeutungsstruktur nachzuvollziehen, hier: den Gegensatz zwischen dem strengen Ordnungsprinzip des rechten Winkels der Mauerecke und dem halbflüssigen Fett, das die Veränderlichkeit der »sozialen Plastik« anzeigt. Aber er ist zugleich ganz andern Eindrücken unterworfen: den Flecken an der Wand, dem ranzigen, leicht widerwärtigen Geruch des zerfließenden Fetts, das längst nicht mehr die Dreiecksform hat, die das Katalog-Foto festhält. Die Assoziationen, die diese Eindrücke in ihm auslösen, weisen in eine ganz andere Richtung als die von Beuys vorgenommene Bedeutungsfestlegung. Ähnliches gilt für die Filzarbeiten. Die Stapel aus hundert quadratischen Filzstücken, bedeckt mit einer Kupferplatte, bezeichnen für Beuys eine Wärmebatterie: »These feit piles are aggregates, and the copper sheets are conductors«. Die Assoziation, die der Betrachter mit der Arbeit verbindet, ist eher die Trostlosigkeit eines Warenlagers, in dem ein Ding dem andern gleicht. Die allegorische Bedeutung, die Beuys den Stoffen zuspricht, wird überlagert von andern, die sich aus der unmittelbaren Wahrnehmung ergeben.

Wiederkehr der symbolischen Form

Wie weit die beiden Bedeutungsebenen auseinandertreten können, läßt sich an der Aktion How to explain pictures to a dead hare sehen. Beuys sitzt auf einem Hocker, dessen eines Bein mit Filz umwickelt ist; über seinen Kopf hat er Honig gegossen; an seinem rechten Fuß hat er eine Eisensohle befestigt, der linke steht auf einer gleichgroßen Filzsohle; im Schoß hält er einen toten Hasen; die rechte Hand ist mit bekehrendem Gestus erhoben; an der Wand sind Zeichnungen zu erkennen. So hält ein Foto von Ute Klophaus in Caroline Tisdalls Buch ein Stadium der Aktion fest. Der polemische Gehalt der Szene wird vom Betrachter schnell aufgenommen: selbst ein totes Tier hat noch mehr Kunstverständnis als die meisten Menschen (während der Aktion sind die Türen der Galerie geschlossen; Beuys ist nur von außen durch die Fenster zu sehen). Die Szene verdankt ihr Pathos nicht zuletzt dem mit Honig übergossenen Kopf. Beuys verbindet damit eine fest umrissene allegorische Bedeutung. Der Kopf ist das Organ des Denkens, das als rationales totenähnlich erstarrt ist. Indem er die lebendige Substanz Honig über den Kopf gießt, suggeriert er, daß auch das Denken lebendig sein kann, ein anderes Denken. Die szenische Allegorie führt eben jene semantische Verschiebung vor, die wir in den Gesprächsäußerungen von Beuys angetroffen haben. Soweit die intendierte Bedeutung.

Der Betrachter des Fotos aber sieht etwas anderes: einen wie durch Kriegsverbrennungen entstellten Kopf, dessen blicklose Starre im Gegensatz steht zu der eigentümlichen Lebendigkeit der Hand. Das mit Filz umwickelte Bein des Hockers, die vage erkennbaren Schalter eines elektrischen Geräts und der mit Drähten (?) umwickelte Schuh legen Assoziationen von Fesselung und Folter nahe. Die emotive Kraft des Bildes schließt nicht an die allegorische Intention des Autors an, sondern steht quer zu ihr. Beuys sagt uns etwas; aber das, was er sagt, deckt sich nicht mit dem, was er hat sagen wollen.

Was hat es mit dieser Diskrepanz zwischen der allegorischen Selbstdeutung des Autors und der symbolisch interpretierten Seherfahrung des Betrachters auf sich? Es wäre sicherlich falsch, die eine gegen die andere Bedeutungsebene ausspielen zu wollen. Weder läßt sich die vom Autor gesetzte Allegorie als Quantité négligeable abtun, denn sie gehört zum Werk wie im barocken Emblem die Subscriptio; noch wird man die an sinnlich Wahrnehmbares anknüpfende Bedeutungsproduktion des Betrachters als bloß subjektive Zutat ansehen, zumal sie vermutlich eher auf intersubjektive Zustimmung stoßen dürfte als die vom Autor gesetzte Bedeutung. Man wird also zwischen beiden Bedeutungsebenen hin- und hergehen. Das ergibt eine äußerst komplexe Struktur. Wenn man die allegorische Selbstdeutung des Autors als Teil der Beuysschen Arbeiten ansehen muß – und das scheint mir außer Frage zu stehen –, dann wäre an ihnen gerade zu erfahren, daß die subjektiv gesetzte Bedeutung nicht zu halten ist. Das heißt nicht, daß sie einfach verschwände. Als ausgesprochene bzw. im Katalogtext fixierte ist sie da; aber sie heftet sich nur locker an den Gegenstand. Was wir erleben, ist Konstitution und Zerfall der Allegorie in einem. Wir vollziehen die allegorische Setzung des Autors nach, lassen sie aber sogleich wieder fallen, weil das, was wir sehen, sich mit ihr nicht deckt.

Das beschriebene Phänomen darf nicht mit der Mehrdeutigkeit von Kunstwerken verwechselt werden. Dabei handelt es sich um verschiedene Bedeutungen, die jedoch auf einer Ebene angesiedelt sind. Gerade das ist hier nicht der Fall. Beuys zwingt den Stoffen eine fest umrissene allegorische Bedeutung auf. Wir vermögen diese zwar intellektuell nachzuvollziehen, aber sie heften sich nicht an das, was wir sinnlich wahrnehmen. Dieses tritt daher für uns in einen symbolischen Bedeutungsraum ein, wo wir die wahrgenommene Form nicht als Zeichen für etwas anderes auffassen, sondern als mit der (wie unscharf auch immer erfaßten) Bedeutung identisch.

Benjamins Rehabilitierung des Allegoriebegriffs hat deshalb für die Ästhetik der Gegenwart eine so wichtige Rolle gespielt, weil in ihm die beiden Seiten dessen, was wir Form nennen, das sinnlich Wahrnehmbare und die geistige Bedeutung (Objekt und Subjekt) nicht zur Einheit verschmolzen sind, sondern als voneinander unterschiedene festgehalten werden. Die Allegorie erscheint so als ein Modell, das uns erlaubt, die metaphysischen Voraussetzungen der idealistischen Ästhetik hinter uns zu lassen und die Entzweiung, die unser wirkliches Leben beherrscht, auch zum erfahrungskonstituierenden Prinzip von Kunst zu machen. Wenn die Beobachtungen, die wir im Umgang mit Arbeiten von Beuys gemacht haben, die Sache treffen, dann stoßen wir bei dem Versuch, den Bereich der Kunst dem (im soziologischen Wortsinne) modernen Prinzip der Rationalität zu unterwerfen, auf eine Grenze. Die Allegorie, die sinnlich Gegebenes und Bedeutung als selbständige Terme festhält und zwischen ihnen einen eindeutigen Bezug herzustellen sucht, ist ihrer Struktur nach ein Modell, das dem Prinzip der Rationalität entspricht; denn beide beruhen auf der Trennung von Subjekt und Objekt. Das Symbol dagegen, in dem das Sinnliche nicht abtrennbar ist von dem, was es bedeutet, bleibt gebunden an einen metaphysischen Begriff der Form, der dem idealistischen Begriff des Subjekt-Objekt nachgebildet ist. Wenn sich nun zeigt, daß wir nicht umhinkönnen, die Allegorien von Beuys zugleich als Symbole zu deuten, dann liegt zumindest die Vermutung nahe, daß ein metaphysisches Modell unsere ästhetische Erfahrung prägt. Zwar können wir diese metaphysische Grundlage unserer ästhetischen Erfahrung in kritischer Reflexion freilegen, aber wir können sie im Umgang mit den Sachen nicht überspringen.

Kehren wir von hier aus noch einmal zurück zu den oben formulierten Problemen der Postmoderne. In der Beschreibung sind die meisten Kritiker sich einig: Babel der Zitate, Durcheinander der Stile. Die möglichen Haltungen gegenüber diesem Befund, fröhlicher Eklektizismus des »anything goes« und dezisionistische Setzung eines avancierten Materials, sind beide gleichermaßen unbefriedigend. Mit diesem Hinweis ist aber das Problem der Wertung nicht gelöst. Was trägt unsere Beuys-Analyse zu einer Lösung bei? Zunächst lehrt sie die Theorie Bescheidenheit. Sowohl gegenüber der Produktion wie gegenüber der Rezeptionserfahrung ist Theorie heteronom. Sie vermag auf den Begriff zu bringen, was ästhetisch der Fall ist (das ist nicht wenig); von sich aus Maßstäbe zu setzen, vermag sie nicht. Wo sie es versucht, ist sie stets in Gefahr, sich zu blamieren vor den Sachen, die sie verdunkelt, weil ihr erhellendes Licht neben diese fällt. Daß die Allegorie sich im Zerfall der gesetzten Bedeutung realisiert, so eine symbolische aus sich entlassend, dergleichen läßt sich nicht im theoretischen Vorgriff ausmachen. Aber auch post festum ist diese Struktur nicht zum Maßstab zeitgenössischer Kunst zu erheben. Beuys ist ein Einzelfall. Trotzdem muß es erlaubt sein, die Bilder der Neuen Wilden seinen Arbeiten gegenüberzustellen. Erkennbar wird so das Problematische einer problemlosen Rückkehr zur Tafelmalerei, zur frohen Farbigkeit und zur sicheren Linie. Verglichen mit der gebrochen unsicheren Strichführung Beuysscher Zeichnungen, in denen das Können zurückgenommen ist zur Beiläufigkeit der Notiz, wirken große Teile der heutigen Malerei äußerlich. Der Erfolg, den sie erzielen, ist dem Makarts nicht unähnlich. Diese Bemerkungen sollen nur zeigen: Wertungen sind möglich auch ohne das feste Netz einer Theorie, die dekretiert, was der avancierteste Stand des künstlerischen Materials sei. Nur wenn die Theorie bescheiden wird und ihre Heteronomie sich eingesteht, vermag sie jene »Versenkung in die Sache« zu praktizieren, die Adorno für sich in Anspruch genommen, aber keineswegs immer realisiert hat.

In seinem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1919, La crise de l’esprit, schildert Paul Valéry die Epoche vor dem ersten Weltkrieg als ein alexandrinisches Chaos der Stile, Anspielungen und Übernahmen: »Dans tel livre de cette époque – et non des plus médiocres – on trouve, sans aucun effort: – une influence des ballets russes, – un peu du style sombre de Pascal, beaucoup d’impressions du type Goncourt, – quelque chose de Nietzsche, – quelque chose de Rimbaud, – certains effets dus à la fréquentation des peintres, et parfois le ton des publications scientifiques, – le tout parfumé d’un je ne sais quoi de britannique difficile è doser!«

Die Schilderung verwundert uns. Mindestens im Bereich der bildenden Kunst erscheint uns das Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg als heroische Epoche der Moderne. Fauvismus, Kubismus, Blauer Reiter – die entscheidenden Neuerungen der Malerei des 20. Jahrhunderts entstehen in dieser Zeit. Nichts davon rückt in den Blick des Theoretikers, der wie geblendet scheint von einer in tausend Splitter zersprungenen Oberfläche. Wenn einem Denker von der Sensibilität und Penetrationsfahigkeit Valérys so wichtige Phänomene seiner Gegenwart entgehen konnten, dann ist die Vermutung nicht ganz von der Hand zu weisen, daß es uns ähnlich ergehen könnte. Vielleicht sehen wir die epochale Kunst unserer Zeit nicht, geblendet durch die großformatigen Farbtafeln der Neuen Wilden.

Auch die Befürchtung, die universale Ästhetisierung des Alltags könnte dazu führen, daß es schließlich kein Außen mehr für die Kunst gebe und diese mithin verschwinde, läßt sich mit dem Blick auf Beuys entdramatisieren. Kein Zweifel, Beuys hat sich an die Medien ausgeliefert. Auch der avantgardistischer Kunst Fernstehende hat den Mann mit dem Filzhut wahrgenommen und gegebenenfalls ein Urteil über diesen parat. Dessen Arbeiten aber blieben esoterisch, unzugänglich noch jenen, die den Selbstkommentaren des Autors zu folgen versuchten. Wenn Popularität und Esoterik derart sich verschränken, dann wird man annehmen können, daß die Kunst fähig bleiben wird, jene Absetzungsbewegung zu vollziehen, die sie der Alltagswelt als ein anderes entgegentreten läßt. Wie Beuys das avantgardistische Projekt der Aufhebung der Kunst aufnimmt und zugleich auch immer wieder zurücknimmt, von der unsicher gewordenen Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst aus operierend, zeigt, daß die Praxis des Künstlers den berechtigten Ängsten des Theoretikers voraus ist. Während wir noch ängstlich die Frage formulieren, ist die Antwort längst schon gefunden; nur sehen wir sie nicht. Damit wir sie sehen können in aller Deutlichkeit, dazu bedurfte es Beuys‘ Tod.

 


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