Merkur, Nr. 264, April 1970

Nachgeahmte Substanzialität
Eine Auseinandersetzung mit Arnold Gehlens Ethik [1. A. Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Metzner, Frankfurt 1969.]

von  Jürgen Habermas

VORBEMERKUNG: Seit fünfzehn und mehr Jahren dankt der MERKUR Arnold Gehlen und Jürgen Habermas Beiträge, die im ideologischen wie im moralischen Spannungsfeld der Zeit an entgegengesetzten Enden Marksteine setzten: Grenzsteine, wie weit die Humanität um der Freiheit willen gegen die Institutionen, wie weit sie um der Selbstzucht willen durch die Institutionen zu schützen sei. Beide Denker akzeptierten es, in dieser Zeitschrift jeweils dem anderen als seinem Antagonisten zu begegnen, und hielten im Bewußtsein seines Ranges den Degen gesenkt. Da nun der eine ihn erhoben hat — mit einem Einsatz seiner selbst, der noch per negationem kundtut, welche Bedeutung er dem Gegner zumißt — halten wir es um so mehr für geboten, die Auseinandersetzung am selben Ort auszutragen. Was zugleich bedingt, daß wir beabsichtigen, sie von anderer Position her fortzusetzen. Hinter dem Satyrspiel, das Habermas dem neuesten Buche Gehlens zuspricht, verbirgt sich nach alter Regel oft auch ein Tragiker. So nennt der letzte Satz dieses Buches die Erkenntnis »den letzten Ausweg der Verzweiflung«. Und so schloß die erste Kurzfassung, die Gehlen unter dem Titel »Der Pluralismus in der Ethik« im Februarheft 1967 des MERKUR veröffentlichte, mit einem Worte Churchills: »Was es auch sei, eines Mannes Leben muß an ein Kreuz geschlagen sein, sei es das des Gedankens oder das der Tat.« — Victrix causa deis placuit sed victa Catoni. Hans Paeschke

 

I

Länger als ein Jahrzehnt hat Gehlen an seiner »Ethik« gearbeitet. Natürlich hat er, der konsequenteste Denker eines gegenaufklärerischen Institutionalismus, Sperrgut produziert. »Urmensch und Spätkultur« hatte den Tenor festgelegt; gegen wen die moralphilosophischen Folgerungen seiner Anthropologie sich richten würden, war vorauszusehen. Angesichts des Stoffes, den die Kulturrevolution der letzten Jahre für eine Gehlensche Ethik eigens zuzubereiten schien, konnte einem sogar bange zumute werden. Nicht vorauszusehen war deshalb das Satyrspiel, das der Autor uns nun gewährt. Gehlen setzt unser Zeitalter zum Hellenismus oder zu dem Bild, das wir uns davon machen, in Parallele. Eine Zeit lang hatte er sich selbst mit der Rolle des Stoikers befreundet. Inzwischen paßt ihm dieses Kleid nicht mehr. In seinem neuen Buch stellt er Antisthenes und Zenon als Vorläufer und Repräsentanten einer unpolitischen, das Staatsethos untergrabenden attischen Weltkultur vor. Sie geben ein Vorspiel des 18. Jahrhunderts, in dem die Intellektuellen wiederum sich anschicken, im Namen der Diffamierung von Herrschaft indirekt die Herrschaft zu ergreifen. Diese beiden ersten Kapitel sind übrigens im Stil der humanistischen Überlieferung geschrieben: die Topoi der Alten als Weisheitsstützen einer kontemplativen Lebenserfahrung.

Die drei folgenden Kapitel entfalten den theoretischen Anspruch des Buches. In dem aus früheren Publikationen vertrauten Stil einer anthropologischen Abhandlung geben sie einen Überblick über die biologischen Wurzeln des moralischen Verhaltens. Aber mit dem sechsten Kapitel schiebt sich Zeitkritik in den Vordergrund und lenkt einen Gedankengang ab, der in immer kürzeren Abständen repetiert wird. Als Gegenstück zu den modischen Selbstverbrennungen übt Gehlen den Gestus der Selbstversteinerung. Der Haß gegen einen Humanitarismus, den Gehlen (obwohl das Wort dem in den Sprachschatz der Nazis übergegangenen Nietzsche-Jargon zugehört) keineswegs in Anführungsstriche setzt, beeinträchtigt peinvoll das Unterscheidungsvermögen eines bekanntermaßen differenzierten Geistes.

Respektable Lebensweisheiten und theoretisch interessante Annahmen mischen sich mit dem politischen Stammtisch eines aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen, der den lebensgeschichtlichen Aporien seiner Rolle nicht mehr gewachsen ist. Um dieses Kapitel schmerzlos abzuschließen, beschränke ich mich auf die Wiedergabe einiger Lesefrüchte: Kollektivschuld, der Nazis und ihrer Opfer: »Nach dem Jahre 1933 ist die Integrität der Institution >Das Deutsche Reich< nicht nur verletzt, das Reich selbst ist von innen und außen her zerstört worden, sowohl von den Nationalsozialisten wie von ihren Gegnern.

Folglich können sich diejenigen, die dabei aktiv mitwirkten, nicht entlasten, auch wenn ihnen das Unrechtsbewußtsein fehlte oder sie sogar im Bewußtsein eines höheren, etwa humanitären Rechts handelten.« (99) Größe der Nation und deutsche Tragik: »Es ist die bedeutendste geschichtliche Leistungen einer Nation, sich überhaupt als eine so verfaßte geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist sie nicht geglückt. Die Selbsterhaltung schließt die geistige Behauptung und das Bekenntnis einer Nation zu sich selbst vor aller Welt ebenso ein wie die Sicherheit im großpolitischen Sinne, und diese besteht in der Macht eines Volkes, den physischen wie den moralischen Angriff auf sich unmöglich zu machen.« (103) »Die zwei oder drei Völker, in denen so etwas heute vor sich geht, werden frei sein, d. h. ihr Schicksal selbst bestimmen.« (115)

Moral der Sieger oder Reeducation: »Napoleon, der Europa mit Gräbern, Tränen, Asche, Weltruhm bedeckte, wird unvergessen bleiben, aber Preußen wurde aus der Geschichte gestrichen. Die endgültig Geschlagenen müssen teuer bezahlen, ihnen wird moralische Krankenkost verordnet, das verkürzte Bewußtsein künftig von Redakteuren verwaltet.« (120) »Der Begriff (der geistigen Integrität einer Gruppe) umfaßt natürlich die Traditionen und Überlieferungen eines Verbandes ebenso wie ihre (seine?) Ehre, und ein Volk gewaltsam von seiner Geschichte abzutrennen oder zu entehren bedeutet dasselbe, wie es zu töten. Einige Amerikaner scheinen dies neuerdings zu begreifen und an dem Recht der gewaltsamen Auferlegung ihrer eigenen politischen Ideologie zu zweifeln.« (185)

(…)

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