Merkur, Nr. 390, November 1980

Der Tulpen bitterer Duft

von Zbigniew Herbert

 

». . . a gallant tulip will hang down his head like to a virgin newly ravished. . .«

Robert Herrick (1591-1674)

 

Dies ist die Geschichte einer der menschlichen Irrsinnigkeiten. Es gibt darin keine Feuersbrunst, die eine große Stadt am Fluß verzehrt, keinen Massenmord an Wehrlosen und keine von Morgenlicht übergossene weite Ebene, wo bewaffnete Reiter auf andere Reiter treffen, damit sich am Ende des Tages, nach einer mörderischen Schlacht herausstellt, welcher der beiden Anführer einen bescheidenen Platz in der Geschichte, ein Denkmal aus Bronze oder – bei minderem Glück – einen Straßennamen im Armenviertel verdient hat.

Unser Drama ist bescheiden, wenig pathetisch und weit entfernt von den berühmten Blutbädern der Geschichte. Denn alles begann ganz unschuldig mit einer Pflanze, einer Blume, mit der Tulpe, die – man kann sich das nur schwer vorstellen – eine kollektive und ungezügelte Leidenschaft entfesselte. Mehr noch, für alle, die sich mit jenem Phänomen beschäftigten, war das Erstaunlichste die Tatsache, daß dieser Irrsinn ein sparsames, nüchternes und arbeitsames Volk befiel. Die Frage drängt sich auf, wie es dazu kam, daß die »tulpenwoede«, die Tulpenmanie gerade im aufgeklärten Holland und nicht anderswo so beängstigende Ausmaße annahm, die Grundlagen einer soliden Volkswirtschaft erschütterte und Vertreter aller Gesellschaftsschichten in ein gigantisches Glücksspiel riß. Manche erklären das mit der sprichwörtlichen Blumenliebe der Niederländer.

Es gibt da eine alte Anekdote: Eine Dame wandte sich an einen Künstler mit der Bitte, ihr einen Strauß aus seltenen Blumen zu malen, denn sie könne es sich nicht leisten, solche Blumen zu kaufen. Auf diese Weise soll eine bisher unbekannte Thematik in der Malerei entstanden sein. Halten wir fest, daß für jene Dame, die Inspiratorin einer neuen Kunstgattung, ästhetische Motive eine durchaus zweitrangige Rolle spielten. Was sie tatsächlich forderte, war ein reales Objekt, eine Blüte auf grünem Stengel. Das Werk des Künstlers war lediglich ein Substitut, der Schatten existenter Dinge. Genauso müssen zur Trennung verurteilte Liebende sich mit dem Abbild des geliebten Gesichts zufriedengeben. Das Bild ist Ausdruck der Sehnsucht nach der fernen, unerreichbaren, verlorenen Wirklichkeit. Es gibt noch andere, mehr prosaische oder gar irdische Gründe, die, wie es scheint, die besondere Vorliebe der Holländer für Blumen hinreichend erklären. Dieses Land, das keine ungezügelte, üppige Vegetation besitzt, sondern in die Zucht einer rationalen Wirtschaft genommen ist, verblüffte viele Reisende, weil sie dort nicht einmal rauschende Kornfelder antrafen. Das Getreide wurde aus dem Ausland eingeführt. Acker gab es wenig, seine Qualität war meistens schlecht, der Preis dagegen stets überhöht. Den größten Teil des Bodens hatte man für Weiden, Gemüse- und Blumengärten bestimmt. Die Landesnatur selbst zwang zu intensiver Wirtschaft auf flächenmäßig geringen Äckern. Die Natur fordert den Menschen heraus, auch ästhetisch. Deshalb ist es nicht schwer zu begreifen, daß die gewisse Monotonie der holländischen Landschaft den Traum von einer vielfältigen, vielfarbigen, ungewöhnlichen Flora geboren hat. Vielleicht schlummerte darin die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, das die Maler des Mittelalters in Gestalt eines Rosariums, eines Obstgartens oder eines Blumenbeetes darstellten. Ewiges Grün spricht die Phantasie mehr an als ewiges Licht.

In Leiden wie auch an anderen Universitäten lehrten vorzügliche Kenner der Pflanzenwelt wie zum Beispiel der Franzose Lecluse, genannt Clusius (von ihm wird noch die Rede sein), der im Jahre 1587 den ersten Botanischen Garten anlegte. Gelehrte zogen zusammen mit den Kolonisatoren auf weitreichende und gefährliche Expeditionen, um die Geheimnisse der exotischen Natur kennenzulernen. Und das breite Publikum las voller Eifer Bücher über die Systematik, die Anatomie und die Zucht von Pflanzen. Eine Summe dieser reichen Literatur ist Jan van der Meurs‘ dickleibiges Werk mit dem bezeichnenden Titel Arboretum Sacrum.

Im Haager Museum Mauritshuis befindet sich das Bild Blumenstrauß vor gewölbtem Fenster von dem großartigen Blumenmaler Ambrosius Bosschaert dem Älteren. Dieses Bild hat mich immer mit einer Art Unruhe erfüllt, obwohl ich mir darüber im klaren war, daß die Ursache dieser Unruhe nicht das malerische Thema sein konnte. Denn was kann so lindern, so idyllisch sein wie ein mit ausgesuchter Schlichtheit zusammengestellter Strauß von Rosen, Dahlien, Iris und Orchideen vor dem Hintergrund des Himmels und einer fernen Gebirgslandschaft, die im Blau verfließt? Dennoch, allein die Behandlung des Themas ist bedenkenswert und leicht unheimlich. Die Blumen, die stillen Mägde der Natur, die wehrlosen  Spenderinnen des Entzückens, prahlen auf diesem Bild, herrschen uneingeschränkt, prunken mit bisher nicht angetroffener Intensität und Kraft. Ein wichtiger und entscheidender Befreiungsakt scheint hier erfolgt zu sein. Die stillen Mägde der Natur haben ihre ornamentale Rolle abgelegt, sie wollen nicht schmeicheln, nicht hingebungsvoll sein, sondern attackieren den Betrachter mit ihrem Stolz, man möchte sagen, mit ihrer selbstbewußten Individualität.

 Sie sind gewissermaßen übernatürlich und aggressiv-anwesend. Und das alles erfolgt nicht, weil sie Ausdruck eines erregten inneren Zustands des Künstlers sind (wie van Goghs Sonnenblumen), sondern ganz im Gegenteil, Form, Farbe und Charakter der Blumen sind peinlich genau und detailgetreu mit der kühlen Unvoreingenommenheit des Botanikers und Anatomen wiedergegeben. Das Licht des Bildes – hell, objektiv – bedeutet, daß der Künstler auf den Zauber des »chiaroscuro« verzichtet hat, also auf die malerische Hierarchie, das Verschieben bestimmter Gegenstände in den Schatten und das Hervorheben anderer durch die Beleuchtung. Man kann den Blumenstrauß vor gewölbtem Fenster mit einem der Sammelporträts von Frans Hals vergleichen, auf denen es keine Einteilung in wichtige und weniger wichtige Personen, in Hauptdarsteller und Statisten gibt. Bosschaerts Bild ist um 1620 entstanden, gegen Ende seines Lebens. Die Geschehnisse, von denen wir zu erzählen beabsichtigen, haben sich ein paar Jahre später zugetragen. Aber schon auf diesem Bild kann man die Vorzeichen des heraufziehenden Gewitters erkennen. Denn sind diese emanzipierten, dominierenden, herrschsüchtigen Blumen, die laut nach Bewunderung und Verehrung verlangen, nicht das Symptom eines eigenartigen Kults? Darauf weist schon die Komposition des Bildes hin. Der Strauß steht in dem hohen Fenster wie auf einem Altar, erhöht über die gesamte Natur. Eine heidnische Blumenmonstranz. In Bosschaerts Bild gibt es ein paar unheilverkündende Tulpen.

 

II

»Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Krankheiten ihre Geschichte haben,
so daß jedes Zeitalter seine bestimmten Krankheiten hat, die so nicht früher
aufgetreten sind und ganz so auch nicht wiederkehren werden.«

Troels Frederik Troels-Lund (1840-1921)

 

Die Tulpe ist ein Geschenk des Orients wie viele segensreiche und unheilvolle Geschenke: Religionen, Aberglauben, Heilkräuter und Drogen, heilige Bücher und Invasionen, Epidemien und Früchte. Der Name stammt aus dem Persischen und bedeutet Turban. Sie war eine seit Jahrhunderten geliebte und verehrte Blume in den Gärten Armeniens, der Türkei und Persiens. Am Sultanshofe veranstaltete man alljährliche Tulpenfeste. Die Dichter Omar Chayyam und Hafez besangen sie, die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erwähnen sie, so daß sie, ehe sie nach Europa einwanderte, eine jahrhundertealte orientalische Karriere hinter sich hatte. Ihr Auftauchen im Westen ist das Verdienst eines Diplomaten. Er hieß Ogier Ghislain de Busbecq und war Gesandter der Habsburger am Hofe Suleimans des Prächtigen. Er war ein gebildeter und wißbegieriger Mensch (seine interessanten Reisebeschreibungen sind erhalten), schrieb pflichtgemäß erschöpfende diplomatische Berichte, sammelte aber mit noch größerer Begeisterung griechische Manuskripte, antike Inschriften und Naturalien. 1554 schickte er an den Wiener Hof Kaiser Ferdinands I. eine Sendung Tulpenzwiebeln. Das war der unschuldige Anfang des Bösen.

Von dieser Zeit an verbreitet sich die Blume verblüffend schnell in Europa. Conrad Gesner, genannt »der deutsche Plinius«, gab in seinem Werk De Hortis Germanicis (1561) die erste wissenschaftliche Beschreibung dieser Pflanze. Im gleichen Jahr bewundern die Gäste der Bankiersfamilie Fugger in deren Augsburger Gärten Beete dieser noch seltenen Blume, die etwas später in Frankreich, den Niederlanden und England erscheint, wo John Tradescent, der Gärtner Karls I., sich der Züchtung von fünfzig Tulpensorten rühmt. Eine kurze Zeitlang versuchen die Gastronomen, daraus einen Leckerbissen für vornehme Tische zu machen. In Deutschland aß man die Zwiebeln in Zucker, in England dagegen scharf abgeschmeckt in Essig und Öl. Auch die schändliche Verschwörung der Apotheker, aus dieser Pflanze ein Mittel gegen Blähungen zu gewinnen, verlief glücklicherweise im Sande.

Die Tulpe blieb sie selbst, ein Gedicht der Natur, dem vulgärer Utilitarismus fremd ist. Zu Anfang also ist sie eine Blume der Monarchen, der Hochgeborenen und der Reichen, sehr wertvoll, in Gärten gehütet, unzugänglich. Die Zeitgenossen erdachten ihr eine Seele. Sie sagten, sie drücke Eleganz und vornehme Nachdenklichkeit aus. Sogar ihr Gebrechen, den Mangel an Duft, hielt man für die Tugend der Enthaltsamkeit. In der Tat, ihre kühle Schönheit hat einen sozusagen introvertierten Charakter. Die Tulpe läßt sich bewundern, sie weckt aber keine heftigen Gefühle wie Verlangen, Eifersucht, Liebesglut. Sie ist der Pfau unter den Blumen. So schrieben die höfischen »Gartenphilosophen«. Die Geschichte hat bewiesen, daß sie irrten.

Bekanntlich steckt der Geschmack der Höfe an, er wird häufig nachgeahmt, und zwar von niedrigeren Schichten, wofür sie die verdiente göttliche Strafe trifft. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts notieren die Chronisten in Frankreich die ersten Symptome des – nennen wir es einmal so – jähen Tulpenfiebers. Da trennt sich 1608 ein Müller für eine einzige Zwiebel der seltenen, Mere brune genannten Sorte von seiner Mühle; ein junger Ehemann soll begeistert gewesen sein, als sein Schwiegervater ihm statt einer Mitgift eine wertvolle Zwiebel gab, die dem Anlaß entsprechend Mariage de ma fille hieß; ein anderer Enthusiast zögerte nicht, seine gutgehende Brauerei gegen eine Zwiebel einzutauschen, die seit der Zeit den nicht eben vornehmen Namen Tulipe brasserie trägt.

Die Beispiele ließen sich vermehren, man könnte ohne Mühe nachweisen, daß dort, wo die Tulpe auftauchte, weniger oder mehr Fälle von Tulpenmanie notiert wurden. Doch nur in Holland erreichte sie die Intensität und das Ausmaß einer Epidemie. Es ist nicht leicht, genau zu bestimmen, wann die Tulpe zum ersten Mal in den Niederlanden erschienen ist. Wir wissen zum Beispiel, daß 1562 im Hafen von Antwerpen eine Ladung Tulpenzwiebeln in Empfang genommen wurde. Doch das intensive Interesse an dieser Blume setzte erst Jahrzehnte später ein und war sicher eine Spiegelung der Mode, die an den Königshöfen, besonders am französischen, herrschte. Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts geschah etwas, das ein unwichtiger Fall aus der Kriminalchronik zu sein scheint, in Wirklichkeit aber eines der ersten Symptome der Tulpenmanie auf holländischem Boden darstellt.

Der bereits erwähnte Carolus Clusius, war ein weitbekannter, dabei aber etwas redseliger und vielleicht sogar eitler Gelehrter. Bei jeder Gelegenheit erzählte er nicht nur seinen Universitätskollegen, sondern auch zufälligen Zuhörern von den Pflanzen, die er züchtete. Am häufigsten redete er voll Begeisterung und unverhohlenem Stolz von den Tulpen, die er, wie er behauptete, für keine Schätze der Welt hergeben würde. Das war eine klare Provokation, worüber sich der Gelehrte sicher keine Rechenschaft ablegte. In einer – sagen wir einmal – mondlosen Nacht drangen unbekannte Täter in die Universitätsgärten ein und stahlen Clusius‘ Tulpen. Die Diebe müssen wissenschaftlich hochqualifiziert gewesen sein, da ihnen ausschließlich die wirklich seltenen und teuren Sorten zum Opfer fielen. Der verbitterte Botaniker kümmerte sich von nun an bis an sein Lebensende nicht mehr um diese Pflanze. Die ganze Geschichte erinnert an die Ballade vom Zauberlehrling. Plötzlich trat eine Transmutation ein. Der Gegenstand geduldiger wissenschaftlicher, also uneigennütziger Studien verwandelte sich in das Objekt wahnwitziger finanzieller Transaktionen. Und nun drängt sich die Frage auf: Warum hat ausgerechnet die Tulpe und nicht eine andere Blume den Irrsinn ausgelöst?

Gründe gab es mehrere. Wie gesagt, die Tulpe war eine aristokratische und hochgeschätzte Blume. Welche Wonne, etwas zu besitzen, worauf Monarchen stolz sind! Außer diesen snobistischen bestanden auch sozusagen rein naturwissenschaftliche Gründe. Die Tulpenzucht verursachte keine großen Probleme und Schwierigkeiten. Es handelte sich um eine dankbare, leicht einzugewöhnende Pflanze. Wer auch nur ein kleines Stückchen Erde sein eigen nannte, konnte sich dieser Leidenschaft hingeben. In den holländischen Gärten grassierte eine Virusart, die bewirkte, daß die Blütenblätter der Tulpen phantastische Formen mit ausgefransten und gewellten Rändern annahmen. Binnen kurzem lernte man, aus dieser Pathologie Nutzen zu ziehen. Schließlich aber – und das ist für unsere Überlegungen zu den naturwissenschaftlichen Voraussetzungen der Tulpenmanie besonders wichtig – gibt es keine andere Blume mit einer solchen Fülle von Sorten. Die Uberzeugung setzte sich fest, diese Pflanze habe eine spezielle Eigenschaft, sie bringe früher oder später spontan, das heißt ohne Mitwirken des Menschen, neue Mutationen, neue vielfarbige Formen hervor. Man sagte, die Natur liebe diese Blume und spiele mit ihr unablässig. Etwas weniger hochtrabend ausgedrückt bedeutete das: Der Käufer einer Tulpenzwiebel befand sich in der Lage eines Lotteriespielers. Das blinde Schicksal konnte ihn mit einem großen Vermögen bedenken.

In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts rühmten die Holländer sich dreier Errungenschaften, ihrer mächtigen und unbesiegten Flotte, ihrer »süßen Freiheit, die größer ist als in jedem anderen Lande«, und – wenn man das überhaupt in einem Atemzuge nennen darf – mindestens einiger hundert Tulpensorten. Der Wortbestand schien diesem Reichtum der Natur nicht nachzukommen. Es gab zu jener Zeit fünf Sorten Wunder, vier Smaragde, ja dreißig Muster der Vollkommenheit (was einen gewissen semantischen Mißbrauch des Wortes darstellt). Die Phantasiebegabten erfanden poesievolle Namen wie Königlicher Achat, Diana, Harlekin, und die Phantasielosen nannten ihre Exemplare einfach Bunte, Jungfrau, Rot-Gelbe. Um den wachsenden Anforderungen zu genügen, führte man die militärischen Dienstgrade ein, ja, man griff sogar auf die Historie zurück. Wir haben also eine Admiral van Enckhuysen, eine General van Eyck und viele andere, was ein schlauer Züchter kühn zu überbieten versuchte, indem er seine Sorte General der Generäle nannte. Natürlich gibt es auch eine König, Vizekönig, Herzog, als hätte man in diese ganze an das Chaos grenzende Vielfältigkeit die aristokratisch- militärische Ordnung einführen wollen. Die ungeheure Menge von Tulpensorten, die in Holland gezüchtet wurde, weckt Bewunderung und Benommenheit, doch steckte darin bereits der Keim der Katastrophe. Werden zu einem Spiel nur wenig Karten benötigt, so ist es in der Regel höchst einfach und kommt schnell zur Entscheidung. Wenn dagegen die Spieler – sagen wir einmal – mehrere vollständige Kartenspiele benutzen, öffnet sich das Feld für komplizierte Kombinationen, eine intelligente Strategie, ein ausgewogenes Risiko und raffinierte Methoden. Ähnlich war es mit den Tulpen. Man mußte sich nur darüber einig werden, welche Sorten den Wert von Assen haben sollten und welche den von Luschen.

 Das ist natürlich ein sehr vereinfachtes Schema, die erste schüchterne Annäherung an das Thema. Ludistische Elemente spielten zweifellos eine Rolle, ihrem Wesen nach aber ist die Tulpenmanie ein sehr komplexes Phänomen. Entscheidend und gewichtig war wohl der ökonomische Aspekt des Problems. Anders gesagt, man durchsetzte die Ordnung der Natur mit der Ordnung der Börse, und die Tulpe verlor langsam ihre Blumeneigenschaften, ihre Blumenschönheit, sie verblaßte, verlor Farben und Formen und wurde zur Abstraktion, zum Namen, zum Symbol, das sich gegen eine bestimmte Geldmenge austauschen ließ. Komplizierte Tabellen entstanden, auf denen die einzelnen Sorten nach ihrem wechselnden Marktpreis verzeichnet wurden ähnlich Wertpapieren oder Währungskursen. Die Stunde der großen Spekulation hatte geschlagen. Während der ganzen Zeit der Tulpenmanie, mehr als ein Jahrzehnt also, hielt sich ganz oben an der Spitze dieser Preistafeln unwandelbar wie eine im Zenit erstarrte Sonne die Semper Augustus. Ihre Blütenblätter sind makellos weiß, an ihnen entlang verlaufen rubinrote, flammende Äderchen, und der Kelchgrund ist hellblau wie eine Spiegelung des heiteren Himmels. Es war wirklich ein besonders schönes Exemplar, der Preis aber, den Semper Augustus erreichte, 5000 Gulden – der Gegenwert eines Hauses mit weitläufigem Garten – läßt mich erschauern. Die Dämme des gesunden Menschenverstandes sind gebrochen. Von nun an werden wir uns auf den morastigen Gefilden krankhafter Phantasie, fiebrigen Gewinnstrebens, wahnwitziger Illusionen und bitterer Enttäuschungen bewegen.

Es kam vor, daß die Transaktionen in natura abgeschlossen wurden, was einen noch besseren Einblick in die Ausmaße des Irrsinns erlaubt. So wurde für eine Zwiebel der Tulpe Vizekönig – sie war halb so viel wert wie Semper Augustus – in Naturalien folgendes bezahlt:

2 Fuder Weizen
4 Fuder Roggen
4 fette Ochsen
8 fette Schweine
12 fette Schafe
2 Fäßchen Wein
4 Tonnen erstklassiges Bier
1000 Pfund Käse

und dann gab man zu all diesen Getränken, Speisen und Fettigkeiten noch ein Bett, einen Anzug und einen Silberpokal. In der Anfangsphase der Tulpenmanie stiegen die Preise unablässig, die Tendenz war zunächst, wie die Makler sich ausdrücken würden, freundlich, dann lebhaft bis sehr lebhaft, um am Ende ziemlich schnell in einen von der normalen Vernunft ganz und gar nicht mehr kontrollierten Zustand der Euphorie überzugehen.

Immer tiefer klaffte der Abgrund zwischen dem realen Wert der angebotenen Zwiebeln und dem Preis, den man für sie bezahlte. Und man zahlte gern, freudig, als erwartete man das nahe Lächeln des Schicksals. Die Mehrheit der Tulpomanen spekulierte auf Hausse, das heißt in der Überzeugung, der Konjunkturanstieg werde ewig dauern (erinnern sie nicht an die vom ewigen Fortschritt Besessenen?), eine heute gekaufte Zwiebel werde ihren Wert morgen, spätestens übermorgen verdoppeln. Die Verkäufer berücksichtigten die Möglichkeiten der Käufer überhaupt nicht, schlimmer noch, die Käufer verloren gleichsam völlig ihren Selbsterhaltungstrieb und berücksichtigten ihre eigenen Möglichkeiten nicht mehr. Die hektische Stimmung, der Geist des Risikos, die alle großen Börsenspekulationen begleiten, sind allgemein bekannt. Doch was sich im Falle der Tulpenmanie zeigte, war ernsthafter und pathologischer als eine Stimmung. Wir haben mehrmals die Börse erwähnt, aber man darf das nicht wörtlich nehmen. Eine offizielle Tulpenbörse gab es nie und konnte es nicht geben, weil diese Institution Offenlegung voraussetzt, zwar eine beschränkte Zahl von Berechtigten zuläßt, aber die Ergebnisse der Transaktionen der interessierten Gesamtheit zugänglich macht.

Wir wissen, daß der wilde Tulpenhandel bei den Behörden Besorgnis und Beunruhigung erregte. Man erließ Verordnungen mit dem Ziel, diese bedrohliche gesellschaftliche Erscheinung wenn nicht zu eliminieren, so doch mindestens einzuschränken und zu mäßigen. Es half indessen nicht viel, genauer gesagt, es hatte einen der Absicht genau entgegengesetzten Erfolg. Die Elemente lassen sich nicht durch sanftes Zureden stillen. Da die ganze Prozedur inoffiziell war, ja den Charakter eines verbotenen Spiels trug, wurde sie um so anziehender und gewann ständig neue Adepten. Genau wie zu Zeiten der Prohibition. Auch die gemäßigten Liebhaber berauschender Getränke manifestierten ihre Freiheit durch übermäßigen Alkoholgenuß.

Natürlich gibt es keine Statistiken, die uns sagen, wie viele Personen von der Tulpenmanie befallen wurden. Man darf jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit vermuten, daß die Zahl in die Zehntausende ging. Zudem – und das ist besonders wichtig – lassen sie sich keiner bestimmten sozialen Gruppe zurechnen. Es gibt unter ihnen Reiche und Arme, Kaufleute und Weber, Schlachter und Studenten, Maler und Bauern, Torfgräber und Dichter, städtische Beamte und Altwarenhändler, Matrosen und würdige Witwen, allgemein geachtete Personen und Beutelschneider. Sogar die Bekenner aller mehr als zwanzig Konfessionen nehmen einträchtig teil an diesem Wettlauf zum Glück. Selbstverständlich riskieren die Armen mehr, sie riskieren alles. Wenn wir lesen, daß ein in den Wirbel der Spekulation gezogener Handwerker sein Werkzeug versetzte, wird uns die Situation in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit bewußt. Die Prediger wettern von den Kanzeln gegen die unzüchtige Tulpenmanie, sie selbst aber, so behaupten Boshafte, schleichen heimlich in andere Städte, um dort ohne unerwünschte Zeugen der sündigen Leidenschaft zu frönen.

Aber lassen wir die Pastoren; sie werden sich beim Jüngsten Gericht schon irgendwie rechtfertigen. Schlimmer, ja geradezu schandbar ist, daß man Kinder in die Aktion einbezog. Weil der Erfolg im Spiel u. a. darauf beruhte, möglichst viele Informationen zu sammeln – Preise, Orte der Transaktion, Fluktuationen der Konjunktur oder, einfacher gesagt, welche Tulpenzwiebeln hat der Nachbar in der Brusttasche fortgetragen, und für wieviel hat er sie in der Taverne »Zum schreienden Esel« verkauft? – mußte das häufig ein Halbwüchsiger herausfinden, der die unwürdige Funktion des Spions erfüllte.

Vom epidemischen Charakter der Tulpenmanie zeugt ihre riesige territoriale Reichweite. Sie befiel nicht nur die traditionellen Gartenbaugebiete wie z. B. die Gegend von Haarlem, sondern auch Amsterdam, Alkmaar, Hoorn, Enkhuizen, Utrecht, Rotterdam, also alle größeren Ballungsräume in Holland. Und gerade dort zählte man die meisten Opfer. Der Bazillus der Tulpenmanie grassierte überall, bedrohte alle. Doch gibt es etwas, das wir die Kraft der Vernunft nennen, und sie bildet – selten genug – eine wirksame Waffe gegen die entfesselten irrationalen Mächte. Wir wissen sehr gut, Holland war ein Land lesender Menschen, kluger Autoren, gebildeter Buchhändler und aufgeklärter Verleger. Aktuelle Probleme fanden sehr schnell Widerhall auf dem Papier, und das betraf  nicht nur die ernsthaften politischen und religiösen Streitigkeiten, sondern auch den Fall der Tulpenmanie, die wegen ihrer Größenordnung verständliche Unruhe hervorrief und bei den nüchternen Bürgern auf entschiedenen Widerstand und Protest stieß. Doch was half es, der Staat war liberal, die öffentliche Meinung vielfältig, folglich erschienen neben vernünftigen Stimmen auch Schriften, die eine Art praktische Einführung in die Prinzipien der Tulpenspekulation darstellten, Prolegomena des Wahns, Handbücher für den Selbstunterricht im Irrsinn.

Das ganze Land ist mit einem Netz mehr oder weniger bekannter, geheimer und fast öffentlicher »Höhlen« des Tulpenhazards überzogen. Dahinter steht keinerlei dämonische Kraft, sondern die schlichte Regel jedes großen Spiels, jedes mächtigen Lasters – möglichst viele Menschen hineinziehen und umgarnen! Weil man den Irrsinn nicht logisch begründen kann, braucht man zu seiner Verteidigung eine gute Statistik – so handeln alle oder fast alle, auch die Politiker. Eliminieren, die Zahl derjenigen deutlich vermindern, die abseits stehen, kritisch zuschauen, das Spiel verderben. Die Welt der Tulpomanen strebt danach, eine totale Welt zu werden.

Die Manie ist ein feierlicher Seelenzustand. Wer sie nicht mindestens einmal erlebt hat, ist in gewissem Sinne ärmer. Außerdem brachte sie unter bestimmten Umständen Nutzen. Ein gänzlich Unbekannter, weder Dichter noch Maler noch Staatsmann, ein gewöhnlicher Mensch erinnert sich mit unverhohlenem Sentiment an die Zeit der Tulpenmanie. Er hieß Woermondt, amtierte stets in derselben Taverne und hatte die Funktion eines Maklers. Zwischen zwei Transaktionen »aß ich gebratenes Fleisch und Fisch, auch Hühner und Hasen, ja sogar feine Pasteten. Dazu trank ich Wein und Bier vom frühen Morgen bis drei oder vier Uhr in der Nacht. Immer trug ich mehr Geld in meiner Tasche mit fort, als ich am Anfang des Tages hatte«. Ein wahres Schlaraffenland, das Land der satten Träumerei.

 

III

»La maladie infectieuse tend ä la fois ä se perpetuer et, pour assurer cette perpetuite, ä se modifier suivant les circonstances.«

Charles Nicolle (1866-1936)

 

Der Höhepunkt der Tulpenmanie fällt auf die Jahre 1634 bis 1637. Im Winter 1637 erfolgte der mächtige Krach; die gesamte illusionäre Welt fiel in Trümmer. Wenn es jemandem gelänge, die Kurve des Tulpenfiebers zu rekonstruieren, würde sich herausstellen, daß sie der Fieberkurve eines Patienten mit einer schweren Infektionskrankheit zum Verwechseln ähnlich sieht – die Linie steigt steil an, hält sich eine Zeitlang auf großer Höhe und fällt zum Schluß scharf ab; das aber bedeutet das Ende. Manche meinen, der Sieg über die Tulpenepidemie sei das Verdienst des gesunden Teils der holländischen Gesellschaft. Er habe einen cordon sanitaire gebildet und die Ausbreitung der Krankheit eingedämmt. Es fehlte auch wirklich nicht an Leuten, die sich der Tulpenmanie aktiv entgegenstellten. Die Opposition muß ziemlich stark gewesen sein, da sich bis heute eine ganze Anzahl Broschüren, Flugblätter, Pamphlete, Satiren und Zeichnungen aus jenen Zeiten erhalten haben, in denen die unseligen Irrsinnigen mitleidlos ausgelacht werden. In der Umgangssprache nannte man sie die »Kapuzen«, also die Verrückten. Die Geisteskranken nämlich trugen damals in die Stirn gezogene Kapuzen – eine eigentümliche Maßnahme zum »visuellen« Schutz des gesunden Bevölkerungsteils.

Henrick Pot, ein Maler von Gruppenporträts, religiösen Bildern und Genreszenen, hat unter dem Schleier einer durchsichtigen Allegorie in seinem Werk Der Narrenwagen die Manie dargestellt, die das Land heimsuchte. Auf diesem Wagen sieht man Flora die drei wertvollsten Tulpensorten halten: Semper Augustus, General Bol und Admiral Hoorn. Hinter dem Schutzgeist der Natur fünf symbolische Gestalten, der Faulpelz, der Geldgierige und der Trinker sowie die beiden Damen Vergebliche Hoffnung und Elend. Hinter dem Wagen her läuft eine große Menge und ruft: Auch wir wollen unsere Tulpen.

Mehrere Institutionen, von der Gilde der Blumenhändler bis zu den Generalstaaten, d. h. dem Parlament, beschlossen, dem Irrsinn Einhalt zu gebieten. Es hagelte also Verordnungen und Gesetze, die zunächst halbherzig waren und unwirksam blieben, dann aber in dem drastischen Dekret der Generalstaaten vom April 1637 gipfelten, durch das alle  pekulationsvereinbarungen annulliert und zugleich ein Höchstpreis für die Tulpenzwiebel festgelegt wurde. Er betrug 50 Gulden. Plötzlich war die Semper Augustus nur noch den hundertsten Teil ihres Börsenpreises wert. Das alles geschah schnell und unerwartet wie eine Palastrevolution, wie die Entthronung eines Kaisers.

 Die Bemühungen der Behörden zur Bekämpfung der Tulpenmanie, ihre Sorge um Schicksal und Vermögen der Bürger sind natürlich lobenswert und vollauf zu würdigen. Doch scheint es, als ob die Mehrzahl der Forscher ihnen irrtümlicherweise die entscheidende Rolle zuschreibt. Aus Erfahrung wissen wir, daß alle Verbote und Prohibitionen in Fällen einer, sagen wir es so, Narkomanie von hoher Intensität dem Vorhaben genau entgegengesetzte Folgen zeitigen. Seit Adam und Eva sind die verbotenen Früchte stets die begehrtesten. Unserer Meinung nach ist die Tulpenmanie von ihrem eigenen Irrsinn umgebracht worden. Beweise zur Stützung dieser These liefert die Analyse der wechselnden Stimmungen an der Tulpenbörse. Zur Zeit der Euphorie waren die Gewinne der Spekulanten ungeheuer, nur daß sie sich nicht immer in Bargeld ausdrückten, sondern in Kredit. Der Eigentümer der Sorte Semper Augustus wurde allgemein für einen reichen Mann angesehen, konnte also hohe Schulden machen und tat das meistens auch. Die wilden Börsenumsätze wurden immer abstrakter. Man verkaufte keine Zwiebeln mehr – ihr Wert war rein formell, immer weiter entfernt von der Wirklichkeit und vom gesunden Menschenverstand – sondern Zwiebelnamen, als wären es Aktien, und diese wechselten ihren Besitzer oft zehnmal täglich.

Die Krise war lange vor dem Eingriff der Staatsmacht ausgebrochen. Am 3. Januar 1637, mehr als drei Monate vor dem Dekret der Generalstaaten, kaufte ein Amsterdamer Gärtner als günstige Gelegenheit eine sehr wertvolle Tulpenzwiebel für 1250 Gulden. Zunächst beglückt, erkannte er binnen kurzem, daß er sie nicht würde verkaufen können, nicht für die Hälfte, ja nicht einmal für ein Zehntel seiner Kosten. Jetzt nämlich fiel der Kurs steil ab, und das Spiel drehte sich nicht mehr darum zu verdienen, sondern darum, möglichst wenig zu verlieren. Die ganze Geschichte dieser unseligen Affäre ist zwischen zwei Polen eingespannt, dem langen, verzweifelten Streben der Menge nach Reichtum und der jähen, wilden Panik.

Wie ist die Bilanz? Weil alles nicht in der Öffentlichkeit stattfand, sondern an deren Rändern, in den dunklen Korridoren, in den Souterrains des offiziellen Lebens, fällt es schwer, die Ausmaße der Katastrophe in meßbaren Werten anzugeben. Aber die Bilanz war zweifellos tragisch. Tausend ruinierte Vermögen, zehntausend Menschen ohne Arbeit, dazu noch von Prozessen bedroht. Den Bankrotteuren blieben wenige Auswege: Die Meldung zur Flotte – was einige Qualifikationen erforderte – oder die Bettelei – wozu keine spezielle Begabung nötig war.

Man braucht uns nicht zu erklären, daß es sich »nur« um eine bürgerliche Tragödie handelte. Die Skala der Leidenschaften bei den Blumenspekulationen gleicht der Skala eines Heldentenors in der Oper. Die Arie der Börsenhaie war laut und trivial – das ist offensichtlich. Und wenn wir die Theateranalogien noch weiter an den Haaren herbeiziehen wollen – man spielte ohne Schwert und Blut, sogar ohne Gift. Warum dann, zum Teufel, wird die Phantasie angerührt?

*

Die Tulpenmanie, der größte uns bekannte botanische Wahn, ist eine Marginalie am Rande der großen Geschichte. Wir haben sie nicht ohne Grund gewählt. Man muß es ehrlich bekennen: Wir haben einen seltsamen Gefallen daran, den Irrsinn in den Behausungen der Vernunft darzustellen, wir beschäftigen uns gern mit Katastrophen vor dem Hintergrund einer milden Landschaft. Doch gibt es gewichtigere Gründe als flüchtige persönliche oder ästhetische Neigungen. Denn erinnert die beschriebene Affäre nicht an andere, bedrohlichere Wahnsinnstaten der Menschheit, die auf der unvernünftigen Bindung an eine einzige Idee, ein einziges Symbol, eine Glücksformel beruhen?

Deshalb können wir hinter das Jahr 1637 nicht einen dicken Punkt setzen und den Fall für definitiv beendet halten. Es ist unvernünftig, ihn aus dem Gedächtnis zu tilgen oder den unbegreiflichen Seltsamkeiten der Vergangenheit zuzurechnen. Wenn die Tulpenmanie eine Art psychischer Epidemie war – und wir wagen das zu glauben – besteht die an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit, daß sie uns eines Tages in dieser oder jener Form wiederum heimsucht. In irgendeinem Hafen des Fernen Ostens geht sie gerade an Bord.

 

Aus dem Polnischen übersetzt von Klaus Staemmler


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