Nr. 158, April 1961

Das Kino der Autoren

Von Alfred Andersch

 

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Die Grundbehauptung Andre Bazins, des zu früh gestorbenen Chefs der Cahiers du Cinema, war die Forderung nach dem „cinema impur“. Er definierte damit die neuen französischen Intentionen. Dementsprechend kann Enno Patalas, der vorzügliche deutsche Filmkritiker, über Resnais‘ Hiroshima mon amour schreiben: „Kein anderer Film dementiert so nachdrücklich die vorgefaßten Konzeptionen des ‚reinen‘, des ‚filmischen‘ Films, wie sie die Avantgarde der zwanziger Jahre in der filmischen Praxis und Autoren wie Balazs und Arnheim in der Theorie begründet haben. haben. Diese wollten den Film von der Literatur befreien, Resnais“ (lies: Bazin, Astruc, Rohmer, Truffaut, Godard u. a.) „befreit ihn von dem Zwang, ,Film‘ zu sein.“[1. In der Zeitschrift Film-Kritik, 4/60] Die These vom Film als der „siebenten Kunst“ wird also abgelehnt. Aber was soll der Film sein, wenn Resnais nicht den Film aus ihm machen will? Patalas erläutert: „Film ist für ihn nicht mehr die ,neue Kunst‘, sondern das Medium, in dem alle Künste aufgehen.“[1. ebenda] Eine fatale Antwort, denn mit dem gleichen Anspruch ist schon einmal eine andere Kunstform aufgetreten: die Oper. Der Film als Gesamtkunstwerk, Richard Wagner und Jean-Luc Godard, Bayreuth und die Cinecittà — das scheinen uns unmögliche Parallelen zu sein. Sie werden aber gezogen.

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Das „cinema impur“ also und das Dementi der Absicht, sich von der Literatur reinigen zu wollen. Hören wir uns weitere Nachrichten an: Der Regisseur Astruc erklärt, die Filme sollten „Bekenntnis und Schöpfung eines Einzelnen“ sein. Er nennt das: „Caméra-stylo“. Oder Truffaut: „Der Film von morgen erscheint mir noch persönlicher als ein Roman — individuell und autobiographisch wie eine Konfession.“[1. In der Zeitschrift Ciné-Club, 22/1960] Mit Les quatre-cents coups schreibt er sich infolgedessen seine ihn quälende Jugendgeschichte von der Seele. Desgleichen Godard, der durch seinen Kritikerfreund Moullet mitteilen läßt, A bout de souffle sei „ein Befreiungsversuch durch den Film“. Godard ist deshalb nicht — nicht mehr — Michel (der Held seines Films), „weil Godard ,A bout de souffle‘ gedreht hat und Michel nicht.“[1. In der Zeitschrift Film-Kritik, 4/60] Folgerichtig postulieren die Cahiers du Cinema. das „cinema des auteurs“. Immer wieder wird explizit erklärt, daß sich der Filmschöpfer als Autor fühle, daß er die Kamera benützen wolle wie eine Schreibfeder. Daher der Rückgriff auf den genialen, jung gestorbenen Jean Vigo, der mit Zero de conduite (1933) eine Inkunabel persönlichster Film-Poesie bereitstellte. Daher der Angriff gegen die übliche Verfilmung von Literatur, die einfache Adaptation irgendwelcher Stoffe durch „Dramatisierung des Handlungsverlaufs, Vereinfachung der Psychologie, Übersetzung von Reflexion in Dialog, große Besetzung, geschmackvolle Dekoration, atmosphärische Fotografie: die gediegene Ausführung in kostbarem Material“ (Patalas).

 

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Hier beginnen bereits außerordentliche Interpretationsschwierigkeiten. Die Vermischung des Films mit der Literatur bezieht sich nämlich, wenn wir recht verstehen, nur auf einen zwar grundlegenden, aber doch engen Aspekt der Literatur: die Literatur als subjektive, persönliche Konfession. Ohne Zweifel ist Subjektivität das Element, das einen Text literarisch konstituiert. Individuation als Prinzip ist aber auch im literarischen Kunstwerk erhalten, das sich objektives Erkennen zum Ziel gesetzt hat, z. B. im Roman des 19. Jahrhunderts. Das autobiographische Bedürfnis ist ein sehr begrenzter Antrieb zum „cinema impur“. Immerhin ist es ein starker, ein entscheidender Antrieb. Aber wird der Wunsch, sich vom Zwang des „reinen“ Films zu befreien, erhalten bleiben, wenn Godard nicht mehr Michel ist und nachdem Truffaut seine Konfession gedreht hat? Bazin hat die jungen Regisseure auf Möglichkeiten der Verfilmung von Literatur hingewiesen, die über die Adaptation hinausgehen: auf Bressons Film Tagebuch eines Landpfarrers etwa, in dem sich die Qualität von Bernanos‘ Buch spiegelt. (Glücksfälle solcher Art sind in der Filmgeschichte freilich rar.) Malles Zazie und Claytons Room at the top zeigen, daß auch diese Chance weiter gesehen wird. Aber die Gefahr der Verwechslung von Subjektivität mit Subjektivismus erscheint bedrohlich, wenn man sich das Gros der Produkte ansieht. Man hat den Drachen der Literatur steigen lassen, aber die Schnur, mit der ihn die spielenden Knaben von der Rolle drehen, ist äußerst dünn.

 

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Auf den ersten Blick erscheint es paradox, daß man im gleichen Moment, in dem man die Verbindung von Literatur und Film proklamiert, das Medium, in dem sie sich bisher ausbildete, das Drehbuch, in seiner Bedeutung reduziert. Natürlich ist die Behauptung, die jungen Regisseure gingen einfach auf die Straße und überließen sich dort ihren Gefühlen und der Kamera, eine Legende. Aber keine Legende ist es, daß sie nur ungern nach festgelegten Drehbüchern arbeiten; sie suchen vielmehr nach literarischen Vorlagen, die ihnen einen weiten Spielraum spontaner Interpretation lassen, was die Beliebtheit der Texte von Marguerite Duras erklären mag.

Das Drehbuch — ohne das es technisch nur selten geht — wird dem Prinzip der „caméra-stylo“ untergeordnet, und zwar nicht nur bei den ersten Filmen, sondern auch in einem fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung. So erklärt Resnais, während der Dreharbeit von L’Année dernière à Marienbad, der freien Wiedergabe eines Romans von Robbe-Grillet, nach dem Gegenstand dieses Films befragt: „Auf diese Frage könnte ich leichter in einigen Monaten Auskunft geben, weil dieser Film sowohl für Alain Robbe-Grillet, der das Drehbuch schrieb, als auch für die Schauspieler und für mich selbst eine Reihe von Rätseln darstellt, die wir dadurch zu lösen suchen, daß wir den Film drehen.“[1. Süddeutsche Zeitung, Gespräch mit A. R., 15./16. 10. 60]

Das Drehbuch wird hier auf geistvolle Weise als Fragebogen behandelt. Der absolute Geniestreich der neuen Bewegung, Godards A bout de souffle, beruht auf einem Zehn-Zeilen-Expose von Truffaut. Über seine Realisation berichtet Patalas: „Godard läßt minutenlange Dialoge von seinen Helden sprechen, während sie die Champs-Elysees entlangschlendern; Raoul Coutard, der Kameramann, hat sich in einem kleinen Dreiradwagen vor ihnen her fahren lassen, und man sieht deutlich, wie sich Passanten auf der Straße nach der Gruppe umdrehen — ein ,Schnitzer‘, der keinem Routinier passieren würde. Die Frechheit, mit der sich Godard mit der Kamera auf die Straße wagt, ist aber die Voraussetzung für die in die Augen springende Realistik des Films. Godards Kamera scheint wirklichkeitshungrig zu sein . . . Die besten Resultate zeitigt Godards erfinderische Kühnheit in der elliptischen Montage einiger Szenen. In fortlaufenden Einstellungen — etwa der Großaufnahme eines Dialogpartners der Amerikanerin — fehlen zwischendurch Stücke, so daß die Bewegungen ruckhaft werden wie bei einem schadhaften Filmstreifen. Bald merkt man die Absicht hinter diesem rüden Verfahren: die Einstellung wird auf diese Weise auf die wichtigsten Stellen in ihrem zeitlichen Verlauf reduziert. Statt so zu inszenieren, daß nichts Unwesentliches in der Einstellung vorgeht — was stets eine Stilisierung bedeutet —, werden nachträglich die unwesentlichen Partien eliminiert. Es entsteht ein Stenogrammstil.“[1. Film-Kritik 6/60]

Solche Methoden, die in Malles Zazie-Film und in Truffauts Tirez sur le pianiste in die äußerste technische Dynamik getrieben werden, lassen sich in Drehbüchern gar nicht mehr fixieren. Statt dessen spielt die Montage in der Auffassung, wie Eisenstein sie entwickelt hat, eine hervorragende Rolle. Die Befreiung des Regisseurs vom Drehbuch soll dem „cinema impur“ dienen; darin liegt die Aufhebung des Widerspruchs, daß man die Verbindung zwischen Literatur und Film wünscht, die klassische Form dieser Verbindung aber, das Drehbuch, löst. Die neue Dramaturgie will den Regisseur in einen Autor verwandeln, den Film in ein „cinema des auteurs“, die Technik in „caméra-stylo“. Man kann es nicht oft genug wiederholen, daß solche Intentionen ausgesprochen worden sind. Sie werden präzis formuliert. Betrachtet man aber die Praxis, so ergibt sich ein verwirrendes Bild. Man erblickt dann, — mit der Ausnahme von Resnais —, keine Beziehung der neuen Regisseure zur Literatur im Sinne literarischer Bildung, umfassender Intellektualität, persönlicher Beziehung zur Dichtung. Wie seit eh und je in der Filmgeschichte werden bedeutende Filme nach sehr kleinen literarischen Vorlagen gedreht. In vielen Fällen erschöpft sich mit dem ersten Konfessionsfilm der Regisseur als Autor. Dennoch erscheint der neue Film auf eine spezifische Weise literarisiert, und zwar nicht nur dadurch, daß die Sprache und das Sprechen in ihm eine außerordentliche Rolle spielen. Es handelt sich da mehr um ein Fluidum; zwischen eleganter These und vagem Empfinden fehlt der vermittelnde Gedanke. Die École Cahiers hat die Kritik entwickelt, ehe sie ihre Zöglinge in die Aktion entließ, aber zwischen Kritik und Aktion fehlt die Theorie, das Durch-Denken der Lage. Das kann nicht anders sein. Die Theorie einer literarischen Ästhetik des Films kann nicht vom Film, sie muß von der Literatur geleistet werden.

 

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Unser Verdacht, der neue Film wolle sich mit der Literatur einlassen, ohne die Folgen des Verhältnisses recht einzuschätzen, verstärkt sich, wenn wir den Kult des sogenannten B-Films beobachten, den die junge französische Regie-Schule betreibt. B-Filme sind in den USA billig hergestellte „thrillers mit rasanter Aktion“ (Patalas). A bout de souffle ist ausdrücklich der Firma Monogram Pictures gewidmet, die solche Filme exportiert; Godard will mit dieser Widmung, die den Film einleitet, dezidiert seine künstlerische Herkunft mitteilen. In den französischen Listen der „Besten Filme des Jahres“ rangieren regelmäßig Filme wie Howard Hawks Bio Bravo, Aldrichs Kiss me deadly oder Nicholas Rays Party Girl, — Westerns und „films noirs“, die in anderen Ländern und in den USA gänzlich unbeachtet bleiben. In diesen Komplex gehört auch die hohe Schätzung Hitchcocks, dem Chabrol und Rohmer eine umfangreiche Studie gewidmet haben. Godard hat diesen „trend“ in der Sequenz der stummen Zwiesprache seines Helden Michel mit einem Foto von Humphrey Bogart auf eine Formel gebracht.

Kolportage kann ein Stilmittel sein, auch wenn sie von jenem Teil der deutschen Literaturkritik, die Hemingway und Graham Greene am liebsten ins Regal des gehobenen Zeitvertreibs verweisen möchte, als solches noch nicht wahrgenommen worden ist. Ein Roman, ein Film brauchen nicht unbedingt langweilig zu sein, damit man sie ernst nehmen kann. In einer ganzen Reihe von neuen französischen Filmen wird Kolportage in Semantik verwandelt; die Attribute des schwarzen Milieus erscheinen als Zeichen metaphysischer Situationen. Spezifisch literarisch ist auch der eigentliche Grund für die französische Neigung zum B-Film: die schon seit Gide traditionelle Fasziniertheit von machtvollen Bildern eines brutalen Milieus mit einsamen Helden, wie sie die amerikanische Literatur bietet; die „Verwandlung der griechischen Tragödie in eine Detektiv-Story“, von der Malraux anläßlich Faulkners „Sanctuary“ bewundernd spricht. Natürlich schätzt man am B-Film nichts als die unbewußt enthüllenden Bilder der amerikanischen Realität, die er liefert. Andererseits aber baut sich auf dem B-Film eine filmische Ästhetik auf, die den Zeichen-Charakter emanzipieren und den Film zur reinen Formsprache reduzieren will. Es wäre leicht, diese Tendenz bei Chabrol nachzuweisen, dessen Filme mit der kryptofaschistischen Mentalität gewisser Teile des jungen französischen Bürgertums korrespondieren; signifikanter ist es, wenn ein ausgesprochen links engagierter Kritiker wie Rene Guyonnet erklärt: „Ich weiß, es ist leichter, Filmen wie ,Stars‘ oder ,Come back, Afrika‘ zuzustimmen, deren klassischer Humanismus und thematische Noblesse deutlich genug ist — auch wenn ihre filmische Sprache vielleicht nicht so bedeutend ist wie ihre Themen. Sogar ein Film wie ,Pather Panchali‘, der Gefühl für die Poesie seiner Bilder und seiner Musik verlangt, bietet wenig Schwierigkeiten, denn er enthält nichts, was sich störend zwischen seine Poesie und seine Betrachter schiebt. Aber Westerns und ,films noirs‘ sind vielleicht der beste Test für den Film-Kritiker, denn ihr Wert besteht sehr oft in weiter nichts als ihrer Form, ihrer Technik, ihrer Ikonographie, kurz, aller Elemente, die den Film von der Literatur scheiden“.[1. Zitiert nach „Sight and Sound“, Herbst 1960, wie alle weiteren Zitate in Abschnitt 5 und 6]

Hier geht man also plötzlich wieder auf die Theorie der „siebenten Kunst“ zurück, in striktem Gegensatz zu allem, was Bazin angedeutet und Resnais ausgeführt hat. Rene Clairs Grundsatz, 35 Jahre früher formuliert, wird wieder voll in seine Rechte eingesetzt: „Die einzige Sache, die im Film zählt, ist der Wert des Bildes an sich, und nicht die Handlung, die bloß eine Vorlage ist.“ Die These wird bis zur letzten Konsequenz entwickelt, wenn ein Kritiker wie Fereydoun Hoveyda einem Film wie Rays Party Girl in den Cahiers einen elf Seiten langen Essay widmet. Ohne Umschweife erklärt Hoveyda: „Das Thema von ,Party Girl‘ ist idiotisch“, um daran die Frage zu hängen: „Aber ist damit irgend etwas gesagt?“, und dies ist die Antwort, die er darauf gibt: „Sollten die Verwicklungen der Handlung, die sich auf der Leinwand entrollen, das Substrat des kinematographischen Werks bilden, so bliebe uns nur übrig, die siebente Kunst an die Literatur anzuhängen und die Spalten der ,Cahiers‘ zu verlassen, um uns der literarischen Kritik zu widmen.“

Der Gedanke, der Film könne in der Tat ein Annex der Literatur sein, scheint für die Filmkritiker undenkbar zu sein. Auf jeden Fall betrachten sie ihn als diffamierend. So jedenfalls wird Bazin dementiert und die Ästhetik des „cinema impur“ daran gehindert, den letzten, den entscheidenden Schritt zu tun.

 

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Die englische Filmkritik hat der Katze sogleich die Schelle angehängt. Es hat nichts mit nationaler Rivalität zu tun, wenn die Gruppe um Sight and Sound ihre Position gegen die Cahiers du Cinema absteckt, denn das Britische Film-Institut muß sich auch gegen die jüngere englische Kritik wenden, die in Oxford Opinion die Thesen der Action Cahiers begeistert aufgreift und aus dem B-Film-Kult die extremen ästhetischen Konsequenzen zieht. So kann man über das momentane„Meisterwerk“ der B-Film-Mode, Samuel Fullers The Grimson Kimono, in Oxford Opinion lesen: „Fuller ist dann am besten, d. h. am schönsten, wenn seine Ideen am wenigsten inspiriert sind. Die aufregendsten Bilder kommen, wenn er totalen Unsinn produziert.“ Über einen B-Western, Comanche Station, heißt es: „,Comanche Station‘ benutzt seine Struktur nicht als Rahmenwerk für Ideen. Tatsächlich hat der Film so gut wie nichts zu sagen.“ Über Party Girl: „Dieser Film enthält eine Einstellung mit einer liegenden Frau, die ihre Hände in einem Bad bewegt, dessen Wasser rot ist vom Blut aus ihren aufgeschlitzten Schlagadern. Sogar an Rays Standard gemessen, ist diese Sequenz außerordentlich schön“ (outstandingly beautiful). Über Anthony Mann: „Er scheint uns eines Kults viel würdiger zu sein als John Ford; mindestens hat Mann niemals einen langweiligen Film gemacht.“

Penelope Houston und Richard Roud haben in der letzten Herbstausgabe von Sight and Sound diesen Tendenzen ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet und sie ebenso gründlich wie glänzend analysiert. Man befindet sich im Zentrum der europäischen ästhetischen Probleme überhaupt, und nicht nur in ihrem den Film betreffenden Ausschnitt, wenn man sie zur Kenntnis nimmt.

„Vieles in diesen Ansichten“, schreibt Miß Houston, „stammt aus den ,Cahiers du Cinema‘, zusammen mit der Liste der bewunderten Regisseure. Und es ist diese Liste, die fundamentale Gegensätze zu unserem Standpunkt enthüllt. Ein Brief von Ian Jarvies, einem der artikuliertesten der jungen Kritiker, gab uns schon vor zwei Jahren einen Hinweis. ,Die Jungen‘, so schrieb er, »bewegen sich auf einer seltsamen, isolierten, fast idiosynkratischen Linie: sie bevorzugen den späteren gegenüber dem Vorkriegs-Hitchcock, sie vergnügen sich an schnellen, harten, möglicherweise sadistischen Gangster-Filmen, sprechen rhapsodisch über Nazi-Filme und langweilen sich beim Neorealismus und ,Free Cinema‘.“

Miß Houston nimmt sich des Phänomens mit großer Geduld an. „Glänzendes Handwerk“, so räumt sie ein, „auch wenn es an Themen von größter Banalität arbeitet, kann eine berauschende Erregung um der Erregung willen hervorrufen; die Bedingungen der Film-Arbeit erlauben es beinahe keinem schöpferischen Arbeiter, ununterbrochen nichts anderes zu sein als Künstler, und so sind wir daran gewöhnt, das, was uns begeistert, in Werken zu finden, die nur zur Hälfte Kunstwerke sind; mit anzusehen, was das erstklassige Talent aus einem drittklassigen Sujet macht, sogar mitzuerleben, wie es gegen das Sujet arbeitet, um ihm etwas von seinem eigenen Inneren mitzuteilen. Besonders im amerikanischen Film wird man ja vom ,großen Thema‘ oft geradezu erschlagen; es sind die gelegentlichen Blicke auf die Realität, die uns viel mehr erfahren lassen. Aber von dieser Erfahrung her zu dem Glauben zu wechseln, das Thema als solches sei stets belanglos, heißt einen widersinnigen Sprung machen.“

„Eine solche Haltung ist aber, wie man vermuten darf, weit verbreitet. Und sie ist verständlich. Die Generation, die während der letzten Jahre herangewachsen ist, betrachtet Kunst als eine Art Rauschmittel: Filme ,die Nerven und Gefühle strapazieren; Jazz und die Erregungen, die ihn umgeben; manirierte Schauspielkunst mit ihrer sorgfältig geplanten Illusion von Spontaneität. Das Verbrechen wird auf der Leinwand als Stimulans betrachtet, und alles, was als langsam oder gefühlvoll bezeichnet werden könnte, ist verdächtig. Im Widerspruch dazu herrscht wenig Vorliebe für das bewußt Zynische und geistvoll Versnobte. Man ist weit entfernt von Enttäuschung oder dem Gefühl einer Niederlage; es handelt sich einfach um Gleichgültigkeit aller Kunst gegenüber, die sich nicht auf die eigenen Maßstäbe bezieht, und den kritiklosen Glauben daran, diese Maßstäbe seien die einzig wertvollen.“

„Der Zeitraum zwischen meiner eigenen Oxford-Generation und der gegenwärtigen Gruppe von Oxford-Kritikern beträgt nur zwölf Jahre. Aber diejenigen von uns, die während des Krieges aufwuchsen, als das Verbrechen uns zu sehr auf der Haut brannte, um uns als Stimulans dienen zu können, die infolgedessen ihre Haltung zum Film in der Zeit des neorealistischen Experiments, des großen Ausbruchs von Kriegs- und Nachkriegsrealismus definierten, sind nicht geneigt, Kunst und Moralität, Kunst und Gesellschaft in ihrer Vorstellungswelt voneinander zu trennen.“

„Die Schwäche der Cahiers-Schule, sowohl in ihrem eigenen Land wie unter ihren Exponenten bei uns, scheint darin zu bestehen, daß sie einfach keine Erfahrung anerkennen will, die nicht im Film selbst stattfindet. So wird ihre kritische Sprache Fachsimpelei für die Eingeweihten, ihr Enthusiasmus grenzt sich selber ein, er introvertiert, so daß der Wert eines Films nicht mehr in seiner Beziehung zu einer Gesellschaft gesehen wird, aus der er sein Material bezieht, sondern in Beziehung auf andere kinematographische Erfahrungen. Man gefällt sich in Hermetik – so, als hätten die Adepten sich entschlossen, im Dunklen zu leben, als kämen sie nur manchmal heraus wie Maulwürfe, um ins grausame Licht zu blinzeln und ein paar Atemzüge frischer Luft zu schnappen, ehe sie wieder in die Dunkelheit eines anderen Kinos eintauchen.“

In solchen Analysen spiegelt sich die Tatsache, daß der junge englische Film, im Unterschied zu einem großen Teil der neuen französischen Produktionen, die Verbindung mit der Gesellschaft hält, ihr — auch im Zustand der Empörung und des Ärgers — kritisch dienen will. So betrachtet etwa die aus dem Redaktionsstab von Sight and Sound hervorgegangene Free Cinema-Produktion als ihr Hauptanliegen die „nonkonformistische filmische Bewältigung der sozialen Wirklichkeit“. Ihr Einfluß auf die kommerzielle Produktion ist deutlich: Filme wie Jack Claytons Boom at the top, Tony Richardsons Look back in anger, Karel Reisz‘ Saturday Night and Sunday Morning wären ohne „Free Cinema“, der Richardson, Reisz und Lindsay Anderson, dessen Spielfilm-Debüt bevorsteht, direkt angehören, nicht denkbar gewesen. Diese Entwicklung des englischen Films hängt natürlich zusammen mit der Wendung der jungen englischen Literatur seit dem Auftreten der „angry young men“.

Der Aufruhr gegen das „establishment“, die Kultur der „kleinen grauen Stücke, die in kleinen grauen Theatern gespielt werden“ (um das Mißvergnügen Noel Cowards an ihnen zu zitieren), die Brecht-Exegese Kenneth Tynans — in der Liebe zu Brecht finden sich übrigens die jungen Franzosen und die jungen Engländer wieder zusammen — haben den englischen Film zum eigentlichen und einzigen Erben des italienischen Neorealismus gemacht. „Ich halte es nicht für einen Zufall“, schreibt Alan Lovell im „New Statesman“, „daß England, das einzige Land, in dem die Linke Zeichen einer echten Erneuerung gezeigt hat, soeben in ,Saturday Night and Sunday Morning‘ einen Film schuf, der den Neorealismus in aufregender Weise anwendet und weiterentwickelt.“

 

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Die Geburt eines neuen englischen Films aus dem Geist der Literatur befindet sich noch in den Anfängen und es ist keineswegs sicher, ob sie gelingt. Es gibt aber, wenn wir die bestechend formulierten Unklarheiten der französischen Schule einmal beiseite lassen, außerdem drei Zentren einer literarisch-filmischen Synthese: den japanischen Film, die Filme Ingmar Bergmans und die Filme der großen italienischen Regisseure. Vielleicht ist der japanische Film das reinste Beispiel einer ganz selbstverständlichen Bindung des Films an die Literatur — die Werke von Kurosawa oder Inagaki erwecken den Eindruck, als lebten ihre Schöpfer einzig der Aufgabe, die klassische japanische Literatur-Tradition ins neue Bild zu übersetzen. Im Laboratorium Bergmans hingegen spielen die klassischen Elemente die geringste Rolle; die Augen dieses brillanten und gefährlichen Kopfes erblicken schwierige Prozesse aus Intellektualität und Magie, und daß nicht einmal das Lachen in ihnen fehlt, macht sie denkwürdig. Im Glücksfall eines Meisterwerks wie Smultronstället gibt uns das Genie Bergmans den europäischen Roman als Film. Bergman ist ein einzelner, in dem sich Dichtung und Optik amalgamieren. Italien bietet im Vergleich dazu das Bild der fast geschlossenen Partizipation einer Nationalliteratur am Film. Diese Teilnahme ist kein mechanischer Vorgang der Arbeitsteilung, sondern eine natürliche Bewegung des italienischen Sinnes für Modernität. Der Neorealismus wurde bekanntlich gleichzeitig in der Literatur durch Vittorini und Pavese, im Film durch Visconti erschaffen. Die Zusammenarbeit großer Autoren mit dem Film ergab sich ganz von selbst; ohne die Namen von Zavattini, Flaiano, Brancati, Bassani, Moravia, Montanelli, Bartolini u. a. ist der italienische Spitzenfilm auch heute nicht denkbar.

Die Misere des deutschen Films ist nicht, wie ein weitverbreiteter Irrtum vorgibt, auf die Unbildung und Profitgier der Produzenten zurück-zuführen, sondern auf die vollständige Interesselosigkeit der deutschen Literatur am Film. Der deutsche Dichter geht nicht ins Kino. Würde die Haltung des deutschen Schriftstellers zum Film sich aus aristokratischer Verachtung und passivem Abwarten (bis der Film an ihn herantritt) in aktiven Anspruch verwandeln, so wäre der deutsche Film morgen die Kunst, die er sein könnte. Der Kritiker dieses Zustands schließt sich von seinem Vorwurf nicht aus. Es gibt da die denkwürdige Mahnung eines unverdächtigen Mannes. „Ich weiß“, sagte er, „es gibt eine Weise, diese Dinge zu sehen, die legitim ist von einem anderen Standpunkte aus, und die nichts anderes in alledem sieht als ein klägliches Wirrsal aus industriellen Begehrlichkeiten, der Allmacht der Technik, der Herabwürdigung des Geistigen und der dumpfen, auf jeden Weg zu lockenden Neugierde. Mir aber scheint die Atmosphäre des Kinos die einzige Atmosphäre, in welcher die Menschen unserer Zeit — diejenigen, welche die Masse bilden — zu einem ungeheuren, wenn auch sonderbar zugerichteten geistigen Erbe in ein ganz unmittelbares, ganz hemmungsloses Verhältnis treten, Leben zu Leben, und der vollgepropfte halbdunkle Raum mit den vorbeiflirrenden Bildern ist mir, ich kann es nicht anders sagen, beinahe ehrwürdig, als die Stätte, wo die Seelen in einem dunklen Selbsterhaltungsdrange hinflüchten, von der Ziffer zur Vision.“[1. Hugo von Hofmannsthal, Der Ersatz für die Träume, (in Prosa IV, Gesammelte Werke, S. Fischer)]

Der dies schrieb, hieß Hugo von Hofmannsthal. Er schrieb es im Jahre 1921, und seine Worte sind vergessen.

 

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Der Exkurs durch Möglichkeiten einer Teilhabe der Literatur am Film soll nur auf schon vorhandene Perspektiven hinweisen, nicht aber davon ablenken, daß die junge französische Schule, mehr ahnend als bewußt, an einem Scheideweg steht, an dem die Wahl über ein gänzlich neues Ziel der Filmästhetik entscheidet. Der eine Weg führt, die Denkansätze von Bazin verleugnend, in eine Restitution des Films als „siebenter Kunst“, in einen endgültigen filmischen l’art pour l’art. Richard Roud hält in seinem Aufsatz „The french line“ (Sight and Sound, Herbst 1960) die Entscheidung für diesen Weg bereits als gefallen. „Das verbindende Glied zwischen allen Schulen der französischen Filmkritik“, so meint er, „ist die Behauptung von der Überlegenheit der Form über den Inhalt.“

Er leitet diese Wahl aus der französischen Kulturtradition ab, die Racine über Shakespeare stelle und in der die Entwicklung zur Abstraktion in der bildenden Kunst das letzte, alles beherrschende und gerade auch die fotografische Optik beeinflussende Ereignis sei. Zwar konzediert er, daß der Surrealismus, daß Jarry und Lautreamont eine heftige Reaktion gegen die cartesianische Kultur der Zurückhaltung, der Vernunft und des Maßes darstellen, aber er zeigt auch, wie die jungen Filmschöpfer, die sich noch als dem anticartesianischen Aufstand zugehörig fühlen, die Revolution nur als eine Revolution der Formen sehen. Das Ziel des Umsturzes ist für sie die Emanzipation der mise-en-scene. Das kann zu der optischen Täuschung führen, als mündeten sie, in einer paradoxen Ellipse, wieder in die französische Form-Tradition ein. Aber eben nur in die Kultur der Form; Descartes selbst, dessen Name ja nicht eine Formel für Form ist, sondern eine Chiffre geistiger Entscheidung, wird in dieser Entwicklung verleugnet. Die Faszination vom Kubismus hat das Kamera-Auge getrübt; was dort ein geistiger Prozeß war, ist hier die Nachahmung eines Mediums, mit dem der Film nichts zu tun hat. Nur Gedankenlosigkeit kann das Kamera-Auge mit dem Auge des Malers verwechseln; das auf ein gnadenloses und ergreifendes Gerinnen von Form gerichtete Auge, das Auge, das nichts als das Bild sieht, ist ein anderes als jenes, das, indem es den Wechsel von Bildern betrachtet, der Optik des menschlichen Blickes folgt.

So wäre also der andere Weg einzuschlagen: der, den Bazin als den „unreinen“ bezeichnet hat? Aber muß die Theorie wirklich so „impur“ bleiben wie bei Bazin, wenn er, etwa anläßlich von Fellinis La strada, bemerkt: „Das Filmische an ,La strada‘ ist akzidentiell; obwohl dieser Film nur auf der Leinwand zu verwirklichen war, obwohl er in keinem anderen Medium denkbar gewesen wäre, überstieg sein Gehalt die spezifischen Techniken des Films. In diesem Punkt bestätigt ,La strada‘ eine These, die mir immer wahrscheinlicher wird, auf seine Weise: daß nämlich der Film ein Entwicklungsstadium erreicht hat, in dem seine formalen Gesetze aufhören, für das Resultat ausschlaggebend zu sein, und in dem seine Sprache dem Künstler keinen Widerstand mehr leistet, ihm somit umgekehrt von sich aus keine stilistischen Wirkungsmöglichkeiten mehr bieten kann. Zweifellos wird man mir entgegenhalten, daß nur der Film und kein anderes Medium etwa der sonderbaren Kreuzung von Motorrad und Wohnwagen, mit der Zampanó herumfährt, die Überzeugungskraft des Mythischen verleihen kann, die dieser ebenso unerhörte wie banale Gegenstand in diesem Streifen erreicht. Aber es ist leicht einzusehen, daß gerade hier der Film Wirklichkeit weder transponiert noch deutet. Keinerlei Lyrismus des Bildes oder der Montage wird aufgeboten, um unsere Wahrnehmung zu beeinflussen, ja, ich möchte sagen, nicht einmal die Künste der Regie, jedenfalls keiner Regie, die dem Film eigentümlich wäre. Die Leinwand beschränkt sich darauf, uns diesen Karren zu zeigen, ihn besser, genauer, objektiver zu zeigen, als es der Maler oder der Romancier vermöchte. Ich sage nicht einmal: die Kamera hat ihn einfach abfotografiert. Schon das Wort fotografieren‘ wäre übertrieben. Sie hat ihn uns ganz einfach gezeigt, oder vielmehr: sie hat uns erlaubt, ihn zu sehen. Nun hieße es das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man behaupten, aus der Sprache des Films selbst, aus seiner wirklichkeitsnahen Optik könnten keine künstlerischen Wirkungen mehr resultieren. Das Kräfteverhältnis zwischen Technik und Stoff des Films hängt teilweise wenigstens von der Persönlichkeit des Regisseurs ab. Was sich aber heute mit Sicherheit ausmachen läßt, ist dies: der Fortschritt des Films hängt nicht mehr von der Originalität der Bildfläche oder der Bildfolge ab.“[1. Zitiert nach „Texte und Zeichen“ 9/1956]

 

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Hier ist also eine autonome Filmästhetik, eine Ästhetik, die nichts als den Film sehen möchte, an ihrem Ende angelangt. Man spürt, wie die Analyse auch sprachlich eine Wand abtastet, aber die Türe ins Freie nicht finden kann. Sie würde sich öffnen, wenn der Film den Mut aufbrächte, sich als Literatur zu definieren. Statt dessen gerät er kurz vor dem Ziel in immer neue Sackgassen: vom l’art pour l’art-Winkel des B-Films bis zum geschlossenen Forum eines „Gesamtkunstwerk“-Anspruchs, zum Versuch, als Erbe der Oper in die Arena zu ziehen. Am Schluß steht dann freilich die Elegie des „cinema impur“: „daß nämlich der Film ein Entwicklungsstadium erreicht hat, in dem seine formalen Gesetze aufhören, für das Resultat ausschlaggebend zu sein“. Wenn das stimmt, dann muß es andere Gesetze geben, die über den Wert eines Films entscheiden. Wir wollen hier den ganz vorläufigen Versuch machen, eine systematische Andeutung der literarischen Gesetze zu geben, die eine spezielle Struktur des Films nicht aufheben, ihr aber zugrunde liegen.

  1. Der Film ist eine Kunstform des zeitlichen Ablaufs wie die Literatur und die Musik. Das Prinzip des zeitlichen Ablaufs in seiner Demonstration wie seiner Rezeption unterscheidet ihn prinzipiell von der bildenden Kunst, deren Ziel im Hervorbringen eines statischen und zeitlosen Gesamteindrucks, des autonomen gerahmten Bildes eben, besteht. Die Verwechslung der Bilder, die die fotografische Optik liefert, mit den imagines der bildenden Kunst ist die nächstliegende Selbsttäuschung des Films; in ihr wird die alles andere dominierende, erzählerische Zeitstruktur der Bilderfolge außer acht gelassen. Das Bild spielt im Film nicht die Rolle der Imago in der Malerei, sondern ist mit der Funktion der Metapher in der Dichtung identisch. — Es sei hier nur angemerkt, daß die Literatur dort, wo sie sich am stärksten der bildenden Kunst nähert, nämlich in den Texten von Gertrude Stein und den Romanen von Alain Robbe-Grillet, bis zu einem gewissen Grad auch im Werk von Proust, den Versuch machen muß, dem Zeit-Gesetz zu entrinnen.
  2. Die Ur-Zelle eines Films ist immer ein Text, mag es sich dabei um einen in zehn Zeilen konzipierten Einfall eines Regisseurs oder um einen Roman von Tolstoi handeln. Kein einziger dieser Texte ist nicht erzählerischer Natur, so, wie die gesamte Literatur, vom epischen Wälzer bis zum dreizeiligen japanischen Haiku, erzählt. Das Wesen eines erzählerischen Textes bildet ein Vorgang subjektiver Kommunikation oder kommunizierender Subjektivität. Dieser Vorgang wiederum gehorcht dem Gesetz der Logik, natürlich keiner einfachen mechanischen Logik des Handlungsablaufs, sondern einer Logik, die sich auf die gesamte gesellschaftliche und metaphysische Umgebung bezieht, in der sie sich ereignet (womit sich erklärt, daß die Logik = Wahrheit vieler literarischer Kunstwerke oft erst sehr spät einleuchtet). Dementsprechend kann gesagt werden, daß der Wert eines Films zunächst abhängt von der inneren Logik des Textes, der ihm zugrunde liegt. Seine spezielle, i. e. optische Struktur ist eine Funktion dieser Logik. Ein Film ist also, wie ein Roman, ein Drama oder ein Gedicht, genauso „gut“, d. h. glaubhaft, wie die literarische Idee, die seinen Ursprung bildet. Man kann diese These an jedem Film nachweisen, wir wollen dafür aber ein Kunstwerk heranziehen. Im Mittelpunkt von Robert Bressons letztem Film Pickpocket steht die fesselnde Studie eines jugendlichen Taschendiebs, mit allen Mitteln optischer Kunst zu einem unvergeßlichen visuellen Eindruck verdichtet. Bresson, der mit Antonioni, Visconti und Bergmann an der Spitze der europäischen Regiekunst steht, hat den Film aber verdorben, indem er ihm eine Liebeshandlung applizierte, die unglaubhaft wirkt. Hier könnte man einwenden: also soll der Film sich eben doch auf das optische Dokument konzentrieren, auf die Imago eines Balletts der Hände, wie es Bresson in den besten Sequenzen seines Werks bietet. Aber das hieße, die Intentionen der Literatur verkennen. Es wäre die Literatur gewesen, die Bresson geraten hätte, sich entweder auf den Essay zu beschränken oder anstatt einer banalen Handlung eine logische zu ersinnen. Und es war der Film mit seinem Glauben, er habe letzten Endes nichts mit der Literatur zu tun, der Bresson eine unmögliche Handlung als möglich erscheinen ließ und damit sein Werk verdarb.
  3. Nimmt man diese beiden Prämissen an, so ist eigentlich nicht einzusehen, warum der Film sich nicht als visuelle Form der Literatur definieren könnte, wie das Theater eine visuelle Form der Literatur ist. Selbstverständlich wäre er dann immer noch in einem genügenden Maße nicht Literatur, wie das Theater in einem bestimmten Sinne nicht Literatur ist, sondern eben Theater, reine und vitale mise-en-scene. Vom Theater würde ihn unterscheiden, daß er noch weniger als dieses im mechanischen Sinne an den Text gebunden wäre, von der Verschiedenheit des Prozesses der sichtbaren Vorgänge ganz abgesehen. Auch seine Dramaturgie wäre eine andere als die des Theaters oder der geschriebenen Literatur. Ihn von letzterer abhängig zu machen, ist nicht die Absicht dieses sehr fragmentarischen Thesen-Entwurfs; der Film soll nicht zum Organ der Verfilmung von Literatur entwürdigt werden. Vielleicht entstehen die besten Filme aus ungeschriebener oder kaum schriftlich fixierter Literatur; erforderlich ist nur, daß sie jenem Gesetz der inneren Logik gehorchen, ohne die Literatur nicht zustandekommt. Der Regisseur würde bei einer Neu-Definition des Films als Literatur nicht an Bedeutung verlieren. Ein Film wäre — das liegt in seiner Natur wie in seiner Technik — noch immer mehr das persönliche Werk eines Regisseurs als selbst die bedeutendste Theater-Inszenierung. Das Kino der Autoren meint nicht ein Kino, das von den Autoren übernommen wird, und nicht einmal Truffauts leichtfertiger Ausspruch „Jeder Beliebige kann Regisseur sein — nur gerade die Funktion des Kameramannes verlangt einige technische Kenntnisse“ sollte die Autoren dazu verleiten, in der Arbeit des Regisseurs weniger zu sehen als ein Wunder der Synthese aus persönlicher Vision, pädagogischem Eros in der Schauspielerführung und kompliziertestem Handwerk. Allerdings sollte es zu einer Zusammenarbeit neuer Art zwischen Autor und Regisseur kommen; der Regisseur, der alles allein macht, auch das Sujet, die Handlung, das Thema und die Texte, ist eine Figur, so fatal wie der Opernkomponist, der sich seine Libretti selber bastelt. Man muß gestehen, daß die letzten Möglichkeiten einer Synthese von Regie und Autorschaft noch im Dunklen liegen; vielleicht wird es Alain Resnais sein, der dafür die strengsten und reinsten Lösungen herausbilden wird. Einstweilen müssen wir uns mit dem italienischen Modell begnügen.
  1. Daß man nicht, wie Hoveyda meint, die Spalten der Cahiers du Cinema verlassen muß, wenn man den Film nach literarischen Kategorien beurteilt, wird von einem Teil der Filmkritik bereits begriffen. „Wenn der Film die Kunst ist, als die wir ihn uns vorstellen“, schreibt Penelope Houston, „dann hat er das Recht auf kritische Analysen, wie sie bisher dem Theater oder dem Roman vorbehalten waren.“ Klarer kann die Rangerhöhung des als Literatur begriffenen Films nicht ausgesprochen werden. Am Rande sei vermerkt, daß damit auch das Problem der Beurteilung des kommerziellen Unterhaltungsfilms ohne künstlerische Absichten, an dem man die Filmkritik so oft hoffnungslos operieren sieht, gelöst wäre. Die Filmkritiker könnten ihn aus ihren Erwägungen gänzlich ausscheiden, so, wie die Literaturkritik den ganzen Sektor der Konsum-Literatur einfach ausklammert. (In mancher Hinsicht zu ihrem Nachteil: mindestens in der Literatur-Soziologie sollte sie ihn im Auge behalten und die Vorgänge in den Randzonen zwischen Kunst und Konsum genau beobachten.)

 

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Hier kann nur kurz darauf hingewiesen werden, daß Edgar Morin in „Le cinema ou l’homme imaginaire“[1. Deutsche Ausgabe: Edgar Morin, Der Mensch und das Kino, Ernst Klett, Stuttgart 1958],  in einer der tiefgründigsten Studien, die über den Film geschrieben worden ist, aus einer Analyse der Semantik des Films heraus zu den Schlüssen kommt, die wir gezogen haben.

Niemand hat eindrucksvoller wie Morin darauf hingewiesen, daß eine Sprache, die als Erzähltechnik ein Trommelfeuer von 24 Bildern in der Sekunde auf die Netzhaut benützt, ihre eigenen Gesetze hat. Dennoch kommt er zu dem Schluß: „Weil jede filmische Einstellung einen Abstraktionskeim enthält, kann die Kamera, die sich von einer zur anderen bewegt, nach dem Ausdruck von Astruc Schreibfeder genannt werden. Der Kinematograph war ein Schauspiel wie das Theater. Das Kino hat ihm einen Erzählstil aufgepfropft, der dem des Romans ähnelt. Es hat gewissermaßen die Strukturen des Theaters und des Romans zu einer Synthese zusammengefaßt. Das Kino löst sich also vom Kinematographen, um sich als intelligibles System zu konstituieren. Alle seine Techniken erheben sich von den dunklen Wurzeln der Magie bis an die Oberfläche des diskursiven Denkens.“

Morin vertieft das Thema allerdings, indem er die anthropologische Perspektive des Films zieht; die Formanalyse dient ihm nur dazu, den Film als Partizipationsvorgang im Sinne der allgemeinen Anthropologie zu deuten. (Morins „imaginärer Mensch“ ruft uns übrigens Chaplin ins Gedächtnis, der im Zusammenhang unserer Untersuchung als ungelöster Rest erscheinen muß. Auf den ersten Blick jedenfalls scheint das Phänomen Chaplin uns zu widerlegen, denn in ihm geht eine mythische Figur, die den höchsten Dichtungsfiguren entspricht, aus einer reinen Bildvision ohne alle literarischen Bezüge hervor. Immerhin könnte eine Spezialuntersuchung ergeben, daß auch diese Gestalt nicht denkbar ist ohne die bewußte oder unbewußte Nutzung von „topoi“ der Weltkomödie.) An vielen Stellen liest sich Morins Buch wie ein Exkurs über die genial keimhafte Bemerkung Hofmannsthals, die wir erwähnt haben. Immerhin kristallisieren sich bei dem Vorgang, aus dem Film das allgemeine Substrat der Künste zu fällen, genügend Substanzen für die speziellere Definition des Films als Literatur aus, so, wenn Morin schreibt: „Der Film ist ebensowohl Kinästhesie, rohe Aufpeitschung gefühlsmäßiger Partizipationen, wie eine Entwicklung des Logos. Bewegung wird Rhythmus, und Rhythmus wird Sprache. Von der Bewegung zur Kinästhesie und zum Diskurs. Vom Bild zum Gefühl und zur Idee!“

Selbst wenn wir Morins Behauptung einer Antithese von Seele und Idee nicht zustimmen können — als Anthropologe postuliert er eine „Entwicklung“ des Films von der Magie der Bilder, die zur Fetischbildung benützt wird und „in die Gefälligkeiten der Seele“ absinkt, zur Partizipation, die „eine Idee zur Blüte bringt“ —, selbst dann gibt uns sein Insistieren auf dem Logos als Kern der Sprache wichtige Anhaltspunkte für die dem Film immanente literarische Verfassung; so, wenn er an Eisenstein erinnert: „Eisenstein definiert den Film als die einzige konkrete und dynamische Kunst, die es ermöglicht, die Vollzüge des Denkens auszulösen, die einzige, die fähig ist, die Intelligenz zu ihren konkreten und emotionalen Lebensquellen zurückzuführen, und er beweist experimentell, daß das Gefühl nicht irrationale Willkür, sondern ein Moment der Erkenntnis ist. Die größte Idee der Welt — der Fortschritt — gewinnt ihre Form gleichzeitig mit einem Milchtropfen auf einer Zentrifuge (in ,Die Generallinie‘). In einem Stück verfaulten Fleisches gärt die revolutionäre Idee (Panzerkreuzer Potemkin). ,Die Generallinie‘, der ,Panzerkreuzer Potemkin‘ und ,Die Erde‘ von Dowjenko sind in Diskursform aufgebaut, und doch wird nicht gesprochen. Das emotionale System sekretiert einen Logos.“

 

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Eisenstein selbst hat unser Problem auf wunderbare Weise beantwortet, indem er die Reinheit der Filmform, die er verteidigt, mit ihrer Analogie zur Literatur begründet. So bemerkt er, nachdem er eine Sequenz aus Panzerkreuzer Potemkin dargelegt hat: „Eine Analyse der verschiedenen Objektive, die zum Filmen dieser Aufnahmen verwendet worden sind, und ihre Anwendung zusammen mit den Kameraeinstellungen und der Beleuchtung, die alle von den Forderungen des Stils und vom Charakter des Filminhalts bestimmt werden, würde eine genaue Analogie zu einer Analyse des Ausdrucks der Sätze und Worte und ihrer phonetischen Werte in einem literarischen Werk ergeben.“[1. Filmsprache 1934, enthalten in Serge Eisenstein, Vom Theater zum Film. Verlag Die Arche, 1960]

Wir können hier keine Beschreibung des Montage-Systems geben, mit dessen Hilfe Eisenstein solche Analogien erzielt. Aber er meint sie ganz wörtlich und auf das Detail des filmischen Kunstwerks bezogen, wenn er ein Beispiel wie dieses gibt: „Übrigens ist Gogol auch im Film gebracht worden. Bisher noch mit formlosen Film-Verfahren belastet, ist er schließlich mit der ganzen Reinheit der Montageform in den Tonfilm eingedrungen, beinahe als ob ein Gogolscher Text direkt in visuelles Material umgewandelt worden wäre. Unter dem großartigen visuellen Gedicht des Dnjepr im ersten Teil von ,Iwan‘ konnte Dowjenko, erfolgreich, glaube ich, Gogols Beschreibung des ,wunderbaren Dnjepr‘ aus seiner ,Schrecklichen Rache‘ vortragen. Der Rhythmus der beweglichen Kamera, die dicht am Ufer entlangfährt. Das Einblenden von unbeweglichen Wasserflächen. Im Wechsel und in der Ablösung dieser beiden liegt die Taschenspielerkunst und Zauberei von Gogols Bildersprache und Redewendungen. Weder ,rührt sich, noch donnert‘ das alles. All das ,siehst du und weißt nicht, ob sein riesiger Atem sich bewegt oder nicht . . . und es ist verzaubert, als ob es gegossenes Glas gewesen wäre‘, und so weiter. Hier liefern Literatur und Filmkunst ein Muster reinster Verschmelzung.“[1. ebenda]

 

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Wir sind uns bewußt, welche Gefahr für die traditionellen Formen der Literatur wir heraufbeschwören, indem wir versuchen, den Film zur Literatur zu erklären. Leicht könnte es geschehen, daß die Literatur sich in ihrem neuen Annex wohler fühlt als in den Bauten, die seit Jahrhunderten stehen. Aber dem „reinen“ Text wird immer so viel faszinierende Macht anhaften wie dem „reinen“ Film. Daß das Kamera-Auge erst wahrhaft sehend würde, wenn es von einem literarischen Bewußtsein sich leiten ließe, möchten wir angedeutet haben. Doch wird damit nur auf ein Prinzip der Kunst überhaupt hingewiesen, die dort am größten ist, wo sie der angeborenen Blindheit des Kunstwerks den Star sticht, wo sie die Form nicht aufgibt, aber sie durchlässig macht für Erkenntnis. Auch wenn wir uns über den Sinn unserer Erkenntnisse täuschen mögen, so können wir doch nicht darauf verzichten, das Bewußtsein am Sein zu versuchen. Die Kunst hat Augen. Sie braucht sie nur zu öffnen.