Merkur, Nr. 182, April 1963

Das gestörte Zeit-Bewußtsein

von Arnold Gehlen

 

Manche Leser werden selbst zu den Menschen gehören, die das dolce far niente bloß noch in der Badewanne erleben können, die so etwas ist wie eine umgekehrte Insel: aus Wasser bestehend, brechen sich an ihrem Rande die geräuschvollen Stürme des Festlandes. Das erfüllte und wunschlose, die Gegenwart ein- und ausatmende Nichtstun geht dann sehr bald in die gewöhnliche Betriebsamkeit über, die unter Zeitdruck steht. Man sitzt in F-Zügen, die so sehr beschleunigt sind, daß Verspätung unvermeidlich wird, mit der Uhr in der Hand, sie halten selbst in Großstädten nur noch 60 Sekunden lang. Irgendwo rechnen Stäbe aus, wieviele Minuten man noch Zeit hätte, die finalen Raketen in der Luft abzufangen, oder richtiger gesagt: oberhalb derselben.

In diese Beeilung, die unsere Kultur von jeder jemals dagewesenen unterscheidet, geht mancherlei an Ursachen ein. So gibt es durchaus nationale Unterschiede, der amerikanische Soziologe Schoeck fand sogar, daß in Amerika in dieser Hinsicht die Zukunft noch keineswegs überall begonnen hat, dort spiele in den Schilderungen der Opfer der Wirtschaftsmaschine der auf die Minute, um 7.35 oder 8.20 abfahrende Vorortszug eine auffallend große Rolle. Wenn wir hier in Europa die Grenzen Deutschlands verlassen, finden wir es schon gemütlicher, und gar den in England an Land Gehenden empfängt eine Atmosphäre des Gliederstreckens.

Das mag damit zusammenhängen, daß dort gewisse aristokratische Gewohnheiten bis in das Volk durchgedrungen und damit unverlierbar geworden sind. Das Würdegefühl von Menschen, die sich im unangefochtenen Besitz der Macht wissen oder wähnen, widerstrebt der Eile. »Es beweist ein großes Herz mit Reichtum an Geduld«, heißt es in Gracians Handorakel, »wenn man nie in eiliger Hitze, nie leidenschaftlich ist«. Auch heißt es, man solle sich nicht zu sehr in Einzelheiten verlieren, sondern mit einer edlen Allgemeinheit zu Werke gehen, wie sie zum vornehmen Anstand gehört. Das ist keine Einstellung, bei der sich der Sekundenzeiger aufdrängen kann. Umgekehrt geht es da um Tempogewinn, wo Rivalitäten, Gegnerschaften oder gar Kriege die Massen in Bewegung setzen und wo das Zuvorkommen wichtig wird. Alexander hat die schnelle Verfolgung eingeführt, er jagte den Darius über 640 km mit einer Geschwindigkeit von 58 km am Tage. Den Athenern ging der »hastige Gang« des radikaldemokratischen Politikers Kleon auf die Nerven, seine agitierende Geschäftigkeit. Auf dem Markt und im Gericht, wo es auf Geistesgegenwart, Überraschung und Überredung ankam, entstanden die ersten Tempostudien im Zusammenhang der Rhetorik.

Es wirken also auch soziologische Einflüsse bei der Beschleunigung des Lebensrhythmus mit, aber ihre wichtigste Ursache wird man doch in den technischen und industriewirtschaftlichen Bereichen zu suchen haben, und in erster Linie hat ganz einfach die physikalische Geschwindigkeit der technischen Vorgänge unser Verhältnis zur Zeit verändert. Diese Entwicklung begann vor mehr als hundert Jahren mit dem Telegraphen, der noch aufwendige Zurüstungen mit Masten und Leitungen erforderte, die dann später bei Funk und Sprechfunk fortfielen. Gleichzeitig griff das Prinzip der Schnelligkeit auf die Verkehrsmittel über und setzte sich dort immer imponierender durch: Dampfschiff, Eisenbahn, Auto, Flugzeug, Schallmauer.

Wenn nun aber die Tempobeschleunigung wesentlich die Verkehrsmittel und Nachrichtenmittel erfaßt, so folgt daraus, daß wir nicht nur auf diejenigen Ereignisse reagieren, die in unmittelbarer räumlicher Nähe stattfinden. Unser Verhalten wird, wenn wir telephonieren, durch entfernte Ereignisse augenblicklich beeinflußt, oder wir können umgekehrt selbst in räumlich entfernte Ereignisse eingreifen, indem wir sie im Auto oder Flugzeug aufsuchen, mit ein paar Stunden Zeitaufwand kann man seine Aktionsumwelt auswechseln. Mit anderen Worten: im Unterschied zu allen Zeiten vor uns fallen aus technischen Gründen in dieselbe Zeitspanne weit größere Ereignismassen als früher, die nun in irgendeiner Weise zu verarbeiten sind. Denn mit der Schnelligkeit der Übermittlung steigt natürlich auch die Zahl der Ereignisse, die ankommen oder fällig werden können, weil in demselben Verhältnis der »Einzugsbereich« sich vergrößert. Dabei bleibt die Notwendigkeit, auf wichtige Vorgänge schnell zu reagieren, in unserer Überlegung noch außer Ansatz, aber es ist klar, daß mit der Zahl der Informationen auch die Zahl der wichtigen unter ihnen zunehmen muß. Oder wenn ich in wenigen Stunden in Hamburg oder Wien oder Paris erscheinen und mich dort informieren oder betätigen kann, dann werden zahlreiche Ereignisreihen sozusagen dispositionsfähig, sie werden im Sinne des Michangehens »möglich«, während sie vorher völlig außerhalb des Bewußtseins lagen.

Der Erfolg einer Geschäftsreise besteht meist zu einem nicht kleinen Teil in den unerwarteten »Anregungen«, die sich ergeben haben, man kehrt heim mit Informationen und Handlungsentwürfen, die jetzt in der Zeit noch untergebracht werden müssen, die für laufende Geschäfte vorgesehen war. Allerdings lassen sich die auf diese Weise zunehmenden Ereignismassen zum Teil dadurch bewältigen, daß der Vorgang der Erledigung selbst beschleunigt wird, dazu helfen Diktiermaschinen oder irgendwelche rationalisierende Verfahren.

Aber jetzt springt eine höchst bemerkenswerte weitere Gesetzlichkeit ein, die in die bisher klargelegte Situation eine neue Dimension einführt. Eine irgendwie verantwortliche Tätigkeit nämlich besteht ja nicht in dem Aufarbeiten der Agenden in der Reihenfolge des Eintreffens oder der Fälligkeit. Wäre dem so, dann ließen sich auch wachsende Mengen von Geschäften durch die Temposteigerung der Erledigung abfangen. Aber eine derartige Routinearbeit charakterisiert die verantwortlichen Positionen gerade nicht, dort kommt es nämlich zum großen Teil auf das Veranlassen von Ereignissen an, auf ihre Vorberücksichtigung, Vorberechnung und Vorbewertung. Je wirksamer man nun in diesem Sinne plant, kalkuliert und die Daten bereits im vorhinein auf Abruf abklärt, je rationaler man verfährt, um Störungen und Zufälle auszuschließen, um so mehr leere Zeit schafft man in der Zukunft, in die neue Ereignismassen einrücken können. Ein Prozeß dieser Art reißt den Menschen in die Zukunft hinein, und läßt ihn nicht zum ruhigen Gefühl der Gegenwart, zum Sichsammeln kommen. Zeit hat man natürlich jetzt nicht, die hat man allenfalls später; mit der Zeit in der Zukunft kann man aber schlechterdings nichts anderes anfangen, als sie zu verplanen, denn leben in ihr kann man nicht. Da man aber früher schon immer genauso verfuhr, so ist auch die Gegenwart »ausgelastet«. Kraft dieser Gesetzlichkeit leben wir daher der Gegenwart vorweg, und zwar mit nicht mehr steigerungsfähigem Tempo, und diese Gegenwart bekommt einen wesentlich negativen Zug: sie besteht im Abhaken, im Erledigen des für jetzt Vorwegarrangierten. Quer in diesen Strom schießen aber die unvorhergesehenen Begebnisse ein, die aus unbestimmt großen Räumen einfallen und sofort beantwortet, beurteilt, beschieden werden müssen.

Der menschlich wenig eindrucksvolle Erfolg auf der Seite der familiären oder freundschaftlichen Beziehungen besteht darin, daß man sich ihnen mehr oder weniger im Zustand der Ermüdung zuwendet, falls man nicht noch jung oder ungewöhnlich leistungsfähig ist. Es fehlt in diesen Dingen heute nicht an gutem Willen, nicht an Verständnis, aber sehr oft einfach an den Kraftreserven. Die hier geschilderte Situation ist aber noch nicht verständlich, man muß eine zweite Kausalreihe einführen und deren Rolle beobachten. Diesmal handelt es sich um die sog. Mechanisierung des Lebens. Darunter ist die Tatsache zu verstehen, daß der Grad der rationalen Durchsichtigkeit und Durchkontrolliertheit der verschiedenen Lebensgebiete ansteigt, und daß mit diesem Grade die Eignung der Wirklichkeit zunimmt, in den Ablauf des vorentworfenen Zwecksetzens aufgenommen werden zu können. Sie wird handlicher. Früher z. B. wurden die Menschen von irgendwelchen Krankheiten überfallen, es ging gut oder nicht, und sie schöpften schon Hoffnung, wenn der Arzt den lateinischen Namen nannte. Viel mehr wußte er selbst nicht davon. Heute kennen wir erstens von sehr vielen Krankheiten bis ins einzelne Ursachen und Ablaufsformen, wir kennen die Heilmittel und ihre Art der Einwirkung, und vor allem haben wir eine Krankheitsverwaltung, die diese Dinge auch wirklich an den Kranken heranbringt.

Darüber hinaus aber entsteht eben mit dieser Handlichkeit der Ereignisse auch wieder der Sog in die Zukunft: nächster Schritt ist dann natürlich die Vorwegverhütung des Eintretens von Krankheiten, und damit entstehen neue Forschungen, Fabrikationen, Propagandamaßnahmen, Kontrollen und Stichproben, die nacheinander zur Bearbeitung anrücken. Ich habe den Ausdruck »Handlichkeit« gebraucht: die rational durchsichtigen Realitäten sind diejenigen, die wir kausal beherrschen, sie tragen sozusagen unsichtbare Handgriffe und sind »verfügbar«. Die Masse derartig disponibler Tatsachen wächst nun unaufhaltsam, es wächst auch ihre Verwicklung und gegenseitige Durchdringung, doch wiederum auch unsere Fähigkeit, recht komplizierte Ereignisgeflechte zu handhaben. Heutzutage kann man Ernteerträge, Parlamentswahlen, Bevölkerungszunahmen, Verkehrssteigerungen, Geldwertänderungen und Kunstrichtungen vorkalkulieren, also auch vorweg beeinflussen oder irgendwie verwerten, man stellt sich auf sie ein und veranlaßt das Nötige. Leicht ist zu sehen, wie dadurch wiederum die Ereignismassen potenziert werden: so soll man sich heute schon um die Ausbildung derjenigen Lehrer kümmern, die von den Kindern gebraucht werden, die in Ghana oder Timbuktu noch nichts von der Schule ahnen.

Auf diese Weise werden wildwüchsige Vorfälle im öffentlichen Leben und folgeweise auch im privaten seltener, sie werden nach und nach ausgeschaltet, oder zunächst einmal statistisch erfaßt. Unter den unplanmäßigen Ereignissen kommt den Unfällen eine zeitgemäß besondere Rolle zu, die subjektive Ursache des Unfalls heißt »menschliches Versagen«, man versagt, wenn man die von der zwingenden Ablaufsordnung geforderte Anspannung der Kontrollenergie einen Moment verliert: bei dem Tempo der Geschehnisse genügen Sekunden, und der Unfall ist da. Folglich entsteht ein Unfallverhütungs-Programm, es beschäftigt schon Stäbe und Forschungsgruppen, und nur der Mangel an Ärzten verhindert die Nachuntersuchung sämtlicher Inhaber von Führerscheinen. Solche Projekte werden erwogen, um das künftige Entstehen unkontrollierter Ereignisse möglichst heute schon zu verhindern. Diese Daseinsform führt eine ungemeine moralische Belastung und wahrscheinlich sogar moralische Überreizung mit sich. Die Überlastung besteht darin, daß mit der Zunahme der Größe und Handlichkeit der Ereignismassen der Zukunftsbereich des überhaupt Möglichen immer erfüllter und deutlicher wird, wie mit dem Fernrohr angeschaut, und daß nun bereits das zukünftig Mögliche, also das Wahrscheinliche, unser Verantwortungsgefühl aufstöbert. Man kann das Wahrscheinliche nicht auf sich beruhen lassen, es läßt uns keine Ruhe, es gibt kein dolce far niente.

 

Ich will die Frage, ob dieses Verantwortlichkeitsgefühl nicht bereits überzüchtet ist, nicht eigens hier aufwerfen, aber es gibt Gründe, sie zu stellen, wenn allmählich die Bereitschaft zu wachsen scheint, sich die künftigen Notstände aller Erdteile aufzuhalsen. Aber ohnehin prägt es den Menschen eine charakteristische Haltung und Gesinnung auf, wenn sie im Strom der Geschäfte leben, die aus den verfügbaren Umständen heraus andrängen und wieder wegeilen, und wenn sie an den Handgriffen der Umstände schalten, die als solche allesamt öffentlichkeitsfällig und verantwortungsbezogen sind. Die Wirklichkeit tritt in zwei Hälften auseinander: auf der einen Seite die großen Zusammenhänge, die kompliziert und durchdacht und durchgeplant sind, die man aber nur im Kopf kennt, weil sie noch in der Zukunft liegen; und auf der anderen Seite die endlose Kette der beschränkten jeweiligen Gegenwarten, die weggelebt werden. Eine Reise z. B. rundet sich nicht mehr als ein in sich gewichtiger Vorgang ab, sie verkürzt sich auf ein paar Stunden und man erwartet mit Ungeduld die Termine, die nach ihrer Beendigung bereits »vorgesehen« sind, wie man richtig sagt. Diese wenigen Reisestunden setzen sich wiederum aus arrangierten Teilsituationen zusammen, die der Reihe nach abgerufen werden: Papiere durchsehen, eine Stunde Diktat im Abteil, Kaffee im Speisewagen, Zeitung lesen, fertigmachen zum Aussteigen.

Solche Traumfilme bilden aus sich heraus keine Zentren und Schwerpunkte mehr für das Lebensgefühl, sondern nur stehende Wirbel, und wenn nach Ortega »Glaube« eine Vorstellung ist, bei der man verweilt, so wird die derart sich abspulende Wirklichkeit selber unglaubwürdig. Diesen Befund haben seit einigen Jahrzehnten die Künstler zuerst erfaßt und ausgedrückt, sie haben der durchdringenden Unwirklichkeit Worte und Farben gegeben, die Bildzentren auf den Gemälden taumeln umher, oder man kann die Beschreibungen in den Romanen nicht mehr von Traumprotokollen unterscheiden. Bisher haben wir eigentlich vom Standpunkt leitender Geschäfte und disponierender Tätigkeiten aus argumentiert, wobei zuzugeben ist, daß wir in unseren durchbürokratisierten Gesellschaften damit bereits erhebliche und übrigens wachsende Teile der Gesamtbevölkerung einbegriffen haben. Jetzt müssen wir kurz noch eine weitere, mächtige Quelle steigender Ereignismassen erwähnen, und auf die selbst technisch sich laufend steigernde Produktion verweisen. Ein ungeheuerer Ausstoß von Waren und Dienstleistungen trägt uns wie eine Flutwelle hoch in die Zukunft hinaus. Hier liegt nun die Sache so, daß bei der außerordentlichen Leistungsfähigkeit der Maschine sich die Intensität der menschlichen Arbeit auf die Stadien verlagert, die vor und nach der Fertigung liegen, während in der Produktion selbst die Maschine arbeitet. Deshalb nehmen die vorbereitenden Arbeiten, die mit Anlieferung, Zeitplanung, Kalkulation, mit Überlegungen zur Rationalisierung zu tun haben, und wieder die abschließenden, die sich mit dem Versand, der Abrechnung, der Statistik, Verwertung usw. befassen, einen gegenüber der eigentlichen Herstellung steigenden Anteil an der Arbeitsbelastung in Anspruch.

Alle diese Tätigkeiten spuren aber sozusagen den Weg des Unternehmens in die Zukunft. Der Arbeiter an der Maschine steht bei uns in der Regel nur von seinem Akkordlohn her unter Zeitdruck, in den östlichen Planwirtschaften allerdings wird er in die Zukunftsplanung eingegliedert, weil sich die Fünfjahrespläne der Gesamtwirtschaft an seiner eigenen Stelle als bestimmtes Soll niederschlagen, das ihn unter Zeitnot setzt und im Verzugsfalle in seiner Zukunft belastet. Nach dieser Schilderung des Befundes wollen wir mit unseren Überlegungen noch einen Schritt weiter gehen. Im gesamten Gebiete des Organischen nämlich geht es ganz anders zu, der organisch-biologische Ablauf ist in seinen Geschwindigkeiten von vollkommener Stabilität, und außerdem ist es in keinem Falle gelungen, auf diesem Felde etwas von Voreinwirkung der Zukunft nachzuweisen. Das organische Leben in Pflanzen, Tieren und Menschen erscheint als ein ungeheuerer, unwiderstehlicher, mit stets gleichbleibendem Tempo sich vorschiebender Strom, der nur in ganz enormen Zeiträumen seine Zusammensetzung verändert. Diejenigen Abläufe und Rhythmen in unserem Leibgeschehen, die nicht willkürlich beeinflußt werden können, sind völlig unbelehrbar, und das sind alle wichtigeren und tieferen. So kann der Arbeiter bei Nachtschicht zwar nach einiger Gewöhnung den Schlafrhythmus umstellen, aber nicht die Periodik der Körpertemperatur, die sich diesem Wechsel nicht anpaßt und bei dem abendlichen Höhepunkt beharrt, der also dann mit dem Beginn der Arbeit zusammenfällt.

Die Abfolge der Eindrücke und Informationen im Gehirn, die Reihe der Reaktionen und Entscheidungen mag sich noch so sehr beschleunigen: die biologischen Rhythmen bleiben mit naturhafter Stabilität unbeirrt ihrem langsamen Eigentempo treu. Irgendwo zwischen beiden Bereichen gibt es natürlich eine umschaltende Instanz, deren Aufgabe in der Koordination unserer Wirklichkeitserfahrung mit unseren biologischen Abläufen liegen würde, und man sieht gleich, daß es sich hierbei um die nichtintellektuelle Tiefenverarbeitung von Erfahrungen handeln muß, demnach also um grundlegende moralische Regulationen. Es gibt antriebsnahe und instinktähnliche Auswahlreaktionen, in denen wir Außenerfahrungen entweder einschmelzen oder abweisen. Diese Reaktionen sind ihrer Natur nach affektiver Art, an dieser Stelle liegen unsere moralischen Gefühle und Leidenschaften.

Ohne Zweifel verändern sich die Grundeinstellungen nur sehr langsam und bei weitem nicht in dem Tempo, mit dem die Menschen den Szenenwechsel auf dem Welttheater veranstalten und dort die Erfolge oder Verwirrungen anrichten. Daher sind in dieser Mittelschicht Störungen zu erwarten, hier kommt es zu Querschiebungen. Wir sehen so zunächst die Zustände affektiver Überlastung: man wird reizbar, empfindlich, ungeduldig, oder umgekehrt unnatürlich still und gelassen, müde und apathisch. Tiefer gesehen aber vollzieht sich eine merkwürdige Verlagerung des gesamten Moralschauplatzes von langfristigen auf kurzfristige Einstellungen derart, daß schließlich Begegnungssituationen (wie zwischen Weißen und Schwarzen) als die eigentlich moralischen Testproben erscheinen, während der »mos maiorum«, die Sitte der Vorfahren, ebenso den Verpflichtungsgehalt verloren hat, wie der Gedanke an die noch ungeborenen Nachfahren. Gerade die modernen Formen des Humanismus zielen wenig mehr an als eine harmonisierende Verkehrsethik.

Daß nun diese Störungen im affektiven, leibnahen Bereich mit den Zeitverschiebungen zwischen den biologischen Rhythmen einerseits und dem übersteigerten Reaktionstempo andererseits zusammenhängen, dafür sehe ich einen Beweis in dem Phänomen der Langweile. Diese gehört einerseits zu den affektiven, den Stimmungserlebnissen, andererseits ist sie moralisch qualifiziert, ein Abspannungszustand. Das französische Wort »ennuy« kommt von in odium esse, im Haß leben, es beschreibt damit gut die negativistische Verstimmung der Langweile. Von dieser sind wir heutzutage ganz besonders bedroht, denn wenn wir bei dem vorhin beschriebenen Zustand des Vorauslebens einmal unbeschäftigt sind, gewinnen wir noch lange nicht die Kraft, geruhsam in der Gegenwart zu leben, sondern fühlen einen quälenden Leerlauf. Man greift dann zur Zerstreuung und zum Zeitvertreib, sofern man das nicht noch langweiliger findet, als Langweile. Das Thema ist kein geringes. Schopenhauer sagte mit Recht, sie male zuletzt wahre Verzweiflung auf die Gesichter und sei eine Kalamität, gegen die öffentlich Vorkehrungen getroffen würden. Wahrscheinlich kann man den unfrohen Gesamtanstrich der außerhalb der Arbeitshast zum Zeitvertreib verurteilten Menschheit von heute, in der selbst die jungen Mädchen einen maulenden Stil pflegen, in den Zusammenhang dieser Erscheinungen rücken. Gegen Langweile hilft jedenfalls auch nicht Bildung, die selbst langweilig wird, sondern hülfe nur Realität, nämlich Erlebnisse, die in sich Zusammenhang hätten und die man in sich ausreifen lassen und moralisch verdauen könnte.

An dieser Stelle wollen wir einhalten. Die Betrachtung würde nämlich, ihrer inneren Logik folgend, jetzt zu der Frage überleiten, ob unsere an Ausschnitten aus dem eigenen kulturellen Milieu gewonnenen Vorstellungen sich ihrerseits verallgemeinern oder gar prognostisch in die Zukunft übertragen lassen. Da wäre nun an Hannah Arendt und ihr bedeutendes Buch »Vita activa« zu erinnern. Sie sagt dort am Schluß, das Beunruhigende an den modernen Theorien, die den Menschen als einen möglichst reibungslos funktionierenden Automaten ansehen, sei nicht, daß sie nicht stimmen, sondern daß sie im Gegenteil sich als nur zu richtig erweisen könnten, so daß sie vielleicht in theoretisch verabsolutierender Form nur das beschreiben, was in der modernen Gesellschaft wirklich vorgeht. Man kann, so sagt sie etwa, schon jetzt feststellen, daß die Fähigkeit, Erfahrungen im eigentlichen, substanziellen Sinne zu machen, sich auf spezifische, künstlerische Begabungen beschränkt, was zur Folge hat, »daß die eigentlichen, weltorientierten Erfahrungen sich mehr und mehr dem Horizont der durchschnittlichen menschlichen Existenz entziehen«. Im Sinne dieser Gedanken könnte man jetzt sagen, daß weder im Zustande der Langweile noch in dem des richtigen, sei es auch hochschwellig abgestimmten »Funktionierens« etwas zustande kommt, das man festhalten kann. Zur Wirklichkeit der Dinge gehört doch etwas wie ein Ehrlichkeitsgrad in ihnen, und der ist zeitabhängig, aber tempofeindlich. Wenn man sich diese Verhältnisse weiterdenkt, dann kündigt sich eine Zweiteilung an: Man würde dann nur im engen, begrenzten (bornierten) und unmittelbaren Bereich diejenige Verdichtung und Gültigkeit der Lebensmotive herstellen können, die sich überall da verflüchtigt, wo die Superdimensionen der Technik hineinspielen, wo aber doch andererseits unsere baren Existenzmittel liegen, die vom technischen Prozeß nicht mehr ablösbar sind.

Auf der einen Seite erschiene zwar die goldhaltige Moral, aber aufgelötet auf einen neuen Provinzialismus, wie ihn die Angst und der allzu schnelle Wechsel der Umstände erzeugen muß; auf der anderen hätte man Lebendigkeit im hochgespannten Sinne, neue und endlose Räume, Venussonden – aber auch die Unmöglichkeit, noch innere Zuordnungen herzustellen. Denn ganz offenbar sind heute bereits die »Großtatsachen« moralisch nicht mehr kongruent zu machen. Was soll man etwa von der gegenwärtigen Bevölkerungswelle halten? Soll man mit Stefan George sagen: »schon eure Zahl ist Frevel«, oder sprachlos bleiben? Das soll hier aber nur in Verlängerung des Gesagten erscheinen, und ich will mit der Versicherung schließen, daß es mir in keiner Weise auf Therapie ankam. Man kann sich die Existenzbedingungen nicht aussuchen, und wer nicht im Strom schwimmt, oder gegen ihn, kommt ins Brackwasser. Und was uns heute Lebenden als kaum zumutbare Belastung erscheinen mag, könnte morgen Ausgangspunkt neuer Entwicklungen sein, denn die Substanz des Menschen selbst befindet sich in Veränderung.

 


Weitere Beiträge der Reihe Zweite Lesung.