Heft 900, Mai 2024

1949 und wir

Rück- und Ausblicke für eine verunsicherte Republik von Friedrich Kießling, Christoph Safferling

Rück- und Ausblicke für eine verunsicherte Republik

Der 75. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 wird in diesen Tagen ausgiebig gefeiert. Aus bescheidenen Anfängen in provisorischen Gebäuden entwickelte sich im Laufe der Zeit eine vitale Demokratie, die sich nicht nur in ihrer staatlich-politischen Ordnung als grundsätzlich funktionsfähig erwies, sondern nach und nach auch von ihren Bürgerinnen und Bürgern angenommen wurde. Im Mai 1949 war das so noch nicht absehbar. Im Gegenteil, selbst manche derjenigen, die persönlich die neue Ordnung mitgestaltet hatten, äußerten sich ziemlich skeptisch, ob es denn mit der Bundesrepublik etwas werden könne. Die Dinge seien so gekommen, wie sie gekommen seien, schrieb der SPD-Politiker Carlo Schmid, der im Parlamentarischen Rat selbst kräftig an der Verfassung gearbeitet hatte, nach Verabschiedung des Grundgesetzes und fügte hinzu: »Wir werden versuchen müssen, daraus zu machen, was wir können. Es wird nicht leicht sein.« Sein Kollege von der CDU Heinrich von Brentano, ebenfalls Mitglied im Parlamentarischen Rat, schrieb unter der Überschrift Schlechte Voraussetzungen – erträgliche Lösungen, dass das Grundgesetz eine gesunde Entwicklung zumindest »nicht versperrt«.

Der heutige Blick auf die Staatsgründung von 1949 und das Grundgesetz ist ein völlig anderer. Der Beginn der Bonner Republik und deren neue Verfassung werden in der öffentlichen Rede vor allem als Startpunkte der glücklichsten Phase der deutschen Geschichte betrachtet, die bis heute anhält. »Ja, wir leben im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat«, so hat es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 3. Oktober 2020 zum dreißigsten Jahrestag der Wiedervereinigung ausgedrückt. Dass sich diese Sichtweise in den Festreden der nächsten Wochen und Monate grundsätzlich ändern wird, darf als unwahrscheinlich gelten.

Doch jenseits der Jubelfeiern trifft das Erinnern auf eine mit sich selbst hadernde Republik. Allenthalben wird gefragt, wie stabil die deutsche Demokratie überhaupt noch sei. Mit bangen Blicken sehen Beobachterinnen und Beobachter auf die in diesem Jahr bevorstehenden Wahlen und die prognostizierten Erfolge der demokratiefeindlichen AfD. Die Bundesregierung versucht sich nicht nur an einem »Demokratiefördergesetz«, sie unternimmt auch Anläufe, mit einer Grundgesetzänderung die Struktur des Bundesverfassungsgerichts für die befürchtete Herausforderung durch eine erstarkte radikale Rechte wetterfest zu machen. Welche Einsichten hält das Gedenken an ihre Geburtsstunde vor fünfundsiebzig Jahren auch vor diesem Hintergrund für die Republik von heute bereit? Was kann das Erinnern zu unseren aktuellen Debatten um den Zustand der bundesdeutschen Demokratie beitragen?

Die lange deutsche Demokratiegeschichte

Eine erste Einsicht betrifft die lange Vorgeschichte der Staatsgründung von 1949. Diese ist erst in den letzten Jahren verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit, aber auch der Geschichtswissenschaft geraten. Der Erfolg der Staatsgründung von 1949 beruhte keineswegs nur auf der Abwendung vom Irrweg des Nationalsozialismus oder auf den Vorgaben der Westalliierten. Vielmehr baute er zu einem erheblichen Teil auf den vorhandenen demokratischen Ansätzen und Erfahrungen in der deutschen Geschichte auf. Das beste Beispiel ist das Grundgesetz selbst, das in vielen Bestimmungen wie ein historisch-staatsrechtlicher Kommentar auf die deutsche Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wirkt. Das gilt für die weitgehend repräsentative Ausgestaltung des Amtes des Staatsoberhaupts, die als Reaktion auf die besonderen Rechte des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik zu verstehen ist, aber auch für die durch das konstruktive Misstrauensvotum eingehegten Kontrollmöglichkeiten des Parlaments gegenüber der Regierung. Neben der Konsequenz aus den in dieser Hinsicht sehr weitgehenden Bestimmungen der Weimarer Verfassung sprach aus solchen Bestimmungen auch noch 1949 eine gewisse Skepsis gegen einen zu ausufernden Parlamentarismus, ein »latenter Antiparlamentarismus«, wie er in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert auch bei Anhängern von Parlamentarismus und Demokratie verbreitet war.

Andere Passagen des Grundgesetzes wiederum wurden mehr oder weniger wörtlich und bis in die Details aus der Weimarer Verfassung übernommen. Man vergleiche nur einmal die Bestimmungen über den Bundestag im Grundgesetz auf der einen Seite und den Reichstag in der Verfassung von 1919 auf der anderen. Das gilt auch für die Geschäftsordnung des Bundestages, bei der die Bonner Abgeordneten praktischerweise gleich den Weimarer Text übernahmen. Aber auch die Ende 1951 beschlossene erste eigene Geschäftsordnung enthielt passagenweise Bestimmungen aus dem Vorgängerparlament. Da man 1919 bereits ganz ähnlich verfahren war, fanden sich so in der Bonner Geschäftsordnung Bestimmungen, die noch auf den kaiserlichen Reichstag, ja in manchen Fällen sogar auf das preußische Abgeordnetenhaus von 1848/50 zurückgingen. In Einzelfällen gilt das bis heute. Geradezu wie eine Synthese aus der deutschen Verfassungsgeschichte seit dem Kaiserreich wirkt das für die Bonner Republik allerdings auf gesetzlichem Weg geschaffene Wahlrecht. Mit seinem durch Elemente des Mehrheitswahlrechts ergänzten Verhältniswahlrecht kombinierte es gewissermaßen die Weimarer Erfahrung mit der des bis 1918 geltenden Wahlrechts für den Reichstag.

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