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Abstiegsangst und Kreativität als letzte Ressource der Mittelklasse von Simon RoloffAbstiegsangst und Kreativität als letzte Ressource der Mittelklasse
»Yes!« Es ist Nacht, aber immer noch schwül. Ich stehe auf einem Parkplatz, dessen Ränder ich nur erahnen kann, eine hellgelbe Duvetica-Daunenjacke um die Hüfte geknotet. Ihr Besitzer steht mit nacktem Oberkörper vor mir, und ich filme ihn mit seinem iPhone. Auf dem Retina-Display ist das Flimmern der Luft über etwa zwanzig aufgeschütteten Reihen brennender Kohlen zu erkennen. Hinter uns stehen Hunderte im Dunkeln Schlange, gespannte Erwartung in den Gesichtern, leises Wippen zu den Rhythmen einer Djembe-Combo. Als hätte man die Startzone des Berlin-Marathons in das Filmset von Escape from New York verlegt. Über Lautsprecher tönt eine sonore Bassstimme: »Wir fühlen die Angst! Wir lieben das Feuer! Wir machen den ersten Schritt! Sagt ja! Sagt ja! Sagt ja zum Feuer! Wir stellen uns vor, wir laufen auf kühlem Moos!« Einige der Anstehenden skandieren: »Kühles Moos, kühles Moos, kühles Moos!« Neben mir schießt ein Pärchen auf Kunstrasen kniend Glut-Selfies.
Der Jackenbesitzer wendet sich zu mir um, zieht für die Kamera mit einer Pumpbewegung beide Fäuste auf Hüfthöhe zu sich heran und geht dann mit großen Schritten mehrere Meter barfuß über die Glut. Bei jedem Schritt stößt er ein »Yes« hervor. Helfer warten am anderen Ende mit seinen Nike-Turnschuhen und Söcklingen. Angekommen geht er ein wenig in die Knie, breitet die Arme aus und schreit laut in den Nachthimmel. Jubel in der Schlange, etwas entfernt beglückwünscht ihn ein anderer Helfer durch sein Megafon. An der Seite stehen die Feuerwehrleute des Chicago Fire Department mit unbewegten Gesichtern. Raj, so der Name des Jackenbesitzers, programmiert Animationen für Warner Brothers. Ich kenne ihn seit etwa zwei Minuten. »So lit, man!«, er läuft neben der Kohlenbahn zurück, haut mir auf die Schulter, ich boxe in seinen beeindruckend harten Bauch. Dann streift er sich ein T-Shirt über, auf dem zwischen auflodernden AC /DC-Flammen »Firewalker« steht, sagt »Bye« und geht in Richtung der fernen Lichter der Stadt davon.
Dann bin ich an der Reihe. Ein Mitarbeiter mit einem riesigen Schild in Pfeilform, das ihn als Buddy ausweist, nimmt mir die Schuhe ab. Ein anderer mit Sonnenbrille und Bandanas über Mund und Haaren bringt neue Kohlen mit einer Schubkarre. Als ich barfuß vor der glühenden Spur stehe, fadet gerade aus den Lautsprechern Like Lions in the Wild von Martin Garrix in den Rhythmus der Djembe-Band. Der Buddy kommt sehr nahe von hinten an mich heran und fragt in US-Marine-Ausbilder-Lautstärke direkt in mein Ohr, ob ich die Angst spüre, ob ich sie auch wirklich spüre. Ich schreie, sicherheitshalber auf Deutsch, zurück, dass Asche ein schlechter Temperaturleiter ist und deshalb die Wahrscheinlichkeit einer Verbrennung gering. Das habe ich vorher im Netz recherchiert. Ich sehe nach rechts und links, neben mir der gleiche Selbstüberwindungsmoment in Serie. Am Ende wartet ein Shirt auf uns, das es im Merchandising-Shop nicht zu kaufen gibt.
Zwölf Stunden zuvor hätte ich eine Daunenjacke bitter nötig gehabt – Europäer in den USA erkennt man im Sommer ja meist an ihrer leichten Bekleidung in Innenräumen. Ich sitze also etwas zittrig unter dem Dach des United Center Chicago, der Videowürfel an der Hallendecke blendet sonst die Zeitlupen der Bulls und Hawks ein, heute explodiert hier im Minutentakt das Motto des Wochenendes: »Unleash the power within«. Dazwischen liefert eine Kameradrohne an einem ferngesteuerten Fesselballon Bilder aus der Halle. Auf dem Spielfeld wurde Teppichboden ausgelegt, darauf sind Stuhlreihen gestellt. Menschen nehmen ihre Plätze ein, oder sie stehen und tanzen zu einer krachledernen frat-party-Playlist des vielleicht irgendwo im Bühnenraum verborgenen DJ. Es müssen etwa Dreißigtausend sein, so viele Zuschauer fasst die Halle, und sie ist nahezu voll besetzt. Warten auf Tony.