Heft 861, Februar 2021

Als der Homo oeconomicus kurz verschwand

Oder: Braucht Demokratie unseren Glauben? von Maud Meyzaud

Oder: Braucht Demokratie unseren Glauben?

Als nach zweihundertfünfzig Jahren Bestand die Schule sich im späten Winter 2020 vorübergehend verabschiedete und der Homo oeconomicus eine Weile von der politischen Agenda verschwand, als die Zeit eingefroren und die Welt auf Zeit unbewohnbar wurde, feierten wir jeden Abend im Familienkreis.

Wir zelebrierten dreißig Jahre Neoliberalismus. Wir wollten nichts davon wissen, dass Geister nicht sterben können, und beerdigten diesen, den neoliberalen Geist, in dessen Schatten wir, die Eltern, die Älteren, zunächst aufgewachsen, dann aber auch älter geworden waren, in Würde. Wir stellten jeden Abend das kleine Musikgerät auf den Esstisch und suchten auf dem Tablet nach den Spuren dieses nun vergangenen Lebens, in dem die Bewerbung um einen Job in der Gastronomie oder im Kulturbereich unser Glaubensbekenntnis, das Vorstellungsgespräch unser Erscheinen vor dem Jüngsten Gericht gewesen waren. Wir suchten nach etwas, das diese Jahre, in denen jede und jeder von uns im akuten Bewusstsein davon gelebt hatte, aus systemischen Gründen ersetzbar zu sein, für uns dennoch unverwechselbar gemacht hatte. Ein kalifornischer Konzern bot seine Dienste an, und wir begannen mit unserer idiosynkratischen Sammlung von Songs und Videoclips. Nach unserer Zeitrechnung hatte alles in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts angefangen; irgendwo in den zehner Jahren des 21. Jahrhunderts blieben wir hängen.

Wir blieben Abend für Abend in Our House /Auerhaus, fühlten uns in das Fernweh von Desireless ein, schauten mit den verkrampften oder enthemmten Erwachsenen von damals auf die wunderschönen straffen Hintern von jungen sonnengebräunten brasilianischen Frauen im Videoclip des Welthits Lambada und belebten mit Michael Jackson die Reanimationspuppe Amy. Wir schwiegen bei den Oboenklängen von Twist in My Sobriety, wir brüllten mit Zack de la Rocha »Fuck you, I won’t do what you tell me« und tanzten den Pogo mit seinem Publikum, denn zu Recht hatte ein User kurz vor dem Ausbruch der Pandemie zur offiziellen Videoaufnahme von Killing in the Name geschrieben: »This guy is really upset about the system.« Wir hörten Les tam-tam de l‘Afrique aus dem Planet Marseille und sangen Ready or Not Here I Come in der Version der Fugees, in der nicht Liebe beschworen wird, sondern Ozeane überquert werden. Wir bereiteten uns mit RZA auf den Showdown von Ghost Dog vor, grüßten den als Bin Laden verkleideten Eminem und gaben uns selbstvergessen mit Belle & Sebastian der Lust an einem vollkommen analogen, einem sozusagen retro-sonnigen Tag hin, denn auch die nuller Jahre hatten den Kapitalismus als alternativlose Lebensform zu befestigen versucht. Schließlich fanden wir mit Friedrich Liechtenstein alles supergeil. Nun war es so weit, endlich hatte PeterLicht Recht: Es war jetzt mit dem Kapitalismus vorbei. Jedenfalls jeden Abend nach dem Essen und zwar für eine Dreiviertelstunde, bevor die Kinder viel zu spät ins Bett gingen. (Aber wie sollte man in diesem anbrechenden, noch unbekannten Leben ohne Schule herausfinden, was zu spät ist und was zur rechten Zeit stattfindet?)

Während Regierungen und Handyvertragsanbieter von mir und meinen Leuten verlangten, dass wir »zu Hause bleiben«, las ich in einem Buch, das von einem, unserem je eigenen, unersetzbaren, endlichen Leben erzählte, von »this life«, diesem Leben, das jedem auf Erden gegeben sei und dessen Endlichkeit grundsätzlich bedinge, was wertvoll sei. Nicht zufällig beginnt This Life – Secular Faith and Spiritual Freedom mit der Erfahrung der Trauer, mit dem Verlust eines, »Deines« unersetzlichen Lebens. Die Krise, die der christliche Schriftsteller C. S. Lewis durch den Tod seiner Frau durchlebt, greift für Martin Hägglund »tiefer als eine Glaubenskrise«, weil der Glaube an Gott sich im Angesicht des Verlusts eines »geteilten, endlichen Lebens« als schlichtweg unbrauchbar erweist. Gleich zu Beginn dieses Buchs tritt der Tod ein. Es ist aber nicht mein Tod, dessen Gewissheit sich mir beim Anblick der Bildschleifen von Leichenwagen in Norditalien aufdrängt und mir Angst einjagt, sondern »dein Tod« als das fundamentale Problem eines säkularen Zeitalters.

This Life war bereits ein Jahr alt geworden, als der Deutsche Ethikrat kurz nach der Erfindung des weltweiten social distancing das »allgemeine Lebensrisiko« in Erinnerung rufen musste. Es passte auch in diese Zeit, dass Hägglunds Buch mir hartnäckig zeigen wollte, warum Kapitalismus und Gemeinwohl schlichtweg inkompatibel seien und warum er stattdessen für einen »democratic socialism« plädierte, wie Martin Luther King ihn kurz vor seiner Ermordung eingefordert hatte. Denn jetzt, da die Erde Rache an den Menschen nahm und da spürbar wurde, dass diese, ihre Rache, noch an ihrem Anfang stand, entschied die deutsche Regierung und befand manch ein Politiker, der in Talkshows saß: Der Mensch braucht eine neue Frisur. Dem Menschen muss das Basteln in Haus und Garten erlaubt sein. Der Mensch darf weiterhin SUV fahren (das kommt aber nicht mehr bei allen gut an und wird also nur über Umwege gefördert). Der Mensch braucht keine Bildung (jedenfalls kostet uns die Schließung der Schulen nichts). Der Mensch braucht keine Kunst und auch keine Kultur (jedenfalls ist sie »am ehesten verzichtbar«).

Säkulare Lebensformen und Affektkulturen

This Life gibt sich als passioniertes Plädoyer für ein ausgelebtes, bejahtes, säkulares Bewusstsein aus, das beide Ebenen des Selbstverständnisses des Einzelnen und des Miteinanders im politischen System verbinde. Durch die radikale Affirmierung des Säkularen gibt es aber auch Einblicke in die Schwierigkeiten, die allein die theoretische Bestimmung einer säkularen Kultur nach sich zieht.

Das Problem beginnt bei der Begrifflichkeit, die man wählt, und damit bei den Ebenen, auf die man sich bezieht. Wie entkommt man dem ubiquitären sozialwissenschaftlichen Diskurs über die Säkularisierung, den Säkularismus und die Rückkehr der Religion? Kann man dem Narrativ der Entzauberung ausweichen? Wie verlässt man die Ebene von Verfassungsartikeln, staatlichen Mechanismen und juristischen Verfahren, welche die Koexistenz religiöser Gemeinschaften sichern? Vielleicht, indem man, heuristischer, von einer säkularen Kultur spricht? Und wenn, im Singular oder vielmehr im Plural? Ist es überhaupt möglich, sich der religiösen Referenz zu entledigen und säkulare Lebensformen, säkulare Modi des Zusammenlebens in den Blick zu nehmen, die für sich stehen? Lassen sich Möglichkeiten des Handelns, des Fühlens und der gesellschaftlichen Einbildungskraft eröffnen, deren Tragweite sich in unserer Gegenwart auch jenseits des oder ohne den fortlaufenden Rückbezug auf das Heilige, auf das Theologische, auf das Christentum und auf die Monotheismen erkennen lässt?